OGH 14Os124/24b

OGH14Os124/24b28.1.2025

Der Oberste Gerichtshof hat am 28. Jänner 2025 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger als Vorsitzende, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Nordmeyer, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann und Dr. Setz‑Hummel LL.M. sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter LL.M. in Gegenwart der Schriftführerin FI Jäger in der Strafsache gegen * F* wegen des Verbrechens des Missbrauchs der Amtsgewalt nach §§ 15, 12 zweiter Fall, 302 Abs 1 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung, AZ 37 Hv 92/21w des Landesgerichts Innsbruck, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Präsidentendes Oberlandesgerichts Innsbruck vom 18. März 2024, AZ 8 Ns 8/24g, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, StaatsanwaltDr. Roitner, sowie der Verteidigerin Dr. Vinkovits zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0140OS00124.24B.0128.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

 

Der Beschluss des Präsidenten des Oberlandesgerichts Innsbruck vom 18. März 2024, AZ 8 Ns 8/24g, verletzt § 43 Abs 3 StPO.

 

Gründe:

[1] Mit beim Landesgericht Innsbruck zu AZ 37 Hv 92/21w eingebrachter Anklageschrift vom 15. September 2021 legte die Staatsanwaltschaft Innsbruck * F* ein dem Vergehen der Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1 StGB (1./) und dem Verbrechen des Missbrauchs der Amtsgewalt „nach §§ 12 zweiter Fall, 15, 302 Abs 1 StGB“ (2./) subsumiertes Verhalten zur Last (ON 13).

[2] Den gegen diese Anklageschrift erhobenen Einspruch des Angeklagten (ON 15 und ON 20) wies das Oberlandesgericht Innsbruck mit – durch den Senatspräsidenten Dr. U* als Vorsitzenden sowie die weiteren Richter Mag. F* und Dr. K* gefasstem – Beschluss vom 20. Jänner 2022, AZ 6 Bs 254/21k, ab und es stellte die Rechtswirksamkeit der Anklageschrift fest (ON 27).

[3] Mit Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Schöffengericht vom 15. November 2023, GZ 37 Hv 92/21w‑55, wurde der Angeklagte (anklagekonform) des Vergehens der Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1 StGB (1./) sowie des Verbrechens des Missbrauchs der Amtsgewalt nach (richtig:) §§ 15, 12 zweiter Fall, 302 Abs 1 StGB (2./) schuldig erkannt.

[4] Die gegen dieses Urteil erhobene Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten wies der Oberste Gerichtshof mit Beschluss vom 5. November 2024 zu AZ 14 Os 36/24m (14 Os 82/24a, 14 Os 83/24y) zurück. Gegen die Beschlüsse des Vorsitzenden des Schöffengerichts vom 9. Februar 2024 (ON 65), mit dem der Antrag des Angeklagten auf Berichtigung des Protokolls über die Hauptverhandlung (teilweise) abgewiesen worden war, und vom 23. Juli 2024 (ON 83), mit dem ein ebensolcher Antrag zurückgewiesen worden war, richteten sich Beschwerden des Angeklagten. Diese waren ohne inhaltliche Erwiderung durch die Entscheidung über die Nichtigkeitsbeschwerde erledigt, weil sie sich auf keine für den Erfolg derselben wesentlichen Tatsachen bezogen (vgl RIS‑Justiz RS0120683, RS0126057 [T2, T5]). Über die gegen das genannte Urteil erhobene Berufung des Angeklagten hat das Oberlandesgericht Innsbruck noch nicht entschieden.

[5] Im Zuge des Rechtsmittelverfahrens beantragte der Angeklagte nach (erstmaliger) Zustellung des (damals noch unberichtigten) Hauptverhandlungsprotokolls und des Urteils mit Eingabe vom 15. Jänner 2024 „die Übermittlung der Audiodatei, welche der Vorsitzende mit seinem Diktiergerät aufgenommen“ habe, um das Protokoll über die Hauptverhandlung am 15. November 2023 überprüfen zu können (ON 60). Der Vorsitzende des zu AZ 37 Hv 92/21w zuständigen Schöffensenats des Landesgerichts Innsbruck wies diesen Antrag mit Beschluss vom 16. Jänner 2024 ab (ON 61), wogegen der Angeklagte am 30. Jänner 2024 Beschwerde erhob (ON 64). Zu deren Behandlung war nach der Geschäftsverteilung des Oberlandesgerichts Innsbruck dessen Senat 6 in der Besetzung Senatspräsident Mag. F* als Vorsitzender sowie die Richter Dr. K* und Mag. M* als weitere Mitglieder zuständig.

