OGH 8Ob32/25a

OGH8Ob32/25a25.4.2025

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Tarmann‑Prentner als Vorsitzende sowie die Hofräte MMag. Matzka, Dr. Stefula, Dr. Thunhart und Mag. Dr. Sengstschmid als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Am*, vertreten durch Dr. Gernot Gasser, Rechtsanwalt in Lienz, als Verfahrenshelfer, gegen die beklagte Partei Al*, Deutschland, vertreten durch Dr. Franz Unterasinger, Rechtsanwalt in Graz, wegen Ehescheidung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 22. November 2024, GZ 3 R 151/24p‑38.3, womit das Urteil des Bezirksgerichts Lienz vom 27. Mai 2024, GZ 1 C 22/23b‑33, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0080OB00032.25A.0425.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache wird an das Erstgericht zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Die Parteien sind Cousine und Cousin, beide sind afghanische Staatsangehörige. Die Ehe zwischen den beiden war von der Familie arrangiert worden; als die Klägerin 13 Jahre alt war, teilte ihr die Familie mit, dass sie reif für die Ehe sei und den Beklagten heiraten müsse. Sie war damit nicht einverstanden. Als die Klägerin zwei Jahre später Hochzeitsvorbereitungen bemerkte und ihr gesagt wurde, es gehe um ihre Hochzeit, weinte sie und wollte nicht heiraten. Ihr wurde mit Nachdruck erklärt, dass sie den Beklagten zu heiraten habe. Ihre Mutter riss sie an den Haaren, „es wurde Gewalt gegen die Klägerin ausgeübt, damit sie der Eheschließung zustimmt“. Sie hätte „aufgrund des gegen sie ausgeübten familiären und sozialen Zwanges keine Möglichkeit gehabt, die Eheschließung zu verweigern, welche durchgeführt wurde, ohne dass die Klägerin aus freien Stücken zustimmte“. Die Ehe wurde am 23. 7. 2013 – die Klägerin war damals 15 Jahre, der Beklagte 20 Jahre alt – im Iran, wo die beiden lebten, vor einem vom Vater des Beklagten beauftragten und bezahlten Mullah nach muslimischem religiösen Ritus geschlossen; der Mullah sprach ein Vermählungsgebet aus dem Koran und kurze Verse, wobei er die Parteien mit diesem Gebet nach muslimischem Ritus gültig vermählte. Anwesend waren neben dem Mullah und den Parteien die Eltern des Beklagten sowie die Mutter der Klägerin und deren Mann (Stiefvater der Klägerin; ihr leiblicher Vater war Jahre zuvor verstorben). Beide Parteien unterfertigten eine Heiratsurkunde, welche im Iran abgesondert für dort lebende afghanische Einwanderer, die dort heiraten, ausgestellt wird und die einzige Möglichkeit ist, offiziell eine Ehe einzugehen. Eine Eintragung in ein offizielles Register wurde nicht vorgenommen.

[2] Die Streitteile wohnten in der Folge wie ein Ehepaar bzw eine Familie gemeinsam in häuslicher Gemeinschaft; der Verbindung entstammt der * 2014 im Iran geborene mj M*, der ebenfalls afghanischer Staatsbürger ist. Die Parteien gelangten mit ihrem Sohn 2019 nach Griechenland, wo sie Asylanträge stellten.Der Beklagte war bereits im Iran wiederholt gegen die Klägerin gewalttätig gewesen, was sich in Griechenland ihr und auch dem Kind gegenüber steigerte. Da die Streitteile weiterhin zusammenwohnen wollten und sich die Klägerin nicht gleich vom Beklagten trennen wollte, sondern ihm noch eine Chance geben wollte, versöhnten sich die Streitteile vorerst. Im November 2019 wurde der Beklagte jedoch neuerlich mehrmals gewalttätig gegen die – dadurch auch verletzte – Klägerin und das Kind, woraufhin die Parteien von den griechischen Behörden in verschiedenen Flüchtlingslagern untergebracht wurden. Nachdem der Beklagte der Klägerin in der Folge das Kind entrissen und mehrere Monate vorenthalten hatte, erwirkte sie im Juli 2020 eine einstweilige Verfügung, mit welcher sie mit der vorläufigen alleinigen Obsorge betraut und ein Annäherungsverbot gegen den Beklagten zu Gunsten der Klägerin und des Kindes ausgesprochen wurde. Die Klägerin reiste in der Folge über Serbien nach Österreich (wo sie nunmehr wohnt), während der Beklagte vorerst im griechischen Flüchtlingslager verblieb und in der Folge nach Deutschland gelangte, wo er wohnt.

