European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0070OB00157.24Z.0521.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Versicherungsvertragsrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache wird zur neuerliche Verhandlung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
[1] Der Kläger ist selbständiger Rechtsanwalt in Wien. Er schloss bei der Beklagten einen Vermögensschadens‑Haftpflichtversicherungsvertrag ab. Diesem Versicherungsvertrag liegen die Allgemeinen Versicherungsbedingungen zur Haftpflichtversicherung für Vermögensschäden (AVBV) Fassung 1999 zugrunde. Diese lauten auszugsweise:
„ Artikel 4
Ausschlüsse
I. Der Versicherungsschutz bezieht sich nicht auf Haftpflichtansprüche:
(...)
3. wegen Schadenstiftung durch wissentliches Abweichen von Gesetz, Vorschrift, Anweisung oder Bedingung des Machtgebers (Berechtigten) oder durch sonstige wissentliche Pflichtverletzung.“
[2] Der Kläger führte als Klagevertreter eine Vielzahl an gerichtlichen Verfahren von Anlegern gegen die L* AG sowie die m* GmbH. Von 28. 1. 2022 bis 22. 2. 2022 befand er sich im Ausland. Für den genannten Zeitraum waren 32 Verhandlungstermine angesetzt, unter anderem am 3. 2. 2022 vor dem Landesgericht Graz in der Sache seines Mandanten D* H* gegen die m* GmbH, am 8. 2. 2022 vor dem Landesgericht Linz in der Sache seines Mandanten D* B* gegen die L* AG, am 9. 2. 2022 vor dem Landesgericht Graz in der Sache seines Mandanten D* L* gegen die m* GmbH und am 10. 2. 2022 vor dem Landesgericht Feldkirch in der Sache seines Mandanten G* F* gegen die L* AG. Die Tagsatzungen blieben letztlich unbesucht, weshalb abweisende (Versäumungs‑)Urteile zu Lasten derMandantenergingen.
[3] Der Kläger begehrt, „1. die Feststellung, dass die Beklagte aufgrund und im Umfang des zwischen den Parteien abgeschlossenen Vermögensschaden‑Haftpflichtversicherungsvertrags für den Schadensfall vom 8. 2. 2022 (D* B*) Versicherungsschutz in dem Ausmaß, in dem dies nicht bereits im Leistungsbegehren Deckung findet, zu gewähren hat“ und „2. die Beklagte schuldig zu erkennen, dem Kläger 58.836,05 EUR samt 4 % Zinsen aus 20.088,50 EUR seit 3. 6. 2022 (Schadensfall vom 10. 2. 2022 G* F*), aus 17.976,36 EUR seit 11. 3. 2022 (Schadensfall vom 3. 2. 2022 D* H*), aus 20.771,19 EUR seit 11. 3. 2022 (Schadensfall vom 9. 2. 2022 D* L*) und 150.931,57 EUR samt 4 % Zinsen aus 4.670 EUR seit 20. 9. 2021, aus 4.062,10 EUR seit 2. 3. 2022, aus 50.000 EUR seit 16. 3. 2022, aus 6.867 EUR seit 31. 3. 2022, aus 2.916,35 EUR seit 31. 5. 2022, aus 9.165 EUR seit 4. 7. 2022 und aus 73.260,12 EUR seit 16. 3. 2022 (Schadensfall vom 8. 2. 2022 D* B*) zu zahlen.“ Er habe über 1.000 Prozesse von geschädigten Anlegern gegen die L* AG und die m* GmbH geführt. Die Verhandlungen bei Gerichten außerhalb Wiens habe er jeweils durch andere Rechtsanwälte als Substituten verrichten lassen, die er stets erst relativ kurzfristig vor den jeweiligen Verhandlungsterminen beauftragt habe, um unnötige Aufwendungen zu vermeiden, weil es ab März 2020 aufgrund der Coronakrise immer wieder zu sehr kurzfristigen Vertagungen der Verhandlungen gekommen sei.
