OGH 10ObS21/25y

OGH10ObS21/25y24.4.2025

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden und den Vizepräsidenten Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi und den Hofrat Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Anja Pokorny (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Wolfgang Kozak(aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A*, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen, 1051 Wien, Wiedner Hauptstraße 84–86, vertreten durch Dr. Eva‑Maria Bachmann‑Lang und Dr. Christian Bachmann, Rechtsanwälte in Wien, wegen Kinderbetreuungsgeld, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 30. Jänner 2025, GZ 9 Rs 156/24 p‑24, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:010OBS00021.25Y.0424.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

Die Revisionsbeantwortung der klagenden Partei wird zurückgewiesen.

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Revisionsgegenständlich ist die Frage, ob der Anspruch des Klägers auf Kinderbetreuungsgeld (auch) für den Zeitraum von 15. März 2023 bis 3. April 2023 besteht, obwohl dieser Zeitraum keinen Block von mindestens 61 Tagen im Sinn des § 3 Abs 5 KBGG darstellt.

[2] Der Sohn des Klägers wurde am 9. Jänner 2023 geboren. Seit dem 15. März 2023 ist er an derselben Adresse wie der Kläger hauptwohnsitzlich gemeldet.

[3] Der Kläger wohnte zunächst gemeinsam mit seinem Sohn (und der Mutter) vom 15. März 2023 bis 4. April 2023 in der Wohnung in Wien. Berufsbedingt durch die Tätigkeit der Mutter als Dirigentin (die vom Sohn auf ihren Reisen begleitet werden musste, weil er von ihr gestillt wurde) hatte der Kläger mit seinem Sohn einen Aufenthalt in Frankreich von 4. April 2023 bis 9. Juli 2023 (97 Tage). Danach war der Kläger mit seinem Sohn wieder in der Wohnung in Wien und mehrmals (wieder aufgrund des Berufs der Mutter oder für Besuche von Verwandten) vorübergehend (gemeinsam) im Ausland.

[4] Mit Bescheid vom 12. März 2024 wies die beklagte Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen den Antrag des Klägers vom 15. März 2023 auf Zuerkennung von pauschalem Kinderbetreuungsgeld als Konto für den Zeitraum von 15. März 2023 bis 8. Jänner 2024 ab, weil die persönlichen oder wirtschaftlichen Interessen nicht überwiegend in Österreich lägen und sich keine Wohn‑ und Wirtschaftsgemeinschaft am Wohnsitz des Klägers und des Kindes befinde.

[5] In der dagegen erhobenen Klage begehrt der Kläger – gestützt auf den gemeinsamen Lebensmittelpunkt von Kläger und Kind an der gemeinsam bewohnten Wohnung in Wien, an der beide hauptwohnsitzlich gemeldet seien, sowie auf seinen Beruf – die Zahlung von Kinderbetreuungsgeld im Zeitraum vom 15. März 2023 bis 8. Jänner 2024.

[6] Die Beklagte bestritt und beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Das Beweisverfahren habe ergeben, dass der Kläger seinen Lebensmittelpunkt nicht in Österreich und daher keine Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft am Hauptwohnsitz in Österreich habe, weil er sich in Österreich mit dem Kind seit der Geburt nur etwa 118 Tage, jedoch nicht durchgehend, aufgehalten habe. Dass der Kläger sowie das Kind einen Hauptwohnsitz in Österreich hätten, ändere nichts an dem Umstand, dass es sich hier um keine tatsächliche Wohn‑ und Wirtschaftsgemeinschaft gemeinsam mit dem Kind in Österreich handle.

[7] Das Erstgericht gab der Klage zur Gänze statt. Vorübergehende Abwesenheiten allein stünden dem Vorliegen einer dauerhaften Wohn‑ und Wirtschaftsgemeinschaft zwischen dem kindergeldbeziehenden Elternteil und dem Kind nicht entgegen, weil sie die Wohn‑ und Wirtschaftsgemeinschaft nicht auflösten. Tatsächlich seien der Kläger und das Kind 97 Tage gemeinsam im Ausland gewesen, sodass der gemeinsame Haushalt auch dort bestanden habe, weil der Kläger und sein Sohn nicht voneinander getrennt gewesen seien. Der Mittelpunkt der Lebensinteressen sei zu dieser Zeit stets in Wien gewesen.

