OGH 4Ob12/25f

OGH4Ob12/25f22.5.2025

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schwarzenbacher als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und Hofräte Mag. Istjan, LL.M., Mag. Waldstätten, Dr. Stiefsohn und Mag. Böhm in der Pflegschaftssache der minderjährigen 1. *, geboren * 2010, 2. *, geboren * 2013 und 3. *, geboren * 2013, alle wohnhaft bei der Mutter *, in Unterhaltssachen vertreten durch den Magistrat der Stadt Wien, MA 11, Wiener Kinder‑ und Jugendhilfe – Rechtsvertretung *, wegen Unterhalt, über den Revisionsrekurs des Vaters *, vertreten durch Mag. Verena Pitterle, Rechtsanwältin in Mauerbach, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 24. April 2024, GZ 42 R 25/24y‑28, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Donaustadt vom 12. Dezember 2023, GZ 29 Pu 88/21x‑22, teils bestätigt und teils abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0040OB00012.25F.0522.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Unterhaltsrecht inkl. UVG

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben. Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden im Anfechtungsumfang aufgehoben und die Rechtssache wird insoweit – sohin hinsichtlich des zugesprochenen Unterhalts ab 1. 12. 2023 – zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

 

Begründung:

[1] Die drei minderjährigen Mädchen, geboren 2010 und 2013, sind die unehelichen Kinder von * und *, denen die Obsorge gemeinsam zukommt. Der hauptsächliche Aufenthalt iSd § 179 Abs 2 ABGB befindet sich seit dem Auszug des Vaters im Jahr 2021 bei der Mutter, die auch die Familienbeihilfe bezieht. Der Vaterleistete in der Folge sowohl Geldunterhalt als auch Kindesbetreuung, ohne dass es eine verbindliche Vereinbarung gegeben hätte.

[2] Beide Elternteile arbeiten in „Radl‑“ bzw Schichtdiensten. Da sich ua Streitigkeiten darüber mehrten, wo sich die Kinder aufhalten sollen, wenn beide Eltern dienstfrei haben, beantragte die Mutter die gerichtliche Regelung und Einschränkung des Kontaktrechts des Vaters, während der Vater eine Verlegung des hauptsächlichen Aufenthalts in seinen Haushalt anstrebte.

[3] Mit dem hier gegenständlichen Antrag vom 11. 9. 2023 (idF vom 20. 11. 2023) begehrt die Wiener Kinder‑ und Jugendhilfe, den Kindesunterhalt für den Zeitraum 1. 1. 2023 bis 31. 8. 2023 für die ältere Tochter bzw die Zwillinge mit monatlich 630 EUR bzw 530 EUR festzusetzen und seit 1. 12. 2023 mit 560 EUR pro Kind. Dafür wurde ein monatliches Einkommen des Vaters von zuletzt 3.893,58 EUR herangezogen sowie eine einmalige Nachzahlung im Jahr 2023. Weiters wurde zugestanden, dass der Vater überdurchschnittliche Betreuungsleistungen erbringe, nämlich an drei von acht Tagen, die mit einem 10%igen Abschlag zu berücksichtigen seien.

[4] Der Vater beantragte, den Unterhaltsfestsetzungsantrag abzuweisen, weil er die Kinder – jedenfalls bei wertender Betrachtung – gleichteilig betreue. Ein „echtes“ Doppelresidenzmodell sei ihm nur deswegen nicht möglich, weil er jeweils zwei Tagdienste und zwei Nachtdienste verrichten müsse und dann vier Tage am Stück frei habe (sodass seine Betreuungstage auch immer auf andere Wochentage fielen). Die Kinder kämen an jenem Tag, an dem sein Nachtdienst ende, nach der Schule zu ihm (an schulfreien Tagen um 14:00 Uhr), seien die zwei folgenden Tage zur Gänze bei ihm, und würden an seinem letzten arbeitsfreien Tag um 20:00 Uhr zur Mutter zurückkehren. Dass die Kinder mehr Nächte bei der Mutter verbrächten, sei unterhaltsrechtlich irrelevant, weil dies auf keiner Seite zu einer Mehrbelastung oder Ersparnis führe. Die Kinder benötigten und hätten bei beiden Elternteilen vergleichbare Lebensverhältnisse. Er trage alle Auslagen für Schule, Kleidung, Freizeit etc, wenn die Kinder bei ihm seien, sowie die Kosten des Haushalts und der Verpflegung, die sich die Mutter sohin erspare; Sonderausgaben würden geteilt.