[4] Er habe sich in der Zeit vom 28. 1. 2022 bis zum 22. 2. 2022 mit der notwendigen Kanzleisausstattung im Ausland befunden, von wo aus er seine Kanzleiarbeit verrichtet habe. Die Beauftragung von Substituten wäre demnach ortsunabhängig möglich gewesen. Anfang Februar 2022 habe er sich eine schwere Lebensmittelvergiftung zugezogen, aufgrund der er bis 10. 2. 2022 völlig handlungsunfähig gewesen sei. Es sei ihm daher nicht möglich gewesen, den Laptop zu benützen oder Telefonate zu führen, um – wie geplant – kurzfristig Substitute für die Verhandlungen am 3. 2. 2022, 8. 2. 2022, 9. 2. 2022 und 10. 2. 2022 zu bestellen, weshalb abweisende (Versäumungs‑)Urteile zu Lasten seiner Mandanten ergangen seien. Wäre er nicht aufgrund der unvorhergesehenen und unabwendbaren schweren Erkrankung daran gehindert worden, Substituten zu stellen, wären in sämtlichen Verfahren klagsstattgebende Urteile gefällt worden. Insgesamt betrage der bereits feststehende Schaden 209.767,63 EUR sA. Die Höhe des Schadens aus dem Schadensfall vom 8. 2. 2022 D* B* stehe noch nicht zur Gänze fest, da das Revisionsverfahren noch nicht abgeschlossen sei, weshalb der Kläger insoweit ein rechtliches Interesse an der Feststellung der Deckungspflicht habe. Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Tagsatzungen habe er nicht gestellt, weil diese wegen der äußerst restriktiven Judikatur hinsichtlich des erforderlichen minderen Grades des Versehens keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätten. Dem Kläger könne bezüglich der Nichteinholung einer Weisung bei der Beklagten höchstens ein leichtes Verschulden zur Last gelegt werden. Auch wenn Wiedereinsetzungsanträge weisungsgemäß gestellt worden wären, wären diese mit hoher Wahrscheinlichkeit abgewiesen worden und der Schaden zumindest im selben Ausmaß eingetreten.
[5] Die Beklagte bestreitet das Klagebegehren. Aufgrund des gesetzlichen Risikoausschlusses der vorsätzlichen Herbeiführung eines Versicherungsfalls und des vertraglich vereinbarten Risikoausschlusses der wissentlichen Pflichtverletzung sei die Beklagte leistungsfrei. Der Kläger habe sich im Wissen um eine große Anzahl an Prozessen während seiner Abwesenheit im Vorfeld weder rechtzeitig um eine ordnungsgemäße Prozessvertretung gekümmert, noch habe er im Nachhinein Maßnahmen zur Beseitigung der ihm bekannten Säumnisfolgen ergriffen. Falls die rechtzeitige Veranlassung der Substitutionen an der krankheitsbedingten Dispositionsunfähigkeit des Klägers gescheitert sei, sei unverständlich, weshalb er nicht den Versuch unternommen habe, die Säumnisfolgen durch Wiedereinsetzungsanträge zu beseitigen. Es wäre ihm möglich gewesen, nach seiner Genesung vom Ausland aus derartige Anträge zu stellen oder zwischenzeitig seine Substitute damit zu beauftragen. Er habe durch die Nichteinbringung dieser Anträge seine Rettungsobliegenheit nach § 62 VersVG zumindest grob schuldhaft verletzt. Ihn habe zudem die Obliegenheit getroffen, aktiv Weisungen des Versicherers einzuholen, auch dieser Verpflichtung sei er grob fahrlässig nicht nachgekommen.