[8] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten teilweise Folge. Es bestätigte das Ersturteil im Zuspruch für die Zeiträume von 15. März 2023 bis 3. April 2023 und von 10. Juli 2023 bis 8. Jänner 2024 (in der jeweils zustehenden Höhe). Hinsichtlich des Zeitraums von 4. April 2023 bis 9. Juli 2023 änderte es das Ersturteil dahin ab, dass es das Klagebegehren insoweit abwies. Im Zeitraum von 4. April 2023 bis 9. Juli 2023 sei der Kläger gemeinsam mit dem Kind (für 97 Tage) im Ausland und daher länger als 91 Tage von seinem Hauptwohnsitz in Wien abwesend gewesen. An dieser Adresse habe kein gemeinsamer Haushalt im Sinn des KBGG bestanden.

[9] Gegen den Zuspruch von Kinderbetreuungsgeld im Zeitraum von 15. März 2023 bis 3. April 2023 richtet sich die – nach Freistellung durch den Obersten Gerichtshof beantwortete – außerordentliche Revision der Beklagten mit dem Antrag auf Abänderung der Entscheidungen der Vorinstanzen im Sinn einer Abweisung des Klagebegehrens in diesem Zeitraum; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Rechtliche Beurteilung

[10] Die Revision ist zulässig, aber nicht berechtigt.

[11] 1. Die Freistellung der Revisionsbeantwortung und die Revision wurden dem Kläger am 19. März 2025 (Zustellungszeitpunkt gemäß § 89d Abs 2 GOG) zugestellt. Die vierwöchige Frist zur Einbringung der Revisionsbeantwortung (§ 507a Abs 1 ZPO) lief am 16. April 2025 ab. Die am 17. April 2025 im ERV eingelangte Revisionsbeantwortung des Klägers ist somit als verspätet zurückzuweisen.

[12] 2. Die Beklagte macht geltend, dass das Kinderbetreuungsgeld nach dem eindeutigen Wortlaut des § 3 Abs 5 KBGG stets, also unabhängig von einem Wechsel, jeweils nur in Blöcken von mindestens 61 Tagen beansprucht werden könne und der gegenständliche Bezugsblock von 15. März 2023 bis 3. April 2023 diese Mindestbezugsdauer nicht erreiche.

[13] 2.1. Ausgehend vom Wortlaut des § 3 Abs 5 KBGG wäre die Rechtsansicht der Beklagten zutreffend. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ist die Regelung des § 3 Abs 5 KBGG (in der hier maßgeblichen Fassung BGBl I 2016/53) allerdings überschießend und daher teleologisch dahin zu reduzieren, dass die darin normierte Mindestbezugsdauer ohne Verlust der für den verkürzten Zeitraum zuerkannten Leistungen unterschritten werden kann, wenn der Bezieher von Kinderbetreuungsgeld bei der Antragstellung davon ausgehen konnte, Kinderbetreuungsgeld in der gesetzlichen Mindestdauer beziehen zu können, und es in der Folge aufgrund eines nachträglich eintretenden, nicht in der Ingerenz des Beziehers liegenden Umstands zu einer Verkürzung dieser Frist kommt (10 ObS 192/21i Rz 27 ff; vgl bereits RS0129247 zur Vorgängerbestimmung des § 5 Abs 4 KBGG idF vor BGBl I 2016/53).

[14] 2.2. Es ist daher auch im vorliegenden Fall zu prüfen, ob die Unterschreitung der in § 3 Abs 5 KBGG genannten Mindestfrist für den Anspruch in dem im Revisionsverfahren noch strittigen Zeitraum im Sinn der genannten Rechtsprechung unschädlich ist. Ob dies der Fall ist, richtet sich nach den Gründen für die Unterschreitung der Mindestfrist.

[15] 3. Das Berufungsgericht sah die Anspruchsvoraussetzung des gemeinsamen Haushalts ab 4. April 2023 als nicht mehr gegeben an, weil der Kläger mit dem Kind (wenn auch vorübergehend) länger als 91 Tage vom Hauptwohnsitz abwesend war. Tatsächlich lag die Voraussetzung des gemeinsamen Haushalts aber auch nach diesem Zeitraum weiterhin vor.

[16] 3.1. Die Anspruchsvoraussetzung des § 2 Abs 1 Z 2 KBGG, dass der Elternteil mit dem Kind im gemeinsamen Haushalt lebt, liegt nach § 2 Abs 6 Satz 1 KBGG nur vor, wenn der Elternteil und das Kind in einer dauerhaften (mindestens 91 Tage durchgehend) Wohn‑ und Wirtschaftsgemeinschaft an derselben Wohnadresse leben und beide an dieser Adresse auch hauptwohnsitzlich gemeldet sind. Der gemeinsame Haushalt gilt nach § 2 Abs 6 Satz 3 KBGG bei mehr als 91‑tägiger tatsächlicher oder voraussichtlicher Dauer einer Abwesenheit des Elternteils oder des Kindes als aufgelöst.

[17] 3.2. Zweck des als Familienleistung konzipierten Kinderbetreuungsgeldes ist es, es einem Elternteil zu ermöglichen, sich in der ersten Lebensphase eines Kindes dessen Erziehung zu widmen, die Betreuungs- und Erziehungskosten auszugleichen und gegebenenfalls finanzielle Nachteile, die der Verzicht auf ein (Voll‑)Erwerbseinkommen bedeutet, abzumildern (10 ObS 12/23x Rz 22 ua). Primäre Anspruchsvoraussetzung ist somit die Erbringung von Betreuungsleistungen, wobei der Gesetzgeber davon ausgeht, dass diese von jenem Elternteil erbracht werden, der mit dem Kind einen gemeinsamen Haushalt (§ 2 Abs 1 Z 2 KBGG) führt (10 ObS 69/14s ErwGr 4.2).

[18] 3.3. Aus der Definition des gemeinsamen Haushalts als dauerhafte Wohn‑ und Wirtschaftsgemeinschaft (§ 2 Abs 6 Satz 1 KBGG) ergibt sich, das der Gesetzgeber auf den Regelfall einer auf längere Zeit ausgerichteten gemeinsamen „Wohnung“ von Elternteil und Kind abstellt. Außer dem Erfordernis, dass die mit dem Kind zu führende Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft dauerhaft sein muss, enthält das Gesetz aber keine weiteren Anforderungen an diese Gemeinschaft, etwa in dem Sinn, dass die Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft fortwährend am selben Ort (an derselben Adresse) zu sein hat. Elternteil und Kind müssen lediglich in dieser dauerhaften Wohn‑ und Wirtschaftsgemeinschaft „an derselben Wohnadresse leben“ und beide an dieser Adresse auch hauptwohnsitzlich gemeldet sein. Daraus hat die Rechtsprechung (zu § 2 Abs 6 KBGG idF BGBl I 2009/116) abgeleitet, dass auch wechselnde Unterkunftnahmen eines Elternteils mit dem Kind als „gemeinsamer Haushalt“ im Sinn des § 2 Abs 1 Z 2 KBGG zu qualifizieren sind, sofern beide an der gemeinsamen Adresse auch hauptwohnsitzlich gemeldet sind (10 ObS 69/14s ErwGr 4.2 und 4.3).

[19] 3.4. Für die Bestimmung des Begriffs der „Wohnadresse“, an der Elternteil und Kind in einer dauerhaften Wohn‑ und Wirtschaftsgemeinschaft nach § 2 Abs 6 Satz 1 KBGG leben und hauptwohnsitzlich gemeldet sein müssen, ist der Wohnungsbegriff des § 1 Abs 4 MeldeG maßgeblich (in diesem Sinn vgl schon 10 ObS 69/14s ErwGr 4.3 zum Hauptwohnsitzbegriff im KBGG), weil insbesondere die Unterkunftnahme in einer Wohnung die Meldepflicht auslöst (§ 3 Abs 1 MeldeG). Daran knüpft wieder die Bestimmung des Wohnsitzes oder Hauptwohnsitzes eines Menschen an (vgl 10 ObS 161/21f Rz 20 [zum insofern vergleichbaren § 2 Abs 3 FamZeitbG]). Die Voraussetzung des § 2 Abs 6 Satz 1 KBGG, dass der Elternteil und das Kind an derselben „Wohnadresse leben“ müssen, verdeutlicht daher (nur), dass beide an derselben Adresse Unterkunft genommen und dort ihren Hauptwohnsitz haben müssen.