[6] Mit Schreiben vom 12. März 2024, zeigte der genannte Senatspräsident zu AZ 6 Bs 65/24w dem Präsidenten des Oberlandesgerichts Innsbruck die allfällige Ausgeschlossenheit seiner Person und der Richterin Dr. K* hinsichtlich der Entscheidung über die zuvor genannte Beschwerde (ON 64) an, weil beide bereits an der (abweisenden) Entscheidung über den gegen die Anklageschrift eingebrachten Einspruch des Angeklagten mitgewirkt haben und die dadurch bewirkte Ausgeschlossenheit der Genannten von der Entscheidung über gegen das Urteil gerichtete Rechtsmittel auch allgemein für jede Rechtsmittelentscheidung nach der Entscheidung über den Anklageeinspruch gelten könnte.

[7] Mit Beschluss vom 18. März 2024, AZ 8 Ns 8/24g, erkannte der Präsident des Oberlandesgerichts Innsbruck auf Ausschließung des Senatspräsidenten Mag. F* sowie der Richterin Dr. K* „vom Verfahren zu AZ 6 Bs 65/24w des Oberlandesgerichts Innsbruck“ (ON 72).

[8] Zur Begründung führte der Präsident (unter anderem) aus, dass nach § 43 Abs 3 erster Fall StPO jedes Tätigwerden als Richter des untergeordneten Gerichts Ausschließung als Richter des Rechtsmittelgerichts im selben Verfahren nach sich ziehe. Da der Begriff „erste Instanz“ organisatorisch zu verstehen sei, gelte dies auch für jenen des Rechtsmittelgerichts, weshalb § 43 Abs 3 erster Fall StPO auch in Verfahren zur Entscheidung über Rechtsbehelfe anzuwenden sei. Gemäß dem zweiten Fall des § 43 Abs 3 StPO habe jedes Tätigwerden als Richter eines übergeordneten Gerichts dessen Ausgeschlossenheit als Richter der ersten Instanz zur Folge. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs sei ein Richter, der über einen Anklageeinspruch und solcherart über die zur Anklageerhebung notwendige Verdachtslage entschieden habe, in analoger Anwendung des § 43 Abs 3 zweiter Fall StPO auch im Rechtsmittelverfahren ausgeschlossen. Da die Richter Mag. F* und Dr. K* bereits über den Anklageeinspruch und somit „organisatorisch“ gesehen in „erster Instanz“ entschieden hätten, der Senat 6 des Oberlandesgerichts Innsbruck in Ansehung des nunmehr bekämpften Beschlusses des Landesgerichts Innsbruck als Rechtsmittelgericht und somit als „zweite Instanz“ berufen sei, erscheine es konsequent, den dargelegten Grundsatz, wonach ein Richter, der bereits an der Entscheidung über einen Anklageeinspruch mitgewirkt hat, von der Entscheidung über die Rechtsmittel gegen das Urteil ausgeschlossen sei, auch allgemein für jede Rechtsmittelentscheidung nach der Entscheidung über den Anklageeinspruch heranzuziehen.

[9] Mit (durch die Richter Mag. M* als Vorsitzenden sowie Mag. H* und Mag. O* als weitere Senatsmitglieder) gefasstem Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck vom 9. April 2024, AZ 6 Bs 65/24w, wurde der gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck vom 16. Jänner 2024 gerichteten Beschwerde des Angeklagten nicht Folge gegeben (ON 73).

Rechtliche Beurteilung

[10] Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, steht der genannte Beschluss des Präsidenten des Oberlandesgerichts Innsbruck mit dem Gesetz nicht in Einklang:

[11] Voranzustellen ist, dass die Wahrnehmung von Ausschließungs- oder Befangenheitsgründen (§§ 43 und 47 StPO) eine Kompetenzverschiebung bewirkt und damit in einem Spannungsverhältnis zum verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf den gesetzlichen Richter (Art 83 Abs 2 B‑VG) und zum – dieses Recht ausgestaltenden – Prinzip der festen Geschäftsverteilung (Art 87 Abs 3 B‑VG) stehen. Es bedarf daher der (schon durch deren Ausnahmecharakter gebotenen) strikten Auslegung dieser Normen, um die – neben der Unabsetzbarkeit und der Unversetzbarkeit (Art 88 Abs 2 B‑VG) – wesentlichsten Säulen der richterlichen Unabhängigkeit (Art 87 Abs 1 B‑VG) nicht auszuhöhlen (vgl Lässig, WK-StPO Vor §§ 43–47 Rz 3).

[12] Die Bestimmungen über die Ausschließung und die Befangenheit sind nach ständiger Rechtsprechung zwar analogiefähig, bei der Frage, ob eine (zum Analogieschluss berechtigende) Gesetzeslücke besteht, ist aber im Hinblick auf den Ausnahmecharakter der entsprechenden Normen ein strenger Maßstab anzulegen (vgl zuletzt 12 Ns 36/23z mwN; RIS‑Justiz RS0115283 [T5]; Lässig, WK-StPO Vor §§ 43–47 Rz 5).