[3] Die Klägerin begehrt die Scheidung der aus dem alleinigen Verschulden des Beklagten unheilbar zerrütteten, im Wege einer „Zwangsverheiratung“ geschlossenen Ehe. Sie gehe davon aus, dass das dauernde Ehehindernis der Blutsverwandtschaft bei den Parteien nicht vorliege. Sie wisse nicht, ob das Ehehindernis der mangelnden Ehemündigkeit bestehe und ob durch den Vollzug der Ehe über das Ehemündigkeitsalter hinaus ein allfälliger Mangel geheilt wäre und somit eine unheilbar nichtige Ehe vorliege oder nicht. Sie erhob zwei Eventualbegehren dahin, dass die Ehe 1. für nichtig erklärt und 2. aufgehoben werde.

[4] Der Beklagte bestritt, die Klägerin geheiratet zu haben; hilfsweise trage die Klägerin das alleinige (hilfsweise überwiegende, hilfsweise gleichteilige) Verschulden an der Zerrüttung der Ehe. Es sei keine gültige Eheschließung vollzogen worden; hilfsweise sei von einer Blutsverwandtschaft zwischen den Parteien auszugehen, was ein Ehehindernis sei. Bei der Klägerin liege zudem das Ehehindernis der mangelnden Ehemündigkeit vor, weil sie zum Zeitpunkt der behaupteten Eheschließung 15 Jahre alt gewesen, eine Ehe vor Vollendung des 16. Lebensjahres aber nicht zulässig sei; nach „den österreichischen gesetzlichen Regelungen, nach afghanischem Recht und nach der internationalen Usance“ handle es sich um eine Kinderehe, die „rechtlich nicht wirksam und gültig“ wäre. Daher werde ein Zwischenantrag auf Feststellung gestellt, die beurkundete Ehe für ungültig zu erklären und das Klagebegehren abzuweisen. Die Scheidungsklage sei unzulässig. Sollte wider Erwarten die Eheschließung gültig erfolgt sein und sollten den Beklagten Eheverfehlungen treffen, was bestritten werde, würden Verzeihung und Verfristung eingewandt.

[5] Das Erstgericht wies das Haupt- und die Eventualbegehren der Klägerin ab, gab aber dem Zwischenfeststellungsantrag des Beklagten statt und stellte urteilsmäßig fest, dass die zwischen den Parteien geschlossene Ehe eine Nichtehe sei. Nach dem anzuwendenden afghanischen Recht sei das Mindestalter für eine Eheschließung zwar 16 Jahre, allerdings könnte die Ehe von 15‑jährigen Mädchen durch den Vater oder das Gericht geschlossen werden; unter 15 Jahren sei die Eheschließung unzulässig. Mit Vollendung des 17. Lebensjahres sei die Aufhebung der Ehe wegen Eheunmündigkeit nicht mehr zulässig. Allerdings widerspreche eine Zwangsverheiratung einer 15‑Jährigen gegen ihren Willen und ohne ihre Zustimmung dem österreichischen ordre public, was die Anwendung afghanischen Rechts ausschließe. Eine allfällige Heilung der Nichtigkeit der mangelnden Ehefähigkeit nach § 22 Abs 2 EheG komme nicht in Betracht, weil nicht nur eine Kinderehe, sondern auch eine Zwangsehe vorliege. Mangels Konsenserklärung der Klägerin bestehe nicht einmal der äußere Anschein einer Ehe und liege keine Eheschließung vor.

[6] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin – welche wegen „Rechtswidrigkeit des Inhaltes“ beantragt hatte, das Urteil aufzuheben und in der Sache selbst dahin zu entscheiden, dass (abweichend vom erstinstanzlichen Klagebegehren) primär dem 1. Eventualbegehren (auf Nichtigerklärung), hilfsweise dem 2. Eventualbegehren (auf Aufhebung) und erst in eventu dem Hauptbegehren (auf Ehescheidung) stattgegeben werde – nicht Folge. Es teilte die Auffassung des Erstgerichtes zur grundsätzlichen Gültigkeit der Ehe nach hier anwendbarem afghanischem Recht sowie zum ordre public‑Verstoß und folgerte ebenfalls, dass keine – als wesentliches Element der Eheschließung und unentbehrliche Grundvoraussetzung für das Zustandekommen der Ehe erforderliche – Konsenserklärung der Klägerin vorliege; dies folge auch aus § 44 ABGB als Eingriffsnorm. Vor allem unter Berücksichtigung des festgestellten Zwanges könne die Unterfertigung der Heiratsurkunde durch die minderjährige Klägerin deren fehlende Konsenserklärung nicht ersetzen. Zufolge dem Untersuchungsgrundsatz nach § 460 Z 4 ZPO habe das Erstgericht den Zwischenfeststellungsantrag des Beklagten zutreffend dahin gedeutet, dass er die Feststellung des Vorliegens einer Nichtehe beantragt habe; einen – ohnehin zu verneinenden – Verfahrensmangel durch Verstoß gegen § 405 ZPO habe die Berufung nicht geltend gemacht.

[7] Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zur Frage zu, ob eine im Ausland erfolgte Eheschließung, bei der zwar beide Ehegatten persönlich anwesend gewesen seien, allerdings zumindest einer der Ehegatten mit unter anderem Gewalt zur Eheschließung gezwungen worden wäre, „als eine nichtige Ehe oder Nichtehe zu qualifizieren“ sei.

[8] Die ordentliche Revision der Klägerin beantragt ebenso wie zuvor ihre Berufung, primär dem 1. Eventualbegehren (auf Nichtigerklärung), hilfsweise dem 2. Eventualbegehren (auf Aufhebung) und erst in eventu dem Hauptbegehren (auf Ehescheidung) stattzugeben; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[9] Die Revisionsbeantwortung beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[10] Die Revision ist zur Wahrung der Rechtssicherheit zulässig und im Sinne des Aufhebungsantrags auch berechtigt.

[11] 1.1. Vorauszuschicken ist, dass die Vorinstanzen die Frage, ob überhaupt eine Ehe zwischen den Parteien vorliegt, grundsätzlich zutreffend als Vorfrage angesehen und primär geprüft haben. Zutreffend ist und nicht mehr in Frage gestellt wird auch die Ansicht der Vorinstanzen, dass der Zwischenfeststellungsantrag des Beklagten diese Vorfrage betrifft und dahin zu verstehen ist, dass er die Feststellung des Vorliegens einer Nichtehe beantragt.

[12] 1.2. Die Prüfung der Klagebegehren hat somit erst dann stattzufinden, wenn dem Zwischenfeststellungsantrag des Beklagten, dessen Berechtigung auch hier primär zu behandeln ist, keine Folge zu geben wäre. Dabei ist zu beachten, dass nach § 460 Z 4 ZPO im Verfahren über die Nichtigerklärung oder die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens einer Ehe der Untersuchungsgrundsatz gilt, wonach das Gericht von Amts wegen dafür zu sorgen hat, dass alle für die Entscheidung maßgeblichen tatsächlichen Umstände aufgeklärt werden.

[13] 1.3. Die Revision der Klägerin macht sich einerseits die Zulassungsfrage des Berufungsgerichts zu eigen, führt in weiterer Folge aber inhaltlich auch selbst ein Abweichen des Berufungsgerichts von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ins Treffen, wonach eine Nichtehe nur vorliegt, wenn nicht einmal der äußere Schein einer Ehe besteht; auf Grundlage des festgestellten Sachverhalts sei hier dieser Schein aber sehr wohl gegeben.

[14] 2.1. Nach Art 1 Abs 2 VO (EU) 2010/1259 vom 20. 12. 2010 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts (in der Folge: Rom III‑VO) ist die Frage des Bestehens, der Gültigkeit oder der Anerkennung einer Ehe, auch dann von dieser VO ausgenommen, wenn sie sich nur als Vorfrage der Scheidung stellt.

