OGH 11Os12/25m

OGH11Os12/25m6.5.2025

Der Oberste Gerichtshof hat am 6. Mai 2025 durch die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek als Vorsitzende sowie die Hofrätinnen und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Mag. Fürnkranz, Dr. Oberressl, Dr. Brenner und Mag. Riffel in Gegenwart der Rechtspraktikantin Boyer LL.M. (WU), LL.M. als Schriftführerin in der Strafsache gegen * R* wegen des Verbrechens der Veruntreuung nach § 133 Abs 1 und 2 zweiter Fall StGB, AZ 17 Hv 44/20i des Landesgerichts Feldkirch, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Präsidenten des Oberlandesgerichts Innsbruck vom 13. Juni 2024, AZ 8 Ns 16/24h, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Ulrich, sowie des Verteidigers Lang, LL.M. zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0110OS00012.25M.0506.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

 

Der Beschluss des Präsidenten des Oberlandesgerichts Innsbruck vom 13. Juni 2024, AZ 8 Ns 16/24h, verletzt § 43 Abs 3 StPO.

Dieser Beschluss wird aufgehoben und es wird in der Sache selbst erkannt:

Der Senatspräsident des Oberlandesgerichts Innsbruck * ist von der Entscheidung über die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluss des Landesgerichts Feldkirch vom 4. Mai 2024, GZ 17 Hv 44/20i-251, nicht ausgeschlossen.

 

Gründe:

[1] Mit beim Landesgericht Feldkirch (zu AZ 17 Hv 44/20i) eingebrachter Anklageschrift vom 13. Juli 2020 (ON 143) legte die Staatsanwaltschaft Feldkirch * R* als jeweils ein Verbrechen der Veruntreuung nach § 133 Abs 1 und 2 zweiter Fall StGB (1) und der Verleumdung nach § 297 Abs 1 zweiter Fall StGB (2) subsumierte Taten zur Last.

[2] Dem gegen diese Anklageschrift erhobenen Einspruch (§ 212 StPO) des Angeklagten (ON 146) gab das Oberlandesgericht Innsbruck mit Beschluss vom 7. September 2020, AZ 11 Bs 206/20m, (ON 149) teilweise Folge und stellte das Strafverfahren im Umfang des Anklagevorwurfs 2 ein. Den Einspruch im Übrigen wies es ab und stellte im Umfang des Anklagevorwurfs 1 die Rechtswirksamkeit der Anklageschrift fest. An dieser Entscheidung hat der Richter (nunmehr Senatspräsident) des Oberlandesgerichts Innsbruck * mitgewirkt.

[3] Während des folgenden Hauptverfahrens beantragte (ON 246) die Staatsanwaltschaft am 11. Oktober 2023 – nachdem der Angeklagte wiederholt Ladungen keine Folge geleistet hatte – die Anordnung der Festnahme des Angeklagten (§ 210 Abs 3 erster Satzteil StPO).

[4] Mit Beschluss vom 4. Mai 2024 (ON 251) wies der Vorsitzende des Schöffengerichts (§ 32 Abs 3 StPO) diesen Antrag ab. Dagegen hat die Staatsanwaltschaft am 30. Mai 2024 Beschwerde erhoben (ON 252).

[5] Die Entscheidung über dieses Rechtsmittel kommt nach der Geschäftsverteilung des Oberlandesgerichts Innsbruck (in der anzuwendenden Fassung) dessen Senat 11 (zu AZ 11 Bs 120/24w) zu, dem * (weiterhin) angehört.

[6] Mit Schreiben vom 12. Juni 2024 zeigte der Genannte dem Präsidenten des Oberlandesgerichts Innsbruck seine Ausgeschlossenheit von der anstehenden Rechtsmittelentscheidung „nach § 43 Abs 3 zweiter Fall StPO“ an, weil er zuvor an der (soweit noch von Bedeutung, nämlich zum Anklagevorwurf 1, abweislichen) Entscheidung über den Einspruch des Angeklagten gegen die Anklageschrift mitgewirkt habe (ON 149).