[20] Der Hauptwohnsitz ist nach § 1 Abs 7 MeldeG an einer Unterkunft begründet, an der er sich in der erweislichen oder aus den Umständen hervorgehenden Absicht niedergelassen hat, diese zum Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen zu machen. Tatsächliche Abwesenheiten von der Unterkunft können, müssen den Hauptwohnsitz aber nicht berühren. Das Fortbestehen eines Hauptwohnsitzes im Sinn des § 1 Abs 7 MeldeG hängt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs bei Ortsabwesenheit davon ab, ob – neben der (subjektiven) Absicht, den bisherigen Hauptwohnsitz weiterhin an diesem Ort zu haben – zu diesem Ort (objektiv) Beziehungen aufrecht erhalten werden, die bei einer Gesamtbetrachtung der beruflichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebensumstände den Schluss rechtfertigen, eine Person habe an diesem Ort weiterhin ihren Lebensmittelpunkt (VwGH Ra 2023/10/0016 Rz 19; 2009/03/0039; vgl auch 2012/21/0088). Vorübergehende Ortsabwesenheiten, die am Lebensmittelpunkt der Person nichts ändern, führen daher nicht zu einer Veränderung des Hauptwohnsitzes, sodass die Person im Sinn des § 2 Abs 6 Satz 1 KBGG weiterhin an der bisherigen Wohnadresse lebt.

[21] 3.5. Es gibt daher zwei Fälle, in denen der Elternteil mit dem Kind die Unterkunft wechselt, die Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft und damit der gemeinsame Haushalt im Sinn des § 2 Abs 1 Z 2 KBGG aber nicht berührt werden.

[22] 3.5.1. Erstens können der Elternteil und das Kind ihren Hauptwohnsitz dauerhaft auf eine andere Wohnadresse verlegen, an der sie nun (weiter) gemeinsam leben. Dieser Fall ist nach dem Wortlaut des § 2 Abs 6 Satz 1 KBGG und der zitierten Rechtsprechung unproblematisch, weil der gemeinsame Haushalt nicht voraussetzt, dass sich dieser fortwährend am selben Ort befindet. Zu beachten ist nur, dass es nach Wechsel des Hauptwohnsitzes nach § 2 Abs 6 Satz 1 KBGG einer (rechtzeitigen) hauptwohnsitzlichen Meldung von Elternteil und Kind an der (neuen) Adresse bedarf.

[23] 3.5.2. Zweitens können der Elternteil und das Kind bloß vorübergehend von der Wohnadresse, an der sie in einer Wohn‑ und Wirtschaftsgemeinschaft leben, abwesend sein und an einer anderen Adresse Unterkunft nehmen, etwa wenn der Elternteil das Kind an einem Urlaubsort (weiter) betreut. In diesem Fall bleibt der Hauptwohnsitz an der bisherigen (gemeinsamen) Wohnadresse aufrecht.

