OGH 4Ob68/25s

OGH4Ob68/25s22.5.2025

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schwarzenbacher als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und Hofräte Mag. Istjan, LL.M., Mag. Waldstätten, Dr. Stiefsohn und Mag. Böhm in der Pflegschaftssache der Minderjährigen 1. *, geboren * 2011, 2. *, geboren * 2013, und 3. *, geboren * 2015, alle wohnhaft beim Vater *, vertreten durch DI (FH) Mag. Bernd Auer, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen Obsorge (Festlegung des hauptsächlichen Aufenthalts), über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter *, vertreten durch Mag. Mihaela Pencu-Parigger, MBA, Rechtsanwältin in Innsbruck, gegen den Beschluss des Landesgerichts Feldkirch als Rekursgericht vom 6. Februar 2025, GZ 3 R 299/24d-146, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0040OB00068.25S.0522.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Nach Beendigung ihrer Lebensgemeinschaft im April 2022 kam den Eltern weiterhin gemeinsam die Obsorge für ihre drei Kinder zu. Das Bezirksgericht Telfs legte über Antrag des Vaters den hauptsächlichen Aufenthalt der Kinder zunächst mit Beschluss vom 9. Februar 2023 gemäß § 107 Abs 3 AußStrG vorläufig und mit Beschluss vom 16. Oktober 2023 (mit dem unter anderem auch die Anträge der Eltern, ihnen jeweils die alleinige Obsorge zu übertragen, abgewiesen wurden) endgültig beim Vater fest. Diese Entscheidung wurde vom Landesgericht Innsbruck bestätigt und erwuchs in Rechtskraft. Die Kinder lebten nach der Trennung der Eltern beim Vater, zunächst in Tirol, seit April 2024 in Vorarlberg. Die Mutter wohnt in Ungarn.

[2] Am 23. August 2024 „beantragten“ die damals neun‑ und elfjährigen * und * – unbegleitet – vor dem Erstgericht zu Protokoll, ihren hauptsächlichen Aufenthalt bei der Mutter festzulegen. Die Mutter trat einerseits dem „Antrag“ der beiden Kinder bei (was von den Vorinstanzen als Antragstellung namens der Kinder im Rahmen ihrer gesetzlichen Vertretung gewertet wurde) und beantragte andererseits im eigenen Namen die Verlegung des hauptsächlichen Aufenthalts von * und * zu ihr.

[3] Die Vorinstanzen wiesen die Anträge zurück. Die darin vorgebrachten Umstände seien nicht geeignet, die Voraussetzungen für die Einleitung eines neuen Obsorgeverfahrens nach § 180 Abs 3 ABGB zu erfüllen.

[4] Mit ihrem – nunmehr bloß im eigenen Namen erhobenen – außerordentlichen Revisonsrekurs beantragt die Mutter, die zugleich behauptet, ab April 2025 in denselben Ort wie die Kinder zu ziehen, dem Antrag auf Verlegung des hauptsächlichen Aufenthalts von * und * zu ihr stattzugeben.

Rechtliche Beurteilung

[5] Das Rechtsmittel zeigt keine erheblichen Rechtsfragen auf und ist daher zurückzuweisen.

[6] 1. Die nachträgliche Änderung einer Obsorgeregelung nach § 180 Abs 3 ABGB setzt keine Gefährdung des Kindeswohls voraus. Die Änderung der Verhältnisse muss aber derart gewichtig sein, dass das zu berücksichtigende Postulat der Erziehungskontinuität in den Hintergrund tritt (RS0132056; RS0128809 [T5]). Dies kann nur nach den Umständen des Einzelfalls beurteilt werden und wirft im Allgemeinen keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 62 Abs 1 AußStrG auf, es sei denn, es wurde dabei auf das Kindeswohl nicht ausreichend Bedacht genommen (vgl RS0115719; RS0007101; 4 Ob 129/24k).

[7] Nach ständiger Rechtsprechung (5 Ob 118/17i; 3 Ob 212/14v; 4 Ob 68/20h; 4 Ob 146/21f = RS0133864) gilt § 180 Abs 3 ABGB auch für den – hier vorliegenden – Fall, wonach zwar die vereinbarte Obsorge beider Elternteile aufrecht erhalten werden soll, aber über den Antrag eines Elternteils zu entscheiden ist, der eine hauptsächliche Betreuung des Minderjährigen in seinem Haushalt anstrebt.

[8] 2.1 Die Vorinstanzen gingen zusammengefasst davon aus, dass sich die für die Festlegung des hauptsächlichen Aufenthaltsorts von * und * maßgeblichen Verhältnisse seit der Beurteilung im vorangegangenen Obsorgeverfahren nicht geändert haben. Eine Neuregelung in diesem Punkt sei daher nicht erforderlich, weshalb die darauf gerichteten Anträge zurückzuweisen seien.

[9] 2.2 Eine darin liegende grobe Fehlbeurteilung des Rekursgerichts vermag der Revisionsrekurs, der sich inhaltlich nicht weiter mit den Erwägungen der Vorinstanzen auseinandersetzt, sondern bloß pauschal die Rechtsansicht des Rekursgerichts ablehnt, ohne nähere Ausführungen dazu zu behaupten, die Vorinstanzen hätten nicht auf das Kindeswohl Bedacht genommen (vgl RS0043654), und das insgesamt 58 Seiten umfassende Vorbringen aus dem Schriftsatz der Mutter vom 25. September 2024 auszugsweise wiederholt, nicht aufzuzeigen.