[7] Mit Beschluss vom 13. Juni 2024, AZ 8 Ns 16/24h, sprach der Präsident des Oberlandesgerichts Innsbruck die Ausgeschlossenheit des genannten Richters „vom Verfahren zu 11 Bs 120/24w des Oberlandesgerichts Innsbruck“ aus.

[8] Zur Begründung bezog er sich auf § 43 Abs 3 StPO und führte – nach nahezu wörtlicher Wiedergabe von Lässig, WK-StPO § 43 Rz 28 bis 30 – Folgendes aus: „Im vorliegenden Fall hat [...] * […] bereits über den Anklageeinspruch und somit – 'organisatorisch' gesehen – in 'erster Instanz' entschieden“. Nun sei das Oberlandesgericht Innsbruck zur Entscheidung „als Rechtsmittelgericht, somit offenkundig 'als zweite Instanz', berufen. Es erscheint nur konsequent, die dargelegten Grundsätze – wonach ein Richter, der bereits an der Entscheidung über den Einspruch gegen die Anklage mitgewirkt hat, an der Entscheidung über die Rechtsmittel gegen das Urteil ausgeschlossen ist – auch bereits allgemein für jede Rechtsmittelentscheidung nach der Entscheidung über den Anklageeinspruch heranzuziehen. § 43 Abs 3 zweiter Fall StPO ist daher auch im vorliegenden Fall der Entscheidung über die Beschwerde gegen den Beschluss, mit dem ein Antrag auf Erlassung einer Festnahmeanordnung hinsichtlich des Angeklagten abgewiesen wurde, analog anzuwenden.“

[9] Über die Beschwerde der Staatsanwaltschaft vom 30. Mai 2024 (ON 252) hat das Oberlandesgericht Innsbruck bislang nicht entschieden.

Rechtliche Beurteilung

[10] Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde ausführt, steht der bezeichnete Beschluss des Präsidenten des Oberlandesgerichts Innsbruck mit dem Gesetz nicht im Einklang:

[11] Gemäß § 43 Abs 3 StPO ist (soweit hier von Interesse) ein Richter eines Rechtsmittelgerichts ausgeschlossen, wenn er im Verfahren als Richter der ersten Instanz, ein Richter der ersten Instanz, wenn er als Richter eines übergeordneten Gerichts tätig gewesen ist.

[12] Da die Mitwirkung an der Entscheidung über einen Einspruch gegen die Anklageschrift (§ 33 Abs 1 Z 4 StPO) keine Tätigkeit als Richter der – nach insoweit maßgeblichem organisatorischen Verständnis – „ersten Instanz“ ist (13 Os 118/12w), unterfällt die vorliegende Konstellation nicht § 43 Abs 3 erster Fall StPO. Ebenso wenig ist ein mit der Entscheidung über ein Rechtsmittel gegen eine Entscheidung des Landesgerichts als Einzelrichter (§ 33 Abs 1 Z 1 StPO) befasster Richter des Oberlandesgerichts – organisatorisch betrachtet – ein „Richter der ersten Instanz“ im Sinn des § 43 Abs 3 zweiter Fall StPO. Unmittelbare Anwendung des § 43 Abs 3 (erster oder zweiter Fall) StPO scheidet hier daher aus.

[13] Zwar trifft es zu, dass die Bestimmungen der StPO über die Ausschließung – so auch § 43 Abs 3 StPO – analogiefähig sind. Bei der Frage, ob eine (zum Analogieschluss berechtigende – RIS-Justiz RS0008866) Gesetzeslücke besteht, ist aber im Hinblick auf den Ausnahmecharakter der Ausschließungsnormen nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ein äußerst strenger Maßstab anzulegen (statt vieler 15 Os 80/13y, 11 Os 137/21p [Rz 10] SSt 2021/64 EvBl 2022/63, 488 [Ratz; Rami] und 12 Ns 36/23z [Rz 13] EvBl 2024/93, 309 [Swiderski]; RIS-Justiz RS0115283 [T5]; näher zum Ganzen Lässig, WK-StPO Vorbemerkungen zu §§ 43–47 Rz 3 und 5).