[15] Das auf die Vorfrage nach dem Bestehen einer Ehe anzuwendende Recht ist daher grundsätzlich nach österreichischem Kollisionsrecht, konkret nach den §§ 16, 17 IPRG zu bestimmen (7 Ob 92/13z = RS0128945; Musger in KBB7 [2023] Art 1 Rom III‑VO Rz 8 f; Neumayr in KBB7 [2023] § 17 IPRG Rz 1;Nademleinsky in Schwimann/Kodek/Laimer, IPR Praxiskommentar [2024] Art 1 Rom III‑VO Rz 7 ff und § 16 IPRG Rz 1).

[16] Werden sowohl die Aufhebung als auch die Scheidung der Ehe beantragt, sind daher das auf die Aufhebung anwendbare Recht nach §§ 16 f IPRG und das auf die Scheidung anwendbare Recht nach der Rom III‑VO zu ermitteln (vgl Nademleinsky in Schwimann/Kodek/Laimer, IPR Praxiskommentar [2024] Art 1 Rom III‑VO Rz 7).

[17] 2.2. § 16 IPRG regelt, in welcher Form eine Ehe geschlossen werden muss, um für den österreichischen Rechtsbereich Wirksamkeit zu entfalten (Formstatut). Unter „Form“ ist die Art und Weise zu verstehen, in welcher der Ehekonsens zu erklären ist, also der äußere Ablauf des Eheschließungsakts. Die Form einer Eheschließung im Ausland ist nach dem Personalstatut jedes der Verlobten zu beurteilen; es genügt jedoch die Einhaltung der Formvorschrift des Ortes der Eheschließung (§ 16 Abs 2 IPRG); ist die Ortsform erfüllt, sind die Personalstatute unbeachtlich (RS0127050; 7 Ob 92/13z; Neumayr in KBB7 [2023] § 16 IPRG Rz 4 f; Nademleinsky in Schwimann/Kodek/Laimer, IPR Praxiskommentar [2024] § 16 IPRG Rz 2 ff).

[18] § 17 IPRG regelt die sachlichen Ehevoraussetzungen und die Rechtsfolgen einer Verletzung dieser sachlichen Ehevoraussetzungen, und zwar alle Rechtsfolgen des maßgeblichen Rechts, die an die Missachtung sachlicher Voraussetzungen geknüpft sind (RS0077152); zu diesen sachlichen Voraussetzungen zählen auch Konsenserfordernisse (RS0077152 [T2]). Die Voraussetzungen und Rechtsfolgen sind für jeden der Verlobten nach seinem Personalstatut zu beurteilen; maßgeblicher Zeitpunkt hierfür ist der der Trauung (vgl 6 Ob 66/21f Rz 7); spätere Änderungen des Personalstatutes berühren grundsätzlich weder die Gültigkeit der Ehe noch sanieren sie deren Fehlerhaftigkeit (vgl Verschraegen in Rummel/Lukas/Geroldinger, ABGB4 [2023] § 17 IPRG Rz 2 ff; Neumayr in KBB7 [2023] § 17 IPRG Rz 1; Nademleinsky in Schwimann/Kodek/Laimer, IPR Praxiskommentar [2024] § 17 IPRG Rz 1 ff; jeweils mwN).

[19] 2.3. Das Personalstatut einer natürlichen Person ist nach § 9 Abs 1 IPRG grundsätzlich das Recht des Staats, dem sie angehört. Die nachträgliche Änderung der für die Anknüpfung an eine bestimmte Rechtsordnung maßgebenden Voraussetzungen hat nach § 7 IPRG auf bereits vollendete Tatbestände keinen Einfluss.

[20] 2.4.1. Das jeweils maßgebende fremde Recht ist nach § 3 IPRG von Amts wegen und wie in seinem ursprünglichen Geltungsbereich (vgl 4 Ob 85/23p Rz 8 ff) anzuwenden. Dabei kommt es in erster Linie auf die Anwendungspraxis der (höchstgerichtlichen) Rechtsprechung des betreffenden Auslandsstaats, wenn dies keine eindeutige Antwort ergibt, auf die herrschende fremde Lehre (RS0042940 [T4, T5]) unter Heranziehung der im betreffenden Ausland geltenden Auslegungsregeln und allgemeinen Rechtsgrundsätze an (RS0009223).

