OGH 4Ob77/25i

OGH4Ob77/25i24.6.2025

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schwarzenbacher als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und Hofräte Mag. Istjan, LL.M., Mag. Waldstätten, Dr. Stiefsohn und Mag. Böhm in der Pflegschaftssache der minderjährigen *, geboren * 2015, *, wegen Obsorge, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der mütterlichen Großmutter *, vertreten durch Mag. Lukas Lohberger, LLB. Oec, Rechtsanwalt in Salzburg, als Verfahrenshelfer, gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Rekursgericht vom 25. März 2025, GZ 21 R 499/24i‑82, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Salzburg vom 20. November 2024, GZ 42 Ps 97/15i‑72, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0040OB00077.25I.0624.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben und dem Rekursgericht die neuerliche Entscheidung über den Rekurs des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers aufgetragen.

 

Begründung:

[1] Die nunmehr zehnjährige Minderjährige ist die Enkeltochter der Rechtsmittelwerberin, der seit dem Jahr 2018 die alleinige Obsorge zukam. Die Übertragung erfolgte im Einvernehmen mit ihrer Tochter, der Mutter der Minderjährigen, die zwar eine Beziehung zu beiden pflegt, aufgrund psychischer Beeinträchtigungen aber unstrittig weder fähig noch willens ist, die Obsorge auszuüben. Zum Vater bestand nie Kontakt, eine Obsorgeübertragung auf ihn kommt nicht in Betracht.

[2] Mit 21. 11. 2023 verfügte der Kinder‑ und Jugendhilfeträger aufgrund Gefahr im Verzug gemäß § 211 Abs 1 ABGB die Unterbringung der Minderjährigen in einer betreuten Wohngemeinschaft und beantragte in der Folge, der Großmutter die Obsorge zu entziehen und sie im vollen Umfang auf ihn zu übertragen.

[3] Das Erstgericht erklärte die Maßnahme iSd § 107a AußStrG mit der wesentlichen Begründung für vorläufig zulässig, dass der Verdacht des sexuellen Missbrauchs durch den damaligen Lebensgefährten der Großmutter bestehe, und diese mangels Einsicht weder entsprechend an der Aufarbeitung mitwirke, noch die Minderjährige ausreichend vor allfälligen weiteren Übergriffen schütze.

[4] Während der Kinder‑ und Jugendhilfeträger einen sexuellen Missbrauch als erwiesen und eine Kindeswohlgefährdung bei einer Rückkehr in den großmütterlichen Haushalt überdies wegen fehlender Erziehungskompetenzen als gegeben ansah und die Übertragung der Obsorge weiterverfolgte, sprach sich die Großmutter dagegen aus. Sie bestritt im Verfahren sämtliche Vorwürfe und verwies darauf, dass kein Kontakt zum Lebensgefährten mehr bestehe, sie und die Minderjährige ein gutes Verhältnis hätten, und sie sich auch um eine kindgerechte Umgebung, ua ein eigenes Kinderzimmer, und eine entsprechende Erziehung und Versorgung kümmere.

[5] Mit dem nunmehr gegenständlichen Beschluss aus November 2024 wies das Erstgericht den Antrag des Kinder- und Jugendhilfeträgers auf Übertragung der Obsorge ab und trug der Großmutter auf,

a) weiterhin bis zumindest September 2025 wöchentlich Elternberatung in Anspruch zu nehmen;

b) bei einer von der Kinder‑ und Jugendhilfe anstelle der Elternbegleitfachkraft zu installierenden aufsuchenden Maßnahme (zB SPF – Sozialpädagogische Familienbegleitung) aktiv und umfassend mitzuwirken;

c) die schulische Versorgung samt Nachmittagsbetreuung und eine psychotherapeutische oder klinisch‑psychologische therapeutische Begleitung (zB durch das Kinderschutzzentrum) der Minderjährigen zu gewährleisten und die Fehlzeiten auf ein absolutes Minimum zu beschränken; und

d) die Minderjährige regelmäßigen Entwicklungskontrollen im Rahmen einer jährlichen Diagnostik zu unterziehen.

[6] Weiters trug das Erstgericht der Kinder‑ und Jugendhilfe auf (Spruchpunkt 3.), die Aufträge an die Großmutter aktiv zu überwachen und Verstöße der Großmutter dem Gericht mitzuteilen oder im eigenen Wirkungsbereich notwendige Maßnahmen zu ergreifen.

[7] Das Erstgericht konnte nach Durchführung des Beweisverfahrens nicht feststellen, dass der (vormalige) Lebensgefährte der Großmutter die Minderjährige sexuell missbraucht hätte oder eine derartige (oder sonstige) Gefahr von ihm ausginge, und traf auch Negativfeststellungen zu Kontakten. Ein Strafverfahren gegen ihn war ebenfalls eingestellt worden. Nach den (wesentlichen) weiteren Feststellungen wies die Minderjährige große Defizite etwa bei der Hygiene, der Konzentrationsfähigkeit und in schulischen Belangen auf, machte in der Wohngemeinschaft jedoch schnell Fortschritte. Es zeigten sich bei ihr keine Hinweise auf eine trauma‑ oder belastungsbezogene Störung, auch nicht auf Misshandlung, wohl aber deutliche Hinweise auf Probleme im Bereich emotionale und körperliche Verwahrlosung und Bindungserfahrungen. Zwischen der Minderjährigen und der Großmutter bestünde aber eine sehr gute Beziehung. Das Erstgericht attestierte der Großmutter auch eine Erziehungsfähigkeit, die zwar massiv eingeschränkt sei, was aber mit einem umfassenden Maßnahmenkonzept ausgeglichen werden könne. Bei einer Rückführung könne das Kindeswohl unter Einhaltung der angeordneten Maßnahmen gewahrt werden, und eine künftige Kooperation sei mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten.

[8] Das Rekursgericht gab einem Rekurs des Kinder- und Jugendhilfeträgers statt und übertrug die Obsorge zur Gänze auf diesen.

[9] Eine ausreichend qualifizierte Verdachtslage, die der Rückführung des Kindes entgegenstehe, liege schon in den von der Minderjährigen geäußerten Ängsten vor einem neuerlichen Zusammentreffen mit dem und Missbrauch durch den (vormaligen) Lebensgefährten der Großmutter sowie aus dem Akt ersichtlichen körperlichen und seelischen Beschwerden. Entgegen den Beteuerungen der Großmutter habe ein Kontakt bestanden. Eine Obsorgeübertragung an den Kinder‑ und Jugendhilfeträger sei aber auch deshalb geboten, weil die Minderjährige deutliche Hinweise auf eine emotionale und körperliche Verwahrlosung aufgewiesen habe und in der Wohngemeinschaft große Fortschritte mache. Angesichts der Uneinsichtigkeit der Großmutter, wie sie zuletzt bei der Vorladung im Februar 2025 zutage getreten sei, bestünde die Gefahr, dass die Verbesserungen wieder zunichte gemacht würden, und auch erheblicher Zweifel, dass die vom Erstgericht erteilten Aufträge ausreichend seien. Zudem seien die Wohnverhältnisse unklar und ungeregelt, weil nach den Erhebungsergebnissen regelmäßig weitere Familienmitglieder in der Zwei‑Zimmer‑Wohnung nächtigen würden, und die Minderjährige sowohl Zigarettenrauch, als auch Konflikten ausgesetzt sei. Eine kontinuierlich aufsuchende therapeutische Begleitung sei angebracht, bei einer Rückführung aber nicht möglich. Insgesamt seien die Argumente des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers zu teilen und diesem die Obsorge zuzuweisen.

[10] Den ordentlichen Revisionsrekurs erklärte das Rekursgericht mangels erheblicher Rechtsfragen iSd § 62 Abs 1 AußStrG für nicht zulässig.

[11] Mit ihrem außerordentlichen Revisionsrekurs beantragt die Großmutter, den erstgerichtlichen Beschluss zur Gänze wiederherzustellen.

[12] Eine Revisionsrekursbeantwortung wurde freigestellt, aber nicht erstattet.

Rechtliche Beurteilung

[13] Der Revisionsrekurs ist zulässig und im Sinne einer (teilweisen) Aufhebung und Rückverweisung an das Rekursgericht auch berechtigt.