[13] Gemäß § 43 Abs 3 StPO ist (soweit gegenständlich relevant) ein Richter eines Rechtsmittelgerichts, wenn er selbst im Verfahren als Richter der ersten Instanz, und ein Richter der ersten Instanz, wenn er selbst als Richter eines übergeordneten Gerichts tätig gewesen ist, jeweils ausgeschlossen.

[14] § 43 Abs 3 erster Fall StPO erfasst jede in einem bestimmten Verfahren in erster Instanz gesetzte (inhaltlich) richterliche Tätigkeit. Da der Begriff der ersten Instanz somit organisatorisch zu verstehen ist, gilt dies auch für den des Rechtsmittelgerichts, weshalb § 43 Abs 3 erster Fall StPO auch in Verfahren zur Entscheidung über Rechtsbehelfe anzuwenden ist. Mit Blick darauf, dass sich die Ausschließungsgründe des § 43 Abs 3 erster und zweiter Fall StPO spiegelbildlich gegenüberstehen, hat (auch) jedes Tätigwerden als Richter eines übergeordneten Gerichts die Ausgeschlossenheit als Richter der ersten Instanz zur Folge (§ 43 Abs 3 zweiter Fall StPO). Richter, die als solche des übergeordneten Gerichts über einen Rechtsbehelf (hier: den Einspruch gegen die Anklageschrift nach § 213 Abs 2 StPO) entschieden haben, sind somit im erstinstanzlichen Verfahren nach § 43 Abs 3 zweiter Fall StPO ausgeschlossen.

[15] Mangels sachlicher Differenzierbarkeit ist in analoger Anwendung dieser Norm ein Richter, der über den Einspruch gegen die Anklageschrift – und solcherart über die zur Anklageerhebung notwendige Verdachtslage – entschieden hat, auch von der Entscheidung über die Rechtsmittel gegen das ergangene (endgültig über die Verdachtslage absprechende) Urteil „in derselben Sache“ ausgeschlossen (vgl zum Ganzen 13 Os 118/12w; RIS‑Justiz RS0097408 [T1], RS0129712; Lässig, WK-StPO § 43 Rz 18 f, 28 ff).

[16] Die Beurteilung der Ausgeschlossenheit aufgrund von Vorbefasstheit erfolgt nämlich anhand einer inhaltlichen Betrachtungsweise, sodass für die Frage der analogen Anwendung des § 43 Abs 3 StPO der Entscheidungsgegenstand der jeweiligen Verfahrensabschnitte maßgeblich ist (RIS-Justiz RS0134430).

[17] Vorliegend war mit der im Rahmendes Beschwerdeverfahrens vorzunehmenden Prüfung keine solche der gegen den Angeklagten bestehenden Verdachtslage verbunden. Vielmehr beschränkte sich das gegenständliche Beschwerdeverfahren auf die – unabhängig von der Beurteilung des Anklageeinspruchs zu beantwortende – Frage, ob dem Angeklagten eine Audioaufnahme der Hauptverhandlung vom 15. November 2023 zu übermitteln ist.

[18] Da somit eine Vorbefasstheit der beiden genannten Richter des Oberlandesgerichts Innsbruck mit demselben Entscheidungsgegenstand nicht vorlag, war eine durch Analogie zu schließende Lücke in § 43 Abs 3 StPO in der vorliegenden Konstellation nicht auszumachen.

[19] Weil auch unter dem Aspekt des § 43 Abs 1 Z 3 StPO keine Fragen zu beantworten waren, die jenen ähnlich gewesen wären, mit denen die betreffenden Richter in „der selben Sache“ anlässlich der Entscheidung über den Anklageeinspruch bereits befasst waren (vgl dazu RIS‑Justiz RS0124109 [T2]; 12 Ns 52/10f, 12 Ns 67/15x, 12 Ns 61/23a; Lässig, WK-StPO § 43 Rz 31a mwN), warendie Richter des Oberlandesgerichts Innsbruck Mag. F* und Dr. K* von der Entscheidung über die eingangs bezeichnete Beschwerde nicht ausgeschlossen (vgl zu allem jüngst 14 Os 79/24k).

[20] Mit Blick auf die bereits erfolgten Erledigungen einerseits der Nichtigkeitsbeschwerde und andererseitsder gegen Beschlüsse über Protokollberichtigungsanträge des Angeklagten gerichteten Beschwerden war die aufgezeigte Gesetzesverletzung lediglich festzustellen (§ 292 fünfter und sechster Satz StPO).

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