[21] Da das fremde Recht auch über seinen eigenen zeitlichen Anwendungsbereich (intertemporales Recht) entscheidet (vgl Verschraegen in Rummel/Lukas/Geroldinger, ABGB4 [2023] § 3 IPRG Rz 7; vgl auch Vor § 1 IPRG Rz 9), wäre auch nach dem fremden Recht zu beurteilen, ob für eine sich jetzt stellende Frage zu einem in der Vergangenheit liegenden Sachverhalt das damals geltende Recht in der damals gegebenen Anwendungspraxis oder das jetzt geltende Recht in der aktuellen Anwendungspraxis heranzuziehen wäre.

[22] 2.4.2. Das fremde Recht ist nach § 4 Abs 1 IPRG von Amts wegen zu ermitteln. Wenn der Inhalt des anwendbaren Rechts einschließlich seiner nach § 3 IPRG maßgeblichen Anwendungspraxis jedoch innerhalb angemessener Frist nicht ermittelt werden kann, ist gemäß § 4 Abs 2 IPRG österreichisches Recht anzuwenden.

[23] 2.5. Würde die Anwendung einer Bestimmung des fremden Rechts zu einem Ergebnis führen, das mit den Grundwertungen der österreichischen Rechtsordnung unvereinbar ist, so ist nach § 6 IPRG (Vorbehaltsklausel; „negativer“ ordre public) diese Bestimmung nicht anzuwenden; an ihrer Stelle ist erforderlichenfalls die entsprechende Bestimmung des österreichischen Rechts anzuwenden.

[24] Diese Vorbehaltsklausel ist als eine systemwidrige Ausnahme nur dann anzuwenden, wenn das inländische Rechtsempfinden in unerträglichem Maß verletzt wird, also Grundwertungen des österreichischen Rechts beeinträchtigt werden (RS0110743; RS0058323; RS0016665 [T5]). Der Inhalt der geschützten Grundwertungen des österreichischen Rechts lässt sich zwar im Einzelnen nicht definieren und ist auch zeitlichen Veränderungen unterworfen. Verfassungsgrundsätze spielen jedenfalls eine tragende Rolle: persönliche Freiheit, Gleichberechtigung, Verbot abstammungsmäßiger, rassischer und konfessioneller Diskriminierung gehören zum Schutzbereich; außerhalb der verfassungsrechtlich geschützten Grundwertungen zählen etwa die Einehe, das Verbot der Kinderehe und des Ehezwanges, der Schutz des Kindeswohls im Kindschaftsrecht oder das Verbot der Ausbeutung der wirtschaftlichen und sozial schwächeren Partei und Gleichbehandlung der Geschlechter dazu (RS0076998).

[25] Zweite wesentliche Voraussetzung für das Eingreifen der Vorbehaltsklausel des § 6 IPRG ist, dass das Ergebnis der Anwendung fremden Sachrechts (und nicht bloß dieses selbst) anstößig ist und überdies eine ausreichende Inlandsbeziehung besteht (RS0110743 [T3]). Zu prüfen ist daher einerseits das Verhältnis der (fiktiven) Anwendung des kollisionsrechtlich berufenen Rechts im konkreten Fall zu Grundwertungen des österreichischen Rechts, andererseits das Ausmaß der Inlandsbeziehung. Die beiden Elemente bilden ein bewegliches System: Je stärker der Inlandsbezug, desto geringere Abweichungen vom österreichischen Recht können einen ordre public-Verstoß begründen, und umgekehrt („Relativität des ordre public“; vgl 5 Ob 42/22w mwN).

[26] 3.1. Beide Parteien sind unstrittig afghanische Staatsangehörige, das Personalstatut beider Parteien ist damit grundsätzlich das afghanische Recht.

[27] 3.2. Die Eheschließung fand im Iran statt. Nach den Verfahrensergebnissen wurde die im Iran gebotene äußere (Orts‑)Form der Eheschließung eingehalten. Zudem wäre auch bei Maßgeblichkeit der Personalstatute die Form nach afghanischem Recht und der dort herrschenden Anwendungspraxis auch durch eine Vermählung durch einen Mullah ohne behördliche Registrierung der Ehe eingehalten (vgl unlängst 4 Ob 85/23p Rz 10 ff).

