OGH 2Ob47/25p

OGH2Ob47/25p29.4.2025

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Musger als Vorsitzenden sowie die Hofräte MMag. Sloboda, Dr. Thunhart und Dr. Kikinger und die Hofrätin Mag. Fitz als weitere Richterin und weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei M*, vertreten durch Mag. Franz Hofmann, Rechtsanwalt in Vöcklabruck, und der Nebenintervenientin auf Seiten der klagenden Partei Marktgemeinde S*, vertreten durch Mag. Stefan Weidinger, Rechtsanwalt in Scharnstein, gegen die beklagten Parteien 1. N*, und 2. W*, beide vertreten durch Mag. Georg Lampl, Rechtsanwalt in Vorchdorf, wegen 7.912,44 EUR sA, über die Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Landesgerichts Wels als Berufungsgericht vom 2. Oktober 2024, GZ 22 R 39/24b‑32, womit in Folge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Bezirksgerichts Gmunden vom 20. Dezember 2023, GZ 3 C 272/23w‑25, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0020OB00047.25P.0429.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Schadenersatz nach Verkehrsunfall

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagten Parteien sind schuldig, der klagenden Partei und ihrer Nebenintervenientin die mit jeweils 1.100,52 EUR bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung (darin enthalten 183,42 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Am 24. Februar 2023 kam es im Ortsgebiet im Bereich einer übersichtlichen Kreuzung zu einem Verkehrsunfall zwischen einem vom Kläger gelenkten Audi und einem vom Erstbeklagten gelenkten und bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten VW.

[2] Auf der durch das Ortsgebiet führenden Bundesstraße war zum Unfallzeitpunkt eine Großbaustelle eingerichtet. Nach einer Verordnung der zuständigen Bezirkshauptmannschaft sollte das Befahren der Bundesstraße in beiden Richtungen „mit der Zusatztafel ‚Zufahrt bis zur Baustelle gestattet‘“ verboten sein. Für Fahrzeuge über 3,5 Tonnen verordnete die Bezirkshauptmannschaft ein Fahrverbot mit der Zusatztafel „ausgenommenen Linienbusse und Müllabfuhr sowie Ziel und Quellverkehr in den Gemeinden S* und G*“.

[3] Tatsächlich waren vor Ort neben der Baustelle am linken Straßenrand Verbotszeichen nach § 52 lit a Z 1 StVO („Fahrverbot [in beiden Richtungen]“) ohne Zusatztafel (§ 54 StVO) aufgestellt. Es waren allerdings (bei Annäherung aus Richtung G*) sowohl „bei der Baustelle“ als auch im davor gelegenen Bereich der ausgeschilderten Umleitung jeweils großformatige Hinweistafeln mit der Aufschrift „Zufahrt bis Raika, [Apotheke], Zufahrt zu den Geschäften bis zur Baustelle möglich“ vorhanden. Bei der ebenfalls aufgestellten „Fahrverbotstafel für Fahrzeuge mit einem Gesamtgewicht über 3,5 Tonnen“ (gemeint: Verbotszeichen nach § 52 lit a Z 9c StVO) befand sich eine Zusatztafel mit der Aufschrift: „Ausgenommen Linienbusse und Müllabfuhr sowie Ziel‑ und Quellverkehr in den Gemeinden S* und G*“.

[4] Der Kläger befuhr die Bundesstraße aus Richtung G* kommend im Baustellenbereich, um zu seinem Arbeitsplatz in der Apotheke im Ortszentrum zu gelangen. Nach Dienstschluss befuhr er die Bundesstraße im Baustellenbereich mit 20 km/h in die Gegenrichtung, um das Ortszentrum wieder verlassen zu können. Der Erstbeklagte näherte sich der Kreuzung mit der Bundesstraße (aus Fahrtrichtung des Klägers gesehen) von links kommend in einer Straße an, die durch das Vorrangzeichen nach § 52 lit c Z 23 StVO („Vorrang geben“) abgewertet war. Er wollte die Bundesstraße überqueren und fuhr in einem Zug mit 15 km/h in die Kreuzung ein. Er rechnete wegen der Baustelle nicht mit (aus seiner Sicht) von rechts kommendem Verkehr. Als die Unfallbeteiligten erkennen konnten, dass der Unfallgegner vor der Kreuzung nicht anhalten werde, war ihnen keine unfallvermeidende Reaktion mehr möglich.