[24] 3.6. Dem Wortlaut des § 2 Abs 6 Satz 1 KBGG könnte zwar auch der Inhalt zugemessen werden, dass eine Betreuung des Kindes durch den Elternteil durchgehend am Hauptwohnsitz zu erfolgen hat (vgl Burger‑Ehrnhofer, Kinderbetreuungsgeldgesetz und Familienzeitbonusgesetz³ [2017] § 2 KBGG Rz 32 und § 2 FamZeitbG Rz 20, nach der die Situation von Eltern nicht gelöst sei, die ihr Kind nicht durchgehend am Hauptwohnsitz betreuten, und in diesem Fall „streng genommen“ eine Anspruchsvoraussetzung fehle). Das würde aber dem Ziel der Regelung, durch das Abstellen auf die „hauptwohnsitzliche Meldung“ den Nachweis des gemeinsamen Lebensmittelpunkts zu standardisieren und dadurch den Krankenversicherungsträger und die Eltern durch eine leicht handhabbare Regelung zu entlasten (10 ObS 41/19f ErwGr 2.5. mit Verweis auf die ErläutRV 340 BlgNR 24. GP  9), zuwiderlaufen. Denn die angestrebte leichte Administrierbarkeit (vgl VfGH G 121/2016 = VfSlg 20.096 ErwGr IV.2.2.5.), träte gerade nicht ein, wenn im Fall einer Ortsabwesenheit, die nicht zur Änderung des Hauptwohnsitzes (und damit auch zu keiner Änderung der Meldung) führt, dennoch das weitere Bestehen eines gemeinsamen Haushalts geprüft werden müsste. Angesichts dessen ist daher der (nach dem Wortlaut möglichen) Deutung des § 2 Abs 6 Satz 1 KBGG der Vorzug zu geben, dass die dauerhafte Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft vorübergehend auch an einem anderen Ort als dem gemeinsamen Hauptwohnsitz weiterbestehen kann.

[25] 3.7. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts steht dem § 2 Abs 6 Satz 3 KBGG nicht entgegen.

[26] Denn der in § 2 Abs 6 Satz 1 KBGG in Klammer angeführte Zeitraum von mindestens 91 Tagen bezieht sich grammatikalisch auf die Wohn‑ und Wirtschaftsgemeinschaft, die nach den obigen Ausführungen durch einen Wechsel der Unterkunft des Elternteils mit dem Kind nicht berührt wird. Nach § 2 Abs 6 Satz 3 KBGG führt – mit Blick auf § 2 Abs 6 Satz 1 KBGG konsequent – (nur) eine Abwesenheit des Elternteils oderdes Kindes (nicht aber beider) von mehr als 91‑tägiger tatsächlicher oder voraussichtlicher Dauer zur Auflösung des gemeinsamen Haushalts, weil es um die Auflösung der Gemeinschaft infolge Abwesenheit der einen Person von der anderen geht und nicht um Abwesenheiten von einem bestimmten Ort. Der Fall, in dem Elternteil und Kind (gemeinsam) von der Wohnadresse (an der sie leben und hauptwohnsitzlich gemeldet sind) abwesend sind, ist von dieser Bestimmung daher nicht erfasst. Nehmen der Elternteil und das Kind daher gemeinsam an einer anderen Adresse Unterkunft, bleibt die Wohn‑ und Wirtschaftsgemeinschaft vielmehr unverändert aufrecht, auch wenn die Abwesenheit von Elternteil und Kind von der bisherigen Unterkunft länger als 91 Tage dauert. Der gemeinsame Haushalt im Sinn des § 2 Abs 6 Satz 1 KBGG stünde in einem solchen Fall (erst) dann in Frage, wenn (etwa infolge der längeren Dauer der Abwesenheit) der Hauptwohnsitz an einer anderen Unterkunft begründet wird und die beiden dort nicht hauptwohnsitzlich gemeldet sind.

[27] 4. Nach dem festgestellten Sachverhalt wechselten der Kläger und das Kind am 4. April 2023 (gemeinsam) die Unterkunft, weil sie sich von 4. April 2023 bis 9. Juli 2023 in Frankreich (offenkundig in derselben Unterkunft) aufhielten. Dass diese (gemeinsame) Abwesenheit länger als 91 Tage dauerte, ist nach den obigen Ausführungen irrelevant, weil die tatsächliche Wohn‑ und Wirtschaftsgemeinschaft (auch in Frankreich) weiterhin aufrecht war und § 2 Abs 6 Satz 3 KBGG diesen Fall nicht erfasst.