[6] Das Erstgericht führte kein Beweisverfahren durch und wies das Klagebegehren ausschließlich ausgehend vom Klagsvorbringen ab. Leistungsfreiheit nach den vereinbarten AVBV 1999 bestehe, weil der Kläger verpflichtet gewesen wäre, vor Antritt seiner Fernreise für eine ordnungsgemäße Vertretung seiner Klienten an den bereits bekannten Verhandlungsterminen zu sorgen. Das Antreten eines längeren Auslandsaufenthalts ohne entsprechende Bestellung von Substituten bzw ohne anderweitige Sicherstellung einer Organisation vor Ort stelle eine wissentliche Verletzung anwaltlicher Pflichten dar. Weiters hätte der Kläger aber jedenfalls im Nachhinein Maßnahmen zur Beseitigung der Säumnisfolgen treffen müssen und damit auch gegen die Rettungsverpflichtung nach § 62 VersVG grob schuldhaft verstoßen. Da der Kläger nach seinem eigenen Vorbringen plötzlich völlig handlungsunfähig gewesen sei, wäre die Erhebung der Anträge ex ante betrachtet, nicht zweck‑ oder sinnlos und geeignet gewesen, den Schaden abzuwenden oder zu mindern. Jedenfalls wäre eindeutig eine Weisung des Versicherers einzuholen gewesen, zumal die Streitwerte durchaus die Kosten eines Wiedereinsetzungsverfahrens weit überstiegen hätten und daher mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Weisung auf Antragstellung erfolgt wäre.
[7] Das Berufungsgericht verwarf die Berufung wegen Nichtigkeit und gab ihr im Übrigen keine Folge. Zwar stelle das Antreten eines längeren Auslandsaufenthalts ohne Organisation von Substituten für sich betrachtet keine wissentliche Verletzung anwaltlicher Pflichten dar, allerdings liege eine solche darin, dass der Kläger keine Maßnahmen gesetzt habe, um die Säumnis zu beheben. Die Kenntnis, dass im Fall einer Säumnis wegen einer schweren Erkrankung des Parteienvertreters ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand der geeignete Rechtsbehelf sei, könne als zivilprozessuales Basiswissen bei jedem Rechtsanwalt vorausgesetzt werden. Dieser Antrag wäre hypothetisch bei richtiger rechtlicher Würdigung auch zu bewilligen gewesen. Dass der Kläger keine Wiedereinsetzungsanträge gestellt habe, weil er diese aufgrund der restriktiven Rechtsprechung zum Verschulden für aussichtslos hielt, ändere nichts daran, dass er bewusst – also wissentlich – gehandelt und bei der gebotenen objektiven ex‑ante‑Betrachtung die Erhebung eines geeigneten Rechtsbehelfs unterlassen habe. Da der Kläger nach seinem Vorbringen seinen Mandanten den durch die Säumnis entstehenden Schaden (teilweise) ersetzt habe, gehe er offenbar selbst von einer ihn treffenden Haftung und damit implizit von einer unvertretbaren Rechtsansicht aus, selbst wenn man aufgrund der Einzelfallbezogenheit der Spruchpraxis zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand eine Haftung des Anwalts nur für eine unvertretene Rechtsansicht annehmen möchte.
[8] Gegen dieses Urteil wendet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag auf Abänderung dahin, dass dem Klagebegehren stattgegeben werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt
[9] Die Beklagte begehrt, die Revision zurückzuweisen; hilfsweise ihr keine Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[10] Die Revision ist aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig, sie ist auch berechtigt.
[11] 1.1. Nach Art 4.1.3. AVBV bezieht sich der Versicherungsschutz nicht auf Haftpflichtansprüche wegen Schadenersatzforderungen durch wissentliches Abweichen von Gesetz, Vorschriften, Anweisung oder Bedingungen des Machtgebers (Berechtigten) oder durch sonstige wissentliche Pflichtverletzung.
[12] 1.1.1. Für den Verstoß genügt es, dass der Versicherungsnehmer seine Pflichtverletzung(en) positiv gekannt hat und der Pflichtverstoß für den Schaden ursächlich war, wofür bedingter Vorsatz genügt (RS0081984 [auch T1]). Das Wort „wissentlich“ erstreckt sich nur auf das Abweichen und muss nicht auch die Schadensfolgen umfassen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass der Versicherungsnehmer die Verbotsvorschrift in ihrem genauen Wortlaut oder ihrem genauen Umfang kannte, wesentlich ist allein das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit der Handlungsweise (7 Ob 161/19f, 7 Ob 148/20w je mwN).
[13] 1.1.2. Voraussetzung für den Risikoausschluss ist das Pflichtbewusstsein (Wusste der Versicherungsnehmer, welche Pflicht ihn traf bzw wie er sich zu verhalten hätte?) und das Pflichtverletzungsbewusstsein (Wusste der Versicherte, dass er die Pflicht verletzt?) (vgl Diller, Berufshaftpflichtversicherung für Rechtsanwälte3 § 4 Rn 47; Gräfe/Brügge/Melchers, Berufshaftpflichtversicherung für rechts‑ und steuerberatende Berufe3 E Rn 211). Das heißt, zum bloßen Pflichtbewusstsein muss ein Pflichtverletzungsbewusstsein, also das Wissen des Versicherten hinzukommen, dass sein Verhalten nicht geeignet ist, die zutreffend erkannte Pflicht zu erfüllen (vgl Lange, D&O‑Versicherung und Managerhaftung2 § 11 Rn 108; Gräfe/Brügge/Melchers aaO Rn 219).
[14] 1.1.3. Fahrlässige Unkenntnis von einer Pflicht oder bloßes Für‑möglich‑Halten einer Pflicht reicht für den „wissentlichen“ Pflichtverletzungsvorsatz nicht aus (Wilhelmer, Berufshaftpflichtversicherung [2022] Rz 3362; Ramharter, Der Pflichtwidrigkeitsausschluss in der D&O‑Versicherung, ZFR 218/186 [392]; Michtner, Bewusstes Zuwiderhandeln gegen behördliche Vorschriften und wissentliche Pflichtverletzung – durchsetzbare Risikoausschlüsse in der Haftpflichtversicherung?, versdb print 2024 H 13.2; vgl auch Diller aaO Rn 48 [selbst grobe Unkenntnis schadet nicht]). Der Versicherungsnehmer muss die Pflicht positiv kennen und den Verstoß willentlich begehen, das heißt, das Bewusstsein gehabt haben, pflichtwidrig zu handeln. Irrt der Versicherungsnehmer über das Bestehen der Pflicht bzw über deren Inhalt, schließt dieser Rechtsirrtum einen wissentlichen Pflichtverstoß aus (Rintelen in Beckmann/Matusche‑Beckmann, Versicherungsrecht Handbuch3 § 26 Rn 314b; vgl auch Gräfe/Brügge/Melchers aaO Rn 218; Lange aaO Rn 109; insoweit auch Wilhelmer aaO Rz 3362). Hat sich ein Versicherter mit der Frage auseinandergesetzt, was er zur Pflichterfüllung tun soll und sich letztlich irrtümlich für eine ganz oder teilweise ungeeignete Maßnahme entschieden, verletzt er seine Pflicht nicht wissentlich, wenn er glaubt eine geeignete Maßnahme getroffen zu haben (Lange aaO Rn 109).
[15] 1.2. Nach § 9 RAO ist ein Rechtsanwalt verpflichtet, die Rechte seiner Partei mit Gewissenhaftigkeit zu vertreten; diese Bestimmung ergänzt § 1009 ABGB, der den Gewalthaber verpflichtet, das ihm durch den Bevollmächtigungsvertrag aufgetragene Geschäft umsichtig und redlich zu besorgen. Daraus ergeben sich für den Anwalt eine Reihe von Pflichten, unter anderem Warn‑, Aufklärungs‑, Informations‑ und Verhütungspflichten als Ausprägung seiner Verpflichtung zur Interessenwahrnehmung und zur Rechtsbetreuung (RS0112203). Derjenige, der einen Rechtsanwalt betraut, darf davon ausgehen, dass dieser alle nach der Rechtsordnung erforderlichen Schritte zur Verwirklichung des ihm bekannten Geschäftszwecks unternimmt (RS0038724).
[16] 1.3.1. Der Kläger bezweifelt selbst nicht die ihn treffende objektive Pflicht, aufgrund der – von ihm zu vertretenen – Versäumung der Tagsatzungen, die ihmauch bekannte Möglichkeit auszuschöpfen und Wiedereinsetzungsanträge zu stellen. Er behauptet aber, die Voraussetzungen geprüft und die Einbringung solcher Wiedereinsetzungsanträge als aussichtslos beurteilt zu haben.