[5] Damit sei das betreuungsrechtliche Unterhaltsmodell anzuwenden, sodass ihn – wenn überhaupt – nur eine Restgeldunterhaltspflicht treffe, die er durch seine pauschalen Zahlungen von zunächst 1.290 EUR und zuletzt 500 EUR pro Monat jedenfalls erfüllt habe. Die Mutter beziehe die Familienbeihilfe und ein eigenes Einkommen und könne zudem angesichts seiner umfassenden Kinderbetreuungsleistungen von einer Teilzeit- auf eine Vollzeitbeschäftigung angespannt werden.

[6] Das Erstgericht verpflichtete den Vater, für den Zeitraum 1. 1. 2023 bis 31. 8. 2023 der älteren Tochter einen Unterhalt von monatlich 385 EUR und jedem Zwilling von je 325 EUR zu zahlen, im Dezember 2023 je 345 EUR und seit 1. 1. 2024 je 300 EUR. Für die Zukunft ging es von einer Unterhaltsbemessungsgrundlage von 3.468 EUR aus. Weiters stellte es tabellenartig die Aufteilung der Betreuung fest im Sinne des vom Vater vorgebrachten Wechsels alle vier Tage um 14:00 Uhr und um „19.00 bzw 20.00 Uhr“.

[7] In rechtlicher Hinsicht verneinte das Erstgericht eine Doppelresidenz (auch wenn der Fall „sehr nahe dran sei“) und ging davon aus, dass der Vater Geldunterhalt schulde, dieser aber aufgrund überdurchschnittlicher Betreuungsleistungen prozentuell zu kürzen sei. Konkret wertete es den ersten Tag als halben Betreuungstag und die weiteren drei Tage zur Gänze, weil die Betreuungsleistungen der Mutter aufgrund der späten Rückkehr am vierten Tag minimal seien. Über das Jahr gesehen und gerundet handle es sich sohin um drei Kontakttage pro Woche. Bei einer Gesamtbetrachtung der Situation, nämlich dass der Vater bereits seit Jahren regelmäßig alle drei Kinder drei Tage die Woche betreue „und von erheblichen 'Ersparnissen' der Mutter aufgrund der überdurchschnittlichen Betreuung durch den Vater ausgegangen werden dürfe“, sei ein Abschlag von 40 % angemessen. Der Umstand, dass die Mutter die Familienbeihilfe von monatlich insgesamt rund 690 EUR beziehe, sei mit einem weiteren Abschlag von 10 % zu berücksichtigen.

[8] Das Rekursgericht gab einem – nur vom Vater erhobenen – Rekurs teilweise Folge und wies das Unterhaltsbegehren für den Zeitraum 1. 1. 2023 bis 31. 8. 2023 zur Gänze ab. Voraussetzung für die Schaffung eines Unterhaltstitels sei eine Verletzung der Unterhaltspflicht. Bis 1. 9. 2023 habe der Vater aber unstrittig monatlich 1.290 EUR an Unterhalt bezahlt und daher mehr als vom Erstgericht nunmehr ausgemittelt. Für den Unterhalt ab 1. 12. 2023 seien die bereits geleisteten Teilzahlungen von 500 EUR zwar zu berücksichtigen, insofern liege aber eine Minderzahlung vor, die die Schaffung eines Titels rechtfertige. Insofern habe es bei der Nichtanwendung des betreuungsrechtlichen Unterhaltsmodells und den vom Erstgericht festgesetzten Beträgen zu bleiben. Durch die Berücksichