European Case Law Identifier: ECLI:AT:OLG0819:2025:0110BS00120.24W.0702.000
Rechtsgebiet: Strafrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der Beschwerde wirdF o l g e gegeben, der angefochtene Beschlussaufgehoben und die Festnahme des A* aus dem Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 170 Abs 1 Z 2 StPO angeordnet.
Gegen diese Entscheidung steht ein weiterer Rechtszug nicht zu (§ 89 Abs 6 StPO).
Begründung:
Mit rechtswirksamer Anklageschrift vom 13.7.2020, AZ ** (ON 143; [Einspruchsentscheidung des Oberlandesgerichts zu 11 Bs 206/20m ON 149]) legt die Staatsanwaltschaft Feldkirch A* eine dem Verbrechen der Veruntreuung nach § 133 Abs 1 und 2 zweiter Fall StGB subsumierte Tat zur Last.
Demnach habe er am 10.9.2003 in B* ein Gut, das ihm anvertraut worden ist, sich oder einem Dritten mit dem Vorsatz zugeeignet, sich oder den Dritten dadurch unrechtmäßig zu bereichern, wobei er ein Gut im Wert von mehr als EUR 300.000,-- veruntreute, indem er den ihm am 9.9.2003 von C* zur treuhändischen Verwahrung übergebenen Bargeldbetrag von EUR 350.000,-- vereinnahmte und eigentümergleich verwendete.
Am 21.3.2023 beantragte die Staatsanwaltschaft Feldkirch die Erlassung einer Festnahmeanordnung gemäß § 170 Abs 1 Z 2 StPO (ON 238).
Mit dem angefochtenen Beschluss wies der Vorsitzende des Schöffengerichts diesen Antrag ab (ON 251). Nach Darstellung des rechtswirksamen Anklagevorwurfs führte er begründend aus:
Der Angeklagte ist trotz wiederholt anberaumter Hauptverhandlungen ab dem 04.08.2021 und ausgewiesenen Ladungszustellungen durch internationalen Rückschein zur Hauptverhandlung nicht erschienen, weswegen er zur Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben wurde.
Er hat seinen dauernden Wohnsitz in Deutschland, ist allerdings österreichischer Staatsbürger.
Aufgrund wiederholt einlangender Schriftsätze und auch aufgrund des Umstandes, dass laut Angaben der Amtsverteidigerin der Angeklagte ihr gegenüber massive und ungerechtfertigte Vorwürfe geäußert habe, entstanden beim Vorsitzenden des Schöffengerichts Zweifel an der Verhandlungsreife und Vernehmungsfähigkeit des Angeklagten, sodass mittels europäischer Ermittlungsanordnung (ON 245) die deutschen Behörden um Bestellung eines Sachverständigen aus dem Fachgebiet Allgemeinmedizin oder Psychiatrie ersucht wurden, mit der zu beantwortenden Fragestellung, ob der Angeklagte verhandlungs-, reise- und vernehmungsfähig ist.
Dieses Ersuchen musste vom Amtsgericht Leutkirch im Allgäu unerledigt retourniert werden, da der Betroffene es mehrfach ablehnte, zur Untersuchung zum Sachverständigen zu erscheinen. Krankheitsbezogene Unterlagen liegen im Akt nicht vor, sodass auch ein ergänzendes Ersuchen um Erstellung eines Aktengutachtens nicht in Betracht kam.
Hierauf hat die Staatsanwaltschaft am 11.10.2023 (ON 246) ohne weitere Begründung den im Spruch genannten Antrag gestellt.
Gemäß § 170 Abs 1 StPO ist die Festnahme einer Person, die der Begehung einer strafbaren Handlung verdächtig ist zulässig, wenn sie flüchtig ist oder sich verborgen hält (Ziffer 2).
Nach Abs 3 dieser Bestimmung sind Festnahme und Anhaltung nicht zulässig, soweit sie zur Bedeutung der Sache außer Verhältnis stehen, wobei auf § 5 StPO verwiesen wird.