[14] 1. Nach § 181 Abs 1 ABGB hat das Gericht die zur Sicherung des Kindeswohls nötigen Verfügungen zu treffen, sofern die Obsorgeberechtigten durch ihr Verhalten das Wohl eines minderjährigen Kindes gefährden. Eine Gefährdung des Kindeswohls ist dann gegeben, wenn die Obsorgeberechtigten ihre Pflichten objektiv nicht erfüllen oder diese subjektiv gröblich vernachlässigen und durch ihr Verhalten schutzwürdige Interessen des Kindes wie die physische oder psychische Gesundheit, die altersgemäße Entwicklung und Entfaltungsmöglichkeit oder die soziale Integration oder die wirtschaftliche Sphäre des Kindes konkret gefährden (RS0048633 [insb T22]). Oberstes Prinzip bei Obsorgerechtsentscheidungen ist die Wahrung des Kindeswohls, wobei es sich um eine zukunftsbezogene Rechtsgestaltung handelt, die auf einer aktuellen und umfassenden Sachverhaltsgrundlage beruhen muss (vgl RS0048632 [T4, T15]; 7 Ob 36/23d).

[15] Eine Verfügung, mit der die Obsorge entzogen wird, kommt nur als ultima ratio in Betracht. Zuvor hat das Gericht alle anderen Möglichkeiten zu prüfen, die dem Kindeswohl gerecht werden können und eine Belassung des Kindes in der Familie ermöglichen (RS0132193). Als gelindere Mittel gegenüber der Obsorgeentziehung ermöglicht § 181 Abs 1 ABGB andere Anordnungen, wie Aufträge oder Auflagen an den Obsorgeberechtigten. Reichen solche unterstützenden oder sichernden Maßnahmen nicht aus, so können bei einer Kindeswohlgefährdung als Beschränkung der Obsorge auch nur einzelne Rechte, etwa die in § 181 Abs 1 ABGB genannten gesetzlich vorgesehenen Einwilligungs- und Zustimmungsrechte, entzogen werden (vgl 5 Ob 145/24w; RS0127236). Bei der Anordnung von Maßnahmen iSd § 181 Abs 1 ABGB ist daher der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Familienautonomie zu berücksichtigen. Durch eine solche Verfügung darf das Gericht die Obsorge nur insoweit beschränken, als dies zur Sicherung des Wohls des Kindes erforderlich ist (7 Ob 144/24p mwN).

[16] Die Bestimmung des § 204 ABGB bringt zudem klar zum Ausdruck, dass die Obsorge primär durch Eltern, Großeltern oder Pflegeeltern zu erfolgen hat. Mit diesem Vorrang wird auch dem Recht nach Art 8 EMRK auf Schutz des Privat- und Familienlebens Rechnung getragen. Nach der Rechtsprechung ist kein Günstigkeitsvergleich vorzunehmen, sodass es für sich allein keinen Eingriff in die elterliche Obsorge rechtfertigt, wenn ein Kind in sozialen Einrichtungen oder bei Dritten besser versorgt, betreut oder erzogen würde. Selbst dann, wenn bereits die Obsorge wegen Gefährdung des Kindeswohls entzogen werden musste, hat die Aufhebung einer Obsorgeübertragung an einen Dritten zu erfolgen, wenn gewährleistet ist, dass keine Gefahr mehr für das Wohl des Kindes besteht. Dabei stehen nur solche zu erwartenden Beeinträchtigungen einer Rückführung des Kindes entgegen, die als nicht bloß vorübergehende Umstellungsschwierigkeiten zu werten sind, sondern eine konkrete, ernste Gefahr für die Entwicklung des Kindes bedeuten würden. Die Maßnahme der Übertragung an den Kinder- und Jugendhilfeträger darf wegen des damit regelmäßig verbundenen Eingriffs in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach ständiger Rechtsprechung nur angeordnet werden, wenn sie im Interesse des Kindes dringend geboten und soweit sie zur Abwendung einer drohenden Gefährdung des Kindeswohls notwendig ist, wobei grundsätzlich ein strenger Maßstab angelegt werden muss; sie muss das letzte Mittel sein (vgl 1 Ob 99/16i, 8 Ob 88/21f; RS0048704, RS0009673, RS0048712).