[28] 3.3. Die Gültigkeit der Eheschließung in Ansehung der sachlichen Ehevoraussetzungen einschließlich der Konsenserfordernisse ist zufolge § 17 IPRG ebenfalls nach dem Personalstatut der Parteien und damit nach afghanischem Recht zu beurteilen.

[29] 4.1. Damit stellen sich hier jeweils im Lichte der einschlägigen afghanischen Bestimmungen Fragen nach der Gültigkeit der Eheschließung, konkret Fragen der Verwandtschaftsehe, des Alters der Klägerin im Zeitpunkt der Eheschließung sowie der Zwangslage und des möglichen Fehlens einer Ehekonsenserklärung der Klägerin.

[30] 4.2. Die Vorinstanzen haben hierzu Bestimmungen des afghanischen Zivilgesetzbuchs (afghZGB) über das Ehemündigkeitsalter sowie über die Eheschließung wiedergegeben und daraus den Schluss gezogen, dass die Ehe der Parteien nach afghanischem Recht grundsätzlich wirksam wäre, hier aber nicht nur eine Kinderehe, sondern auch eine Zwangsehe vorliege und eine Zwangsverheiratung mit dem österreichischen ordre public nicht vereinbar sei; mangels Konsenserklärung der Klägerin liege keine Ehe vor.

[31] 5. Die vorliegenden Verfahrensergebnisse und Feststellungen der Tatsacheninstanzen tragen jedoch derartige Beurteilungen nicht.

[32] 5.1. Zu den erstinstanzlichen Behauptungen der Parteien zur Ehe zwischen Cousins und Cousinen ist festzuhalten, dass das afghanische Recht Ehen mit Verwandten in gerader Linie, mit Geschwistern oder Halbgeschwistern und mit „der ersten Parentel der großväterlichen Abkömmlinge“, das sind Onkeln und Tanten, verbietet. Eine Ehe zwischen Cousin und Cousine ist daher nach afghanischem Recht kein Ehehindernis (ähnlich Art 81 des Gesetzes über das Personalstatut der Schiiten [schiitPSG – zur Frage, ob die Parteien {„12er“‑} Schiiten sind und daher dieses Gesetz auf sie anwendbar wäre, steht nichts fest]; vgl Ebert/Rasul in Bergmann/Ferid , Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Länderteil Afghanistan [2021] 26 und 30 f).

[33] Die Ehe ist somit nach afghanischem Recht nicht schon wegen der Blutsverwandtschaft der Streitteile unwirksam, was schon im Hinblick auf die solche Eheschließungen ebenfalls erlaubenden geltenden österreichischen Bestimmungen über das Eheverbot der (Bluts‑)Verwandtschaft (§ 6 EheG) zu keinem Ergebnis führen kann, das dem österreichischen ordre public widerspricht.

[34] 5.2. Das Mindestalter für die Eheschließung beträgt nach afghanischem Recht 16 Jahre für Frauen und 18 Jahre für Männer (Art 70 afghZGB; vgl ähnlich Art 94 schiitPSG). Nach Art 71 Abs 1 afghZGB kann eine Ehe für ein Mädchen im Alter zwischen 15 und 16 Jahren nur durch den Vater oder das zuständige Gericht geschlossen werden. Ab der Vollendung des 17. Lebensjahres ist eine Aufhebung einer Ehe wegen fehlender Ehemündigkeit allerdings nicht mehr zulässig (vgl Art 108 afghZPO; Ebert/Rasul in Bergmann/Ferid , Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Länderteil Afghanistan [2021] 28 f). Unter Anwendung des afghanischen Rechts kann somit der Umstand, dass die Klägerin bei Eheschließung nicht ehemündig war, zufolge des Zeitablaufs nicht mehr aufgegriffen werden.