Gemäß § 5 StPO darf das Gericht bei der Ausübung seiner Befugnisse und bei der Aufnahme von Beweisen nur soweit in Rechte von Personen eingreifen, als dies gesetzlich ausdrücklich vorgesehen ist und zur Aufgabenerfüllung erforderlich ist. Jede dadurch bewirkte Rechtsgutbeeinträchtigung muss in einem angemessenen Verhältnis zum Gewicht der Straftat, zum Gra[d] des Verdachts und zum angestrebten Erfolg stehen. Unter mehreren zielführenden Ermittlungs- und Zwangsmaßnahmen hat das Gericht jene zu ergreifen, welche die Rechte des Betroffenen am geringsten beeinträchtigt.
Auch wenn im Hinblick auf die mehrfache Nichtteilnahme an der Hauptverhandlung und aus den Schriftsätzen die mangelnde Bereitschaft des Angeklagten bei Gericht zu erscheinen und somit die Fluchtgefahr evident ist, stünden eine Festnahme und daraus folgende Anhaltung aus nachstehenden Überlegungen außer Verhältnis:
Die angeklagte Tat ist zwar gemäß § 133 Abs 2 2. Fall StGB mit einer Freiheitsstrafe von einem bis zu 10 Jahren bedroht, liegt jedoch mehr als 20 Jahre zurück.
Die aktuell eingeholte österreichische und auch deutsche Strafregisterauskunft weisen keine Vorstrafen auf, sodass ein Zeitraum von mehr als 20 Jahren des Wohlverhaltens vorliegt.
Der Tatverdacht ist im Hinblick auf die vorliegenden Beweisergebnisse lediglich als einfach und keinesfalls als dringend zu bezeichnen. Aus diesem Grund bliebe auch im Falle einer Festnahme keine Rechtfertigung, sodann eine Untersuchungshaft zu verhängen.
Berücksichtigenswert ist weiters, dass der in der Schweiz wohnhafte Zeuge C* bereits mehrfach angekündigt hat, zu Verhandlungen und Ladungen hiezu nicht Folge zu leisten, sodass auch im Falle einer Anhaltung des Angeklagten eine Hauptverhandlung nicht unverzüglich durchgeführt werden könnte.
Mit der Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung wurden bereits gelindere Mittel ergriffen. Spätestens wenn der Angeklagte, welcher sich als österreichischer Staatsbürger in Deutschland aufhält, und hiefür jedenfalls über ein gültiges Ausweisdokument verfügen wird müssen bei neuerlicher Antragstellung auf einen Reisepass mit einer Passversagung im Sinne des § 14 Abs 1 Ziffer 3 lit a Passgesetz konfrontiert sein und keinen Reisepass erhalten wird, ist mit Bemühungen seinerseits zur Hauptverhandlung zu erscheinen zu rechnen.
Somit steht ab diesem Zeitpunkt jedenfalls auch ein geeignetes Druckmittel als gelinderes Mittel zur Hand, welches auch effektiv die Durchführung einer Hauptverhandlung ermöglichen wird können.
Aus diesen Gründen ist der Antrag der Staatsanwaltschaft abzuweisen.
Gegen diesen Beschluss richtet sich die rechtzeitige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Feldkirch mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die beantragte Festnahmeanordnung zu erlassen, in eventu dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung über den Antrag allenfalls nach Verfahrensergänzung aufzutragen. Argumentativ wird zusammengefasst vorgebracht, es sei zutreffend, dass über längere Zeit hinweg keine verfahrenserledigende Entscheidung ergangen sei, was nur darauf zurückzuführen sei, dass sich der Angeklagte dem Verfahren zunächst in B* bis zur Übernahme der Strafverfolgung und sodann in Österreich durch Flucht entzogen habe, was das Erstgericht durch die nunmehrige Feststellung der Unangemessenheit einer Festnahme „belohne“. Auf die Annahme des Erstgerichts, es liege kein dringender Tatverdacht vor, könne mangels Begründung nicht eingegangen werden. Die Vernehmung des Zeugen C* in der Hauptverhandlung könne binnen kürzester Zeit im Wege der Videokonferenz durchgeführt werden. Die Angemessenheit der Festnahme beruhe auf dem enormen Schaden, den der Angeklagte herbeigeführt habe. Zum Tatzeitpunkt sei der Angeklagte durch einschlägige Vorstrafen belastet gewesen. Zudem sei die „Zahnlosigkeit“ des § 14 PassG gerichtsnotorisch, zumal Unionsbürger eine deutsche eID-Karte beantragen könnten (ON 252).