[17] 2. Der Revisionsrekurs der Großmutter zeigt zutreffend auf, dass die Begründung des Rekursgerichts von diesen Rechtsprechungsgrundsätzen zur Obsorgeübertragung an den Kinder‑ und Jugendhilfeträger abweicht, insbesondere indem ein „Günstigkeitsvergleich“ durchgeführt wird.

[18] Eine inhaltliche Beurteilung der Obsorgefrage durch den Obersten Gerichtshof ist derzeit jedoch nicht möglich, weil sich aus der Rekursentscheidung nicht zweifelsfrei ableiten lässt, von welcher Sachverhaltsgrundlage auszugehen ist. Aus der Begründung, die im Aufbau nicht zwischen Beweis- und Rechtsrüge unterscheidet, bleibt unklar, aus welchen Gründen welche erstinstanzlichen Feststellungen übernommen und ob und welche Ersatzfeststellungen aufgrund der zahlreichen Beweisrügen im Rekurs des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers vom Rekursgericht getroffen wurden. Dies gilt insbesondere im Zusammenhang mit dem behaupteten sexuellen Missbrauch, dem weiteren Kontakt zum (vormaligen) Lebensgefährten der Großmutter und deren Eignung, die Minderjährige vor (allfälligen) derartigen Übergriffen zu schützen und bei der Aufarbeitung dieses Themas zu unterstützen. Die Ausführung, dass der Verdacht vom „Kinderschutzzentrum“ umfassend begründet wurde, lässt nicht erkennen, welche Gefährdungsmomente das Rekursgericht tatsächlich als gegeben ansieht.

[19] Soweit das Rekursgericht damit argumentiert, dass schon die von der Minderjährigen geäußerten und festgestellten Ängste eine „ausreichend qualifizierte Verdachtslage“ begründen würden, die einer Rückführung entgegenstehe, ist ihm entgegenzuhalten, dass das Erstgericht insoweit von einem ambivalenten Verhalten ausging und die Feststellung damit abschloss, dass die Minderjährige letztlich wieder keine konkreten Vorwürfe äußerte. Weiters verneinte es eine Kindeswohlgefährdung durch die Großmutter und deren (vormaligen) Lebensgefährten, wofür es auch auf die Befragung der Minderjährigen durch die Sachverständige und deren gutachterliche Einschätzung verwies. Ob, inwieweit und warum das Rekursgericht davon abgehen wollte, erschließt sich aus dessen Entscheidung nicht zweifelsfrei.

[20] Überdies wurden vom Rekursgericht nova producta zum Teil berücksichtigt (und deswegen die vom Erstgericht angenommene Kooperationsbereitschaft der Großmutter und eine kindgerechte Wohnsituation verneint), zum Teil jedoch nicht (wie ein Brief der Minderjährigen an das Erstgericht, in dem es den Wunsch äußerte, nach Hause zurückzukehren), ohne dass es dafür eine Begründung gibt.

[21] Der Revisionsrekurs zeigt zutreffend auf, dass die Rekursentscheidung damit an wesentlichen Mängeln iSd § 66 Abs 1 Z 2 AußStrG leidet, die eine Rückverweisung zur neuerlichen Entscheidung über die Beweisrügen und die Obsorgefrage an die zweite Instanz erfordert.

[22] 3. Beizupflichten ist dem Rekursgericht jedenfalls darin, dass § 181 Abs 1 ABGB und § 107 Abs 3 AußStrG keine Grundlage für die explizite Anordnung des Erstgerichts an einen nicht obsorgeberechtigten Kinder‑ und Jugendhilfeträger bieten, er habe die Ausübung der Obsorge durch eine andere Person proaktiv zu überwachen (vgl RS0122183, 9 Ob 53/13d; zu möglichen Aufträgen an den Obsorgeberechtigten, Kontrollen und Nachfragen durch den Kinder‑ und Jugendhilfeträger zuzulassen, s etwa 8 Ob 116/09f, 4 Ob 201/19s).

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