[35] Dieses Ergebnis ist ebenfalls nicht als dem österreichischen ordre public widersprechend anzusehen: Zwar definiert § 22 Abs 1 EheG die mangelnde Ehefähigkeit nach § 1 EheG als Nichtigkeitsgrund (der ein Begehren [ausschließlich] eines der Ehegatten auf Nichtigerklärung nach § 28 Abs 1 EheG ermöglicht), doch ist die Ehe nach Abs 2 leg cit als von Anfang an gültig anzusehen, wenn dieser Ehegatte nach Eintritt seiner Ehefähigkeit (also bei Volljährigkeit) zu erkennen gibt, dass er die Ehe fortsetzen will. Diese „Konvalidation“ wird regelmäßig bereits im weiteren Zusammenleben in der bisher üblichen Form gesehen, jedenfalls in jedem Verhalten, mit dem der Ehegatte bei objektiver Betrachtung seinen Willen zum Ausdruck bringt, den Nichtigkeitsgrund auf sich beruhen zu lassen (vgl etwa Höllwerth in Gitschthaler/Höllwerth, Ehe- und Partnerschaftsrecht2 [2021] § 22 EheG Rz 4; Stabentheiner/T. Maier in Rummel/Lukas, ABGB4 [2021] § 22 EheG Rz 2; Nademleinsky/Weitzenböck in Schwimann/Kodek 5 [2020] § 22 EheG Rz 2; jeweils mwN).

[36] Zwar ist die Grenze von 17 Jahren nach afghanischem Recht mit den österreichischen Bestimmungen über die Ehefähigkeit nicht zur Deckung zu bringen, jedoch hat hier nach den Feststellungen die Klägerin auch nach ihrem 18. Geburtstag an der Ehe festgehalten und sich insbesondere noch 2019 – also im Alter von 21 Jahren – mit dem Beklagten trotz seiner Gewalttätigkeiten – wenn auch nur kurzzeitig – versöhnt. Dass die fehlende Ehemündigkeit nach afghanischem Recht nicht mehr releviert werden könnte, führte daher im vorliegenden Fall zu keinem unerträglichen und daher ordre public-widrigen Ergebnis (vgl Verschraegen in Rummel/Lukas/Geroldinger, ABGB4 [2023] § 6 IPRG Rz 14 sowie § 17 IPRG Rz 6), sondern entspräche hier der sich auch aus dem österreichischen Recht konkret ergebenden Situation des aufrechten Bestandes der Ehe.

[37] 5.3.1. Die Ehe ist nach afghanischem Recht (vgl Ebert/Rasul in Bergmann/Ferid , Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Länderteil Afghanistan [2021]) ein Vertrag zwischen einem Mann und einer Frau zur Bildung einer dauerhaften familiären Lebensgemeinschaft (Art 60, 66 afghZGB; Art 98 schiitPSG), der nach Art 77 afghZGB – neben anderen Formalitäten wie etwa der Anwesenheit von Zeugen – durch Angebot und Annahme durch die Eheschließenden zustandekommt. Eine wirksame Eheschließung setzt demnach auch nach afghanischem Recht grundsätzlich nach außen in Erscheinung tretende übereinstimmende Erklärungen der Eheschließenden voraus, die Ehe schließen zu wollen (Ehekonsenserklärungen). Im Weiteren trifft das afghanische Recht Bestimmungen über keine Wirkungen entfaltende nichtige Ehen sowie bloß fehlerhafte Ehen, deren vorläufige Nichtigkeit durch den Vollzug geheilt werden kann.

[38] 5.3.2. Welche Fehler heilbar sind und welche nicht, ist den Gesetzestexten jedoch nicht zu entnehmen; die Vorinstanzen haben hierzu und auch zur Frage der Anwendungspraxis der afghanischen Behörden keinerlei Erhebungen durchgeführt. All dies wäre nach dem oben zu Pkt 2.4 Gesagten von Amts wegen zu ermitteln gewesen.

[39] 5.3.3. Auch die sonstigen Feststellungen der Vorinstanzen reichen nicht aus, um im Lichte des – inhaltlich im Dunkeln gebliebenen und daher noch zu klärenden – afghanischen Rechts beurteilen zu können, welche Rechtsfolgen dieses für welche „Fehler“ vorsieht.

[40] Dass das relevante afghanische Recht gar nicht ermittelbar wäre und daher gemäß § 4 Abs 2 IPRG österreichisches Recht zur Anwendung zu kommen hätte, kann ohne konkrete Erhebungen nicht beurteilt werden.