Während sich die Oberstaatsanwaltschaft einer Stellungnahme zur Beschwerde der Staatsanwaltschaft enthielt, äußerte sich der Angeklagte neben der zustimmenden Wiederholung der Ausführungen im angefochtenen Beschluss dahingehend, dass fallkonkret eine Festnahme und Anhaltung des Angeklagten völlig außer Verhältnis zur Bedeutung der weit mehr als 20 Jahre zurückliegenden Angelegenheit sei, er weltweit gerichtlich unbescholten sei, ihm die getilgten Vorstrafen daher nicht mehr vorwerfbar seien, er sich in Deutschland und damit in einem EU-Mitgliedsstaat aufhalte, das Erstgericht ihn zur Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben und daher bereits gelindere und verhältnismäßige Mittel ergriffen habe, weshalb der Beschwerde keine Folge zu geben sein werde.
Rechtliche Beurteilung
Die Beschwerde ist berechtigt.
Die Voraussetzungen der Festnahme nach § 170 StPO sind ein Tatverdacht, das Vorliegen eines Haftgrunds und die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in das Grundrecht auf persönliche Freiheit. Im Gegensatz zur Untersuchungshaft, die den dringenden Tatverdacht verlangt (§ 173 Abs 1 StPO), setzt § 170 Abs 1 StPO nur den (konkreten) Verdacht der Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung voraus; eine einfache Wahrscheinlichkeit genügt demnach (Kirchbacher/Rami, WK-StPO § 170 Rz 5 mwN).
Zum Vorliegen des auch vom Erstgericht bejahten und in der Gegenausführung des Angeklagten nicht relevierten einfachen Tatverdachts wird zur Vermeidung von Wiederholungen identifizierend auf die Ausführungen im Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck vom 7.9.2020, 11 Bs 206/20m, verwiesen (RIS-Justiz RS0124017 [T2]). Ob der Angeklagte auch dringend verdächtig ist, die angeklagte Tat begangen zu haben, ist der Ansicht des Erstgerichts zuwider für die Festnahme unerheblich.
Gemäß § 170 Abs 1 Z 2 StPO ist die Festnahme einer Person, die der Begehung einer strafbaren Handlung verdächtig ist, zulässig, wenn sie flüchtig ist oder sich verborgen hält, oder, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen die Gefahr besteht, sie werde flüchten oder sich verborgen halten.
Mit dem im angefochtenen Beschluss, der selbst den Haftgrund der Fluchtgefahr bejaht, aktenkonform wiedergegebenen Verhalten des Angeklagten, wonach er trotz wiederholt anberaumter Hauptverhandlungen, von denen er nachweislich Kenntnis erlangte, (ab dem 4.8.2021) zu keinem Termin erschien und sich auch aus seinen Schriftsätzen die mangelnde Bereitschaft ergibt, zur Hauptverhandlung zu erscheinen, sind jene Umstände nachvollziehbar begründet, woraus die Annahme abgeleitet werden muss, dass er nicht bereit ist, sich der Hauptverhandlung vor dem Landesgericht Feldkirch zu stellen. Nach wie vor ist davon auszugehen, dass er sich der Strafverfolgung gezielt entzieht und flüchtig im Sinn des § 170 Abs 1 Z 2 StPO ist (Hinterhofer/Oshidari, Strafverfahren Rz 7.744 mwN; Nordmeyer in WK StPO § 197 Rz 4). Für diese Annahme spricht auch die im angefochtenen Beschluss aktenkonform referierte unterlassene Kontaktaufnahme mit dem Sachverständigen zur Befundaufnahme zwecks Überprüfung der Verhandlungsfähigkeit. Konkrete Anhaltspunkte für das Nichtvorliegen der „Verhandlungsreife und Vernehmungsfähigkeit“ des Angeklagten lassen sich im Übrigen entgegen der Ansicht des Erstgerichts aus den eigenhändig verfassten Schriftsätzen des Angeklagten und den Angaben der Amtsverteidigerin zu dem ihr gegenüber vom Angeklagten geäußerten massiven und ungerechtfertigten Vorwürfen nicht entnehmen.