[5] Der Kläger begehrte die Zahlung von 7.912,44 EUR sA an Schadenersatz (Reparaturkosten und unfallkausale Nebenspesen). Der Erstbeklagte habe eine Vorrangverletzung zu verantworten. Es habe nur ein beschränktes Fahrverbot bestanden, der Kläger habe zu seiner Arbeitsstelle in der Apotheke zu‑ und abfahren dürfen.

[6] Die Nebenintervenientin betonte, dass die Vorrangregelung im Kreuzungsbereich aufgrund des nur beschränkten Fahrverbots nicht aufgehoben gewesen sei.

[7] Die Beklagten wandten das Alleinverschulden des Klägers ein, weil dieser einen mit allgemeinem Fahrverbot belegten Bereich befahren habe. Zusatztafeln seien nicht vorhanden gewesen. Der Erstbeklagte habe nicht mit von rechts kommenden Fahrzeugen rechnen müssen. Außerdem sei der Kläger aus einer nach § 19 Abs 6 StVO benachrangten Verkehrsfläche gekommen.

[8] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Im Bereich der Bundesstraße habe ein allgemeines Fahrverbot gegolten, die von der Nebenintervenientin aufgestellten, großformatigen Schilder hätten keine rechtliche Wirkung. Der Erstbeklagte habe darauf vertrauen dürfen, dass sich von rechts kein Fahrzeug nähern werde, und damit keine Vorrangverletzung zu verantworten. Der Kläger habe das allgemeine Fahrverbot verletzt.

[9] Das Berufungsgericht gab dem Klagebegehren im Wesentlichen statt. Jeder Verkehrsteilnehmer dürfe auf ordnungsgemäße Beschilderung und der Beschilderung entsprechendes Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer vertrauen. Der Kläger habe sich aufgrund der „Hinweis‑ bzw Zusatztafeln“ darauf verlassen dürfen, dass er zur Apotheke zu- und wieder abfahren dürfe. Es habe nur ein beschränktes Fahrverbot bestanden. Der Erstbeklagte habe mit Verkehr aus dem Baustellenbereich rechnen müssen und daher eine Vorrangverletzung zu verantworten. Der Kläger habe keine Verkehrsfläche iSd § 19 Abs 6 StVO benützt.

[10] Die ordentliche Revision ließ das Berufungsgericht nachträglich zu, weil keine Rechtsprechung zur Frage vorliege, ob bei Gestattung bloß der Zufahrt zu einzelnen Örtlichkeiten auch mit abfahrenden Fahrzeugen in die Gegenrichtung gerechnet werden müsse.

[11] Die Revision der Beklagten strebt eine Abänderung im Sinn der Abweisung des Klagebegehrens an, hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[12] Der Kläger und die Nebenintervenientin beantragen jeweils, die Revision mangels erheblicher Rechtsfrage zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[13] Die Revision ist zur Klarstellung zulässig, aber nicht berechtigt.

[14] Die Beklagten argumentieren, dass aufgrund der aufgestellten Verkehrszeichen ein allgemeines Fahrverbot gegolten habe und der Erstbeklagte daher darauf vertrauen habe dürfen, dass von rechts kein Fahrzeug kommen werde. Verbindliche Zusatztafeln iSd § 54 StVO seien nicht angebracht gewesen, lediglich ein weiteres, gesondertes Schild habe eine Einschränkung des Fahrverbots enthalten. Die von der Gemeinde aufgestellte Tafel habe aber nur eine „Zufahrt“, nicht auch eine „Abfahrt“ betroffen. Das Berufungsgericht sei insoweit von den Feststellungen des Erstgerichts abgewichen.

[15] 1. Eine für den Verfahrensausgang relevante Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahren liegt – wie der Oberste Gerichtshof geprüft hat – nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO). Zwar trifft es zu, dass die von der Gemeinde aufgestellten Tafeln nur eine „Zufahrt“ ermöglichen sollen. Auf Grundlage der Beilage ./F, die im Revisionsverfahren ohne Weiteres verwertet werden kann (RS0121557), kann allerdings der weiteren rechtlichen Beurteilung zu Grunde gelegt werden, dass ein Durchfahren des Ortsgebiets auf der Bundesstraße gar nicht möglich war. Ausgehend davon muss in Ermangelung von Alternativen das Erlauben der „Zufahrt“ auch die Möglichkeit zur „Abfahrt“ umfassen.