[10] 2.3 Den Ausführungen der Mutter, das – ihrem Vorbringen nach – auf die Zerstörung der Lebensgemeinschaft gerichtete Verhalten des Vaters stelle eine erhebliche psychische Belastungssituation für die Kinder dar und könne bei der Beurteilung, bei welchem Elternteil die Kinder ihren hauptsächlichen Aufenthalt nehmen, nicht außer Betracht bleiben, ist zu entgegnen, dass sie vergleichbare Behauptungen bereits im vorangegangenen Obsorgeverfahren aufgestellt hat (ON 64). Diese sind daher auch bereits in die Beurteilung der (rechtskräftigen) Festlegung des hauptsächlichen Aufenthalts eingeflossen. Schon gemessen an ihrem eigenen Vorbringen zeigt sie damit also keine maßgebliche Umstandsänderung seit der zuletzt ergangenen Regelung des hauptsächlichen Aufenthaltsorts auf.

[11] 2.4 Nichts anderes gilt auch für den – ebenso bereits im vorangegangenen Verfahren geäußerten – Wunsch von *, bei der Mutter zu leben.

[12] 2.5 Richtig ist, dass nunmehr auch * ihren Willen äußerte, den hauptsächlichen Aufenthaltsort bei der Mutter zu nehmen. Zwar ist der Wille des (mündigen) Kindes ein relevantes Kriterium für die Obsorgezuteilung. Allerdings ist dieser Wunsch nicht allein entscheidend, wenn schwerwiegende Gründe dagegen sprechen oder seiner Berücksichtigung das Wohl des Kindes entgegensteht. Je älter das Kind ist, desto eher ist sein Wunsch nach einem Obosrgewechsel zu berücksichtigen (RS0048820 [insb T11]; RS0048981; RS0048818).

[13] Das Rekursgericht ging davon aus, dass aufgrund des noch jungen Alters der unmündigen Kinder * und * und ihrer im Verfahren vor dem Bezirksgericht Telfs hervorgekommenen Beeinflussung durch die Mutter nicht von einem freien und ernstlichen Wunsch, den hauptsächlichen Aufenthalt bei der Mutter zu nehmen, auszugehen sei. Schließlich sei auch eine räumliche Trennung der beiden von ihrer Schwester * – die beim Vater bleiben wolle – sowie der Verlust des sozialen Umfelds zu vermeiden (vgl 3 Ob 212/14v; 3 Ob 115/14d; 4 Ob 68/20v). Wenn das Rekursgericht ausgehend davon zum Ergebnis gelangte, dass die für eine Änderung des hauptsächlichen Aufenthalts sprechenden Umstände bei Beurteilung des Kindeswohls in einer Gesamtschau nicht so gewichtig sind, dass das Postulat der Erziehungskontinuität in den Hintergrund tritt (vgl 5 Ob 118/17i; 3 Ob 212/14v; 4 Ob 68/20h), ist dies im Einzelfall jedenfalls vertretbar.

[14] 2.6 Der Maxime des Kindeswohls ist im Obsorgeverfahren zwar dadurch zu entsprechen, dass der Oberste Gerichtshof aktenkundige Entwicklungen, die die bisherige Tatsachengrundlage wesentlich verändern, – ungeachtet des im Revisionsrekursverfahren an sich herrschenden Neuerungsverbots gemäß § 66 Abs 2 AußStrG – auch dann berücksichtigen muss, wenn sie erst nach der Beschlussfassung einer der Vorinstanzen eingetreten sind (RS0122192). Das bezieht sich aber nur auf unstrittige und aktenkundige Umstände, nicht aber auf Umstände, die erst noch durch ein Beweisverfahren zu klären wären (RS0122192 [T4]). Neues Vorbringen allein macht die betreffenden Behauptungen noch nicht zum aktenkundigen Umstand (vgl RS0119918 [T13]).

[15] Die vom Revisionsrekurs ins Treffen geführte Umstandsänderung, wonach die Mutter ab April 2025 im selben Ort wie die Kinder wohnen und ab Mai 2025 dort auch arbeiten werde, ist keine unstrittige und aktenkundige Tatsache, die bei der Entscheidung über den Revisionsrekurs zu berücksichtigen wäre, sondern lediglich eine unbewiesene Behauptung (4 Ob 129/24k Rz 18).

[16] 3. Ein vom Rekursgericht verneinter Mangel des außerstreitigen Verfahrens erster Instanz kann grundsätzlich keinen Revisionsrekursgrund bilden (RS0050037). Dieser Grundsatz erfährt im Pflegschaftsverfahren nur dann eine Durchbrechung, wenn das die Interessen des Kindeswohls erfordern (RS0050037 [T1, T4]), was insbesondere im Obsorge- und Kontaktrechtsverfahren Bedeutung hat (RS0050037 [T8]; 4 Ob 146/21f Rz 18). Ausreichende Gründe für eine Durchbrechung dieses Grundsatzes im konkreten Verfahren zeigt der Revisionsrekurs in Bezug auf den unerledigt gebliebenen Fristerstreckungsantrag der Mutter und die unterlassene Befragung der Kinder durch einen (oder unter Beiziehung eines) Experten der Kinderpsychiatrie nicht auf.

[17] 4. Die Frage, ob auch ein (hier kinderpsychiatrisches) Sachverständigengutachten eingeholt hätte werden müssen, ist eine Frage der Beweiswürdigung und unterliegt – auch im Außerstreitverfahren – nicht der Überprüfung durch den Obersten Gerichtshof (RS0043320 [insb T9, T10, T11]; RS0043414).

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