Nach Art 1 Abs 3 PersFrG darf die persönlich Freiheit nur entzogen werden, wenn und soweit dies nicht zum notwendigen Zweck der Maßnahme außer Verhältnis steht. § 170 Abs 3 StPO, der auf § 5 StPO verweist, konkretisiert dies für den Fall der Festnahme. Danach ist die Festnahme nicht zulässig, soweit sie zur Bedeutung der Sache außer Verhältnis steht; kein Kriterium der Festnahme ist hingegen - abweichend von der Regelung der Untersuchungshaft (§ 173 Abs 1 letzter Satz StPO) - die zu erwartende Strafe. Unter „Sache“ ist die den Gegenstand des Tatverdachts bildende konkrete Verwirklichung der Tat zu verstehen, die dem Angeklagten angelastet wird (Kirchbacher/Rami aaO Rz 15 f; Hinterhofer/Oshidari aaO Rz 7.752).
Dass daher die angeklagte Tat mittlerweile mehr als 20 Jahre zurückliegt und der Angeklagte gerichtlich unbescholten ist, ändert mit Blick auf die konkrete inkriminierte Tatbegehung und den hohen Schaden, der die Wertqualifikation des § 133 Abs 2 zweiter Fall StGB deutlich übersteigt, nichts daran, dass die Festnahme zur Bedeutung der Sache nicht außer Verhältnis steht. Das sehr lange Zurückliegen der Tat und der bisher ordentliche Lebenswandel des Angeklagten wären im Falle einer Verurteilung „lediglich“ gewichtige Milderungsgründe bei der Strafbemessung. Die zu erwartende Strafe ist aber - wie bereits ausgeführt - kein Kriterium der Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Festnahme.
Eine Substitution der Festnahme durch gelindere Mittel iSd § 173 Abs 5 StPO ist im Gesetz nicht vorgesehen (RIS-Justiz RS0131863). Gemäß § 5 Abs 2 erster Satz StPO haben aber (Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaft und) Gerichte unter mehreren zielführenden Zwangsmaßnahmen jene zu ergreifen, welche die Rechte der Betroffenen am geringsten beeinträchtigen.
Die vom Vorsitzenden des Schöffengerichts am 15.12.2021 angeordnete, am 27.6.2022 zunächst widerrufene und sodann am 29.8.2022 erneut angeordnete Personenfahndung nach § 168 Abs 1 StPO durch Ausschreibung des Angeklagten zur Aufenthaltsermittlung im Inland gemäß § 169 Abs 1 StPO (ON 214, 227 und 236) ist entgegen der Ansicht des Erstgerichts keine geeignete und damit zielführende Maßnahme, um das weitere Entziehen des Angeklagten vor dem Strafverfahren zu verhindern. Im Übrigen konnte diese Maßnahme den Angeklagten bis dato nicht dazu bewegen, sich dem Hauptverfahren zu stellen. Dasselbe trifft auf den vom Erstgericht ins Treffen geführten § 14 Abs 1 Z 3 lit a PassG zu, der lediglich einen Versagungsgrund für die Ausstellung, die Erweiterung des Geltungsbereichs und die Änderung des Reisepasses normiert.
Ob auch die Voraussetzungen der Untersuchungshaft nach § 173 StPO vorliegen, ist bei der Entscheidung über einen Antrag auf Festnahme der weiteren Ansicht des Erstgerichts zuwider ebenfalls unerheblich. Dasselbe trifft auf die weitere Argumentation des Erstgerichts zu, wonach die Hauptverhandlung infolge mehrfacher Ankündigung des in der Schweiz wohnhaften Zeugen C*, Ladungen zu Verhandlungen nicht Folge zu leisten, nicht unverzüglich durchgeführt werden könne (vgl im Übrigen §§ 247a Abs 2 und § 252 Abs 1 Z 1 StPO).
Es liegen daher in Übereinstimmung mit der Beschwerde, jedoch entgegen der Äußerung des Angeklagten sämtliche Voraussetzungen für die Erlassung einer Festnahmeanordnung wegen Fluchtgefahr nach § 170 Abs 1 Z 2 StPO vor, weshalb in Stattgebung der Beschwerde die Festnahme des Angeklagten aus dem genannten Haftgrund durch das Oberlandesgericht anzuordnen war, weil dem Angeklagten rechtliches Gehör zur Beschwerde (§ 6 StPO) eingeräumt wurde (vgl § 89 Abs 2a Z 4 StPO).
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