[17] 1.3.2. Wilhelmer (aaO Rz 3362)führt – ohne nähere Begründung – an, dass kein Pflichtverletzungsbewusstsein vorliege, wenn sich der Versicherte „im guten Glauben vertretbar“ für einen Irrweg entscheidet oder wenn er „vertretbar“ im Glauben gewesen sei, eine geeignete Maßnahme ergriffen zu haben. Das Berufungsgericht stellte unter Berufung aufWilhelmer auf die Vertretbarkeit der Ansicht des Klägers über die allfällige Aussichtslosigkeit der Wiedereinsetzungsanträge ab, verneinte diese und bejahte davon ausgehend den wissentlichen Pflichtverstoß.
[18] 1.3.3. Dies wird nicht geteilt. Die Frage der (Un‑)Vertretbarkeit einer Ansicht sagt nichts über das Bewusstsein, pflichtwidrig zu handeln, aus. Die fahrlässige Unkenntnis von der Pflicht aber auch die irrtümliche (fahrlässige) Entscheidung für eine ungeeignete Maßnahme vermag keine wissentliche Pflichtwidrigkeit zu begründen (vgl oben Pkt 1.1.3.).
[19] 1.3.4. Sollte daher die Behauptung des Klägers zutreffen, er sei von der Aussichtslosigkeit der Wiedereinsetzungsanträge ausgegangen, dann fehlte es ihm im Sinn der obigen Ausführung am Bewusstsein, den Pflichtverstoß willentlich zu begehen.
[20] 1.3.5. Ohne jegliche Feststellungen – allein aufgrund des Vorbringens des Klägers – kann das Vorliegen des Risikoausschlusses jedoch nicht beurteilt, insbesondere nicht bejaht werden.
[21] 1.4. Das Fehlen der Feststellungen erlaubt aber auch keine Beurteilung des Risikoausschlusses im Hinblick auf die vorgeworfene mangelhafte Büroorganisation.
[22] 2.1.1. Gemäß § 62 VersVG ist der Versicherungsnehmer verpflichtet, bei Eintritt des Versicherungsfalls nach Möglichkeit für die Abwendung und Minderung des Schadens zu sorgen und hat dabei, soweit ihm dies möglich ist, Weisungen des Versicherers einzuholen und zu befolgen. Hat der Versicherungsnehmer diese Obliegenheit verletzt, so ist der Versicherer von seiner Leistungsverpflichtung befreit, es sei denn, dass die Obliegenheitsverletzung weder auf Vorsatz noch auf grober Fahrlässigkeit beruht. Bei grob fahrlässiger Obliegenheitsverletzung durch den Versicherungsnehmer hat der Versicherer nur insoweit eine Leistung zu erbringen, als der Umfang des Schadens auch bei gehöriger Erfüllung der Obliegenheit nicht geringer gewesen wäre. Nach § 62 VersVG ist demnach der Versicherungsnehmer verpflichtet, bei Eintritt des Versicherungsfalls den Schaden möglichst abzuwenden oder zu mindern. Er hat unter gewissen Voraussetzungen Anspruch auf Ersatz des Rettungsaufwands durch den Versicherer. Mit dem Beginn des Ereignisses, das in der Regel den Schaden herbeiführen wird, beginnt die Abwendungs‑ und Minderungspflicht (RS0080451 [T3]). Die Rettungspflicht gilt zeitlich unbeschränkt, solange der Schaden abgewendet oder gemindert oder der Umfang der Entschädigung gemindert werden kann. Sie verlangt inhaltlich vom Versicherungsnehmer, die ihm in der jeweiligen Situation möglichen und zumutbaren Rettungsmaßnahmen (RS0080649 [T1]) unverzüglich und mit der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt zu ergreifen (RS0080649 [T2]), wie wenn er nicht versichert wäre. Er hat in der jeweiligen Situation unverzüglich, auch wenn der Erfolg zweifelhaft ist, einzuschreiten. Der Inhalt der Rettungspflicht bestimmt sich danach, wie sich der Versicherungsnehmer verständigerweise verhalten hätte, wenn er nicht versichert wäre (RS0080439). Die konkret in Betracht kommende Maßnahme muss generell geeignet sein, den Schaden abzuwenden oder zu mindern. Nur zu zweck‑ und sinnlosen Rettungsmaßnahmen ist der Versicherungsnehmer nicht verpflichtet (7 Ob 120/15w mzwN).