[14] Eine solche, zur analogen Anwendung des § 43 Abs 3 zweiter Fall StPO führende planwidrige Unvollständigkeit der diesbezüglichen Normenlage wird – im Lichte des Art 6 MRK – in der Relation zwischen der Entscheidung über den Einspruch gegen die Anklageschrift und jener über die Berufung gegen das in derselben Sache ergangene Urteil erster Instanz bejaht (erneut 13 Os 118/12w, RIS-Justiz RS0097408 [T1], RS0129712).

[15] Die dem zugrunde liegende Wertung (mangelnder sachlicher Differenzierbarkeit gegenüber einem von § 43 Abs 3 StPO geregelten Fall) kann bei kumulativem Vorliegen folgender Voraussetzungen zum Tragen kommen:

1. Jene (bevorstehende) Entscheidung, in Bezug auf die Richterausgeschlossenheit geprüft wird, könnte über die „Stichhaltigkeit der strafrechtlichen Anklage“ – also die Schuld oder Nichtschuld des Angeklagten – endgültig absprechen (wodurch der strafrechtliche Anwendungsbereich des Art 6 MRK eröffnet wäre – vgl RIS-Justiz RS0120945; Grabenwarter/Pabel, EMRK7 § 24 Rz 27 und 49 mwN) und

2. der betreffende Richter hat „in derselben Sache“ bereits zuvor an einer Entscheidung mitgewirkt, in der über die Schuld des Angeklagten abgesprochen wurde oder – im Hinblick auf ebendiesen, den Angeklagten treffenden Schuldvorwurf – die Verfahrensergebnisse inhaltlich zu bewerten waren (zum Begriff „in derselben Sache“ siehe 12 Ns 36/23z [Rz 15] mwN, RIS-Justiz RS0134430; vgl auch 14 Os 79/24k [Rz 16 ff] und 14 Os 124/24b [Rz 16 ff], die jedoch ausschließlich auf Vorbefasstheit mit „demselben Entscheidungsgegenstand“ abstellen [und nicht auch darauf, ob über die Schuldfrage abzusprechen ist oder abgesprochen wurde]).

[16] In der hier zu beurteilenden Konstellation trifft schon die erste Voraussetzung nicht zu. Verfahrensgegenstand der zu treffenden (Rechtsmittel-)Entscheidung ist nämlich jedenfalls nicht die „Stichhaltigkeit der strafrechtlichen Anklage“ als solche, sondern die Frage des Vorliegens der (unter anderem einfachen Tatverdacht umfassenden) Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Festnahme (§§ 170 f StPO) des Angeklagten.

[17] Hiervon ausgehend ist eine vom Präsidenten des Oberlandesgericht Innsbruck ausgemachte Gesetzeslücke, die zur analogen Anwendung des § 43 Abs 3 zweiter Fall StPO führen könnte, für den vorliegenden Sachverhalt nicht auszumachen.

[18] Die im angefochtenen Beschluss artikulierte Fehlmeinung findet übrigens – entgegen der Andeutung seiner Begründung – in Lässig, WK-StPO § 43 Rz 28 bis 30, gerade keine Stütze. Insbesondere ergibt sich daraus weder, dass Richter des Oberlandesgerichts über einen Einspruch gegen die Anklageschrift „organisatorisch“ „in erster Instanz“ entscheiden, noch dass die „oben dargelegten Grundsätze“ im Fall der Mitwirkung an einer solchen Entscheidung Ausgeschlossenheit „allgemein für jede Rechtsmittelentscheidung nach der Entscheidung über den Anklageeinspruch“ verlangen würden.

[19] Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass die aufgezeigte Gesetzesverletzung zum Nachteil des Angeklagten wirkt (vgl RIS-Justiz RS0053573 [T1]), war deren Feststellung wie aus dem Spruch ersichtlich mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO).

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