[28] Allenfalls könnte die konkrete Aufenthaltsveränderung die zweite Voraussetzung des § 2 Abs 6 Satz 1 KBGG – das Vorliegen der hauptwohnsitzlichen Meldung an der gemeinsamen Wohnadresse – berühren. Dass der Kläger und das Kind durch diesen Auslandsaufenthalt (von 97 Tagen) ihren Hauptwohnsitz an ihrer bisherigen Wohnadresse in Wien aufgegeben und dementsprechend nach Frankreich verlegt hätten (was gegebenenfalls zur Prüfung Anlass gegeben hätte, ob dort ein dem österreichischen Melderecht vergleichbares System existiert, nach dem dem Kläger und dem Kind die Meldung oder Registrierung des Hauptwohnsitzes möglich gewesen wäre [RS0132841]), behauptet die Beklagte (wie schon in erster Instanz) nicht. Die festgestellten Gründe für die Abwesenheit von Kläger und Kind von der bisherigen Unterkunft in Wien (die Berufstätigkeit der Mutter, die das Kind stillte), geben auch keine Anhaltspunkte dafür, dass andernorts eine solche Nahebeziehung bestand, dass der Hauptwohnsitz an der bisherigen Adresse in Wien nicht aufrechterhalten worden wäre. Aus diesem Grund war auch die Voraussetzung der hauptwohnsitzlichen Meldung im Sinn des § 2 Abs 6 Satz 1 KBGG erfüllt.

[29] 5. Das Vorliegen der weiteren Anspruchsvoraussetzungen des § 2 Abs 1 KBGG wurde von der Beklagten schon in der Berufung nicht in Zweifel gezogen. Entgegen der Beurteilung des Berufungsgerichts hätte daher im gesamten Zeitraum vom 15. März 2023 bis 8. Jänner 2024 ein Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld bestanden.

[30] 5.1. Da die Abweisung des Klagebegehrens durch das Berufungsgericht hinsichtlich des Zeitraums vom 4. April 2023 bis 9. Juli 2023 mangels Erhebung eines Rechtsmittels durch den Kläger in Rechtskraft erwuchs, entfaltet diese Entscheidung für den Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld in diesem Zeitraum zwar Bindungswirkung. Die für die Notwendigkeit der Einhaltung der Frist des § 3 Abs 5 KBGG relevanten Fragen, ob der Kläger – im Sinn der oben genannten Rechtsprechung – bei der Antragstellung davon ausgehen konnte, Kinderbetreuungsgeld in der gesetzlichen Mindestdauer beziehen zu können, und warum es in der Folge zu einer Verkürzung dieser Frist gekommen ist, wurden damit nicht (als Hauptfrage) entschieden.

[31] 5.2. Tatsächlich konnte der Kläger bei der sich aus dem festgestellten Sachverhalt ergebenden Sachlage davon ausgehen, dass die Voraussetzungen des § 2 Abs 1 Z 2 (iVm Abs 6) KBGG erfüllt sind und er daher in einer die Frist des § 3 Abs 5 KBGG übersteigenden Dauer Kinderbetreuungsgeld beziehen würde können. Es kam erst aufgrund der – insofern unrichtigen, wenn auch in Rechtskraft erwachsenen – Entscheidung des Berufungsgerichts zu einer Unterschreitung der Frist des § 3 Abs 5 KBGG. Der Gefahr einer Umgehung der Zuverdienstgrenze muss bei Elternteilen, die Kinderbetreuungsgeld ohnehin in einer 61 Tage übersteigenden Dauer beantragen und nur aufgrund einer nachfolgenden Fehlbeurteilung durch Verwaltungsbehörde oder Gericht nicht in dieser Dauer erhalten, nicht vorgebeugt werden. In dieser Konstellation spricht auch das legitime Interesse, unnötigen Prüfaufwand hintanzuhalten, nicht gegen eine Ausnahme von der Mindestbezugsdauer, entsteht der Aufwand doch schon durch den auf den (berechtigten) Bezug im beantragten Ausmaß gerichteten Antrag (10 ObS 192/21i Rz 31).

[32] 6. Die Unterschreitung der Mindestbezugsdauer des § 3 Abs 5 KBGG allein aufgrund der rechtskräftigen Verneinung des Anspruchs im nachfolgenden Zeitraum durch das Berufungsgericht schadet dem noch revisionsgegenständlichen Anspruch des Klägers somit nicht. Der Revision der Beklagten war daher nicht Folge zu geben.

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