[23] 2.1.2. Grobe Fahrlässigkeit wird allgemein im Versicherungsvertragsrecht dann als gegeben erachtet, wenn schon einfachste, naheliegende Überlegungen nicht angestellt und Maßnahmen nicht ergriffen werden, die jedermann einleuchten müssen, wenn jedenfalls völlige Gleichgültigkeit gegen das vorliegt, was offenbar unter den gebotenen Umständen hätte geschehen müssen (RS0080371). Grobe Fahrlässigkeit erfordert, dass ein objektiv besonders schwerer Sorgfaltsverstoß bei Würdigung aller Umstände des konkreten Falls auch subjektiv schwerstens vorzuwerfen ist (RS0030272).
[24] 2.1.3. Der Versicherer hat den Verstoß gegen die Obliegenheit, der Versicherungsnehmer das Fehlen von Vorsatz und grober Fahrlässigkeit zu beweisen. Misslingt dem Versicherungsnehmer dieser Beweis, so muss er nachweisen, welcher Teil des Schadens mit Sicherheit auch bei korrektem Verhalten entstanden wäre (RS0043510).
[25] 2.2.1. Die Beklagte stützte sich im erstgerichtlichen Verfahren auf eine Verletzung der Rettungsobliegenheit, weil der Kläger grob schuldhaft keine Wiedereinsetzungsanträge gestellt und er darüber hinaus auch keine Weisung des Versicherers eingeholt habe.
[26] 2.2.2. Der Kläger hält auch hier entgegen, dass die Einbringung von Wiedereinsetzungsanträgen ex ante aussichtslos gewesen wäre. Seine Rechtsansicht, dass die Wiedereinsetzungsanträge abgewiesen worden wären, habe auf der ständigen Rechtsprechung beruht und sei vertretbar gewesen. Ihm könne höchstens ein leichtes Verschulden zur Last gelegt werden aufgrund des Umstands, dass er keine Weisung von der Beklagten eingeholt habe, aber auch diesfalls fehle es an der Kausalität, weil auch in dem Fall, dass Wiedereinsetzungsanträge weisungsgemäß gestellt worden wären, diese mit hoher Wahrscheinlichkeit abgewiesen worden wären. Der Schaden wäre daher im selben Ausmaß eingetreten, tatsächlich wäre dieser noch höher gewesen aufgrund der Kosten des Wiedereinsetzungsverfahrens. Eine allfällige – bestrittene – Obliegenheitsverletzung habe weder auf die Feststellung des Versicherungsfalls noch auf die Leistungspflicht der Beklagten Einfluss gehabt, weil die Schäden jedenfalls im selben Ausmaß eingetreten wären.
[27] 2.3. Mangels jeglicher Tatsachengrundlage ist auch keine Beurteilung der eingewandten grob schuldhaften Verletzung der Rettungsobliegenheit möglich.
[28] 3. Auf die Einwände der vorsätzlichen Herbeiführung des Versicherungsfalls, der Leistungsfreiheit wegen der Verletzung der Aufklärungsobliegenheit, der allfälligen Präklusion von Ansprüchen und dem fehlenden Feststellungsinteresse kann gleichfalls mangels jeglicher Tatsachengrundlage nicht eingegangen werden.
[29] 4. Der Revision war daher Folge zu geben, die Urteile der Vorinstanzen waren aufzuheben und die Rechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Verhandlung nach Verfahrensergänzung zurückzuweisen. Die Frage nach der (verneinten) Nichtigkeit und der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens stellt sich nicht.
[30] 5. Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.
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