[41] Dass afghanisches Recht hier zu mit dem ordre public unvereinbaren Ergebnissen führen würde, kann einerseits ohne Klärung seines konkreten und praktizierten Inhaltes – insbesondere dahin, unter welchen konkret geübten Voraussetzungen das afghanische Recht welche Anforderungen an eine freie Willenserklärung stellt und welche konkret praktizierte Rechtsfolge es an das Fehlen solcher Voraussetzungen knüpft – nicht gesagt werden.

[42] Andererseits kann noch nicht beurteilt werden, ob die vorliegende Eheschließung nach afghanischem Recht ordre public‑widrige Wirkungen entfalten würde, deren konkretes Ergebnis (und nicht bloß das Etikett „Zwangsverheiratung“) mit Grundwertungen des österreichischen Rechts so unvereinbar wäre, dass man zur Frage des Bestehens einer Ehe erstens österreichisches Recht anzuwenden hätte und zweitens auch dieses ausnahmsweise zur Beurteilung als Nichtehe zu führen hätte (vgl dazu RS0056013, zuletzt 2 Ob 267/98y; Höllwerth in Gitschthaler/Höllwerth, Ehe- und Partnerschaftsrecht2 [2021] § 15 EheG Rz 13).

[43] Die Feststellungen der Vorinstanzen lassen in tatsächlicher Weise etwa nicht konkret erkennen, ob die Klägerin überhaupt keine nach außen in Erscheinung getretene Ehekonsenserklärung abgegeben hätte, oder ob eine solche unmittelbar unter Anwendung von Gewalt oder Drohungen erfolgt und solches bei der Durchführung der Eheschließung erkennbar geworden wäre, sodass (je nach Ergebnis der ausständigen Erhebungen nach afghanischem oder österreichischem Recht) eine abgegebene Erklärung und die nach den Feststellungen erfolgte Unterfertigung der Eheurkunde nicht als nach außen in Erscheinung getretene Willenserklärung der Klägerin angesehen werden könnten; dass sie der Eheschließung überhaupt nicht (auch nicht dem äußeren Anschein nach) zugestimmt hätte, wäre auch nicht aus der Feststellung ableitbar, dass sie „nicht aus freien Stücken“ zugestimmt habe. Anders als das Berufungsgericht vermeint, genügt der Umstand, dass die Klägerin nicht heiraten wollte, hier nicht. Dass die Klägerin aufgrund des gegen sie ausgeübten familiären und sozialen Zwangs keine „Möglichkeit“ gehabt hätte, die Eheschließung zu verweigern, ist mangels näherer konkreter Feststellungen keine ausreichende Tatsachengrundlage; dass ihre Mutter sie an den Haaren gerissen hätte, lässt ebenso wenig eine abschließende Beurteilung zu wie die unbestimmte Konstatierung, „es wurde Gewalt gegen die Klägerin ausgeübt, damit sie der Eheschließung zustimmt“.

[44] 5.4. Die vom Berufungsgericht zitierte Auffassung von Nademleinsky/Neumayr, Internationales Familienrecht3 [2022] Rz 2.16, wonach schon § 44 ABGB als Eingriffsnorm und Ausdruck des „positiven“ ordre public ein wirksames Zustandekommen der Ehe überhaupt verhindere, überzeugt nicht. Diese Bestimmung regelt zwar den Grundsatz der Ehe als Vertrag, weist aber weder ordnungspolitischen Lenkungsgehalt (vgl Verschraegen in Rummel/Lukas/Geroldinger, ABGB4 [2023] § 6 IPRG Rz 8) noch einen primär überindividuelle Interessen verfolgenden Charakter (vgl RS0127822) auf. Zudem sind aus dieser Bestimmung gerade keine konkreten Folgen einer fehlenden oder fehlerhaften Willenserklärung im Sinne einer Nichtehe zu entnehmen.

[45] 6.1. Zusammengefasst war die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen unvermeidlich. Das Erstgericht wird seine Entscheidungsgrundlagen im Hinblick auf die Ermittlung des fremden Rechts sowie im Tatsächlichen zu verbreitern und über den Zwischenfeststellungsantrag des Beklagten neuerlich abzusprechen haben.

[46] 6.2. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 Satz 3 ZPO.

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