[16] 2. Der Lenker eines Fahrzeugs, das aus einer Straße mit allgemeinem Fahrverbot kommt, kann für sich keinen Vorrang in Anspruch nehmen, weil er damit rechnen muss, dass die Lenker anderer Fahrzeuge darauf vertrauen, dass aus dieser Straße kein Fahrzeug kommt (RS0073385; RS0073439). Dieser Grundsatz gilt aber nicht bei einem eingeschränkten Fahrverbot, weil sich in diesem Fall kein Verkehrsteilnehmer darauf verlassen kann, dass auf solchen Verkehrsflächen innerhalb der durch die Einschränkung des Fahrverbots gezogenen Grenzen kein Fahrzeugverkehr stattfindet (2 Ob 95/89; 2 Ob 11/81; vgl RS0074545).

[17] 3. Durch das Befahren des Baustellenbereichs ungeachtet der am linken Straßenrand aufgestellten Verbotszeichen nach § 52 lit a Z 1 StVO („Fahrverbot [in beiden Richtungen]“) ohne Zusatztafel (§ 54 StVO) hat der Kläger aus folgenden Gründen nicht rechtswidrig gehandelt:

3.1. Die Kundmachung der – im Übrigen entgegen § 48 Abs 2 StVO nur am linken Straßenrand aufgestellten (vgl VwGH 85/02/0240 und 88/17/0139) – Verbotszeichen nach § 52 lit a Z 1 StVO war nicht durch die Verordnung der Bezirkshauptmannschaft gedeckt, die nur ein beschränktes Fahrverbot mit entsprechender Zusatztafel („Zufahrt bis zur Baustelle gestattet“) verfügt hatte. Die Anordnung „Zufahrt bis zur Baustelle gestattet“ hätte ein Verkehrsteilnehmer dahin verstehen dürfen, dass er in den Bereich der Baustelle (bis zur faktischen Totalsperre der Straße) einfahren und auch wieder zurückfahren kann.

[18] 3.2. Auf die Geltung aufgestellter Verkehrszeichen muss sich grundsätzlich jedermann verlassen können (RS0075190). Die Verkehrsteilnehmer müssen damit rechnen, dass sich andere Verkehrsteilnehmer den Verkehrszeichen entsprechend verhalten werden, sofern dadurch ein dem gebotenen Verhalten entsprechendes Recht eines anderen Verkehrsteilnehmers zum Ausdruck kommt und der andere Verkehrsteilnehmer auch Grund zur Annahme hat, es stehe ihm ein derartiges Recht zu. Ob ein ohne Deckung durch eine Verordnung aufgestelltes – daher an sich ungültiges – Verkehrszeichen aus Gründen der Verkehrssicherheit zu beachten ist, hängt daher davon ab, ob dadurch ein dem gebotenen Verhalten entsprechendes Recht eines anderen Verkehrsteilnehmers zum Ausdruck kommt (2 Ob 133/20b Rz 18 f mwN). Dies hat der Senat bei Vorrangzeichen und dem Verbotszeichen „Wartepflicht bei Gegenverkehr“ (§ 52 lit a Z 5 StVO) bejaht, bei Geschwindigkeitsbeschränkungen allerdings verneint (vgl RS0075296).

[19] 3.3. Durch das Verbotszeichen nach § 52 lit a Z 1 StVO („Fahrverbot [in beiden Richtungen]“) kommt kein zum gebotenen Verhalten korrespondierendes Recht eines anderen Verkehrsteilnehmers zum Ausdruck, sodass dem Kläger der Verstoß gegen die ohne Deckung durch entsprechende Verordnung kundgemachten Verbotszeichen im Verhältnis zum Erstbeklagten nicht angelastet werden kann. Der Erstbeklagte durfte im Übrigen auch im Hinblick auf das für ihn deutlich erkennbar angebrachte, nicht verhüllte (negative) Vorrangzeichen nicht auf ein entsprechendes Recht (seinen Vorrang) vertrauen (vgl 2 Ob 27/04s).

[20] 4. Mit der ausführlich begründeten Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass die vom Kläger befahrene Straße nicht gemäß § 19 Abs 6 StVO benachrangt war, setzt sich die Revision nicht auseinander, sodass diese Frage einer Überprüfung durch den Obersten Gerichtshof entzogen ist.

[21] 5. Insgesamt hat das Berufungsgericht dem Erstbeklagten damit zutreffend eine Vorrangverletzung zur Last gelegt, sodass der Revision nicht Folge zu geben war.

[22] 6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 41 iVm § 50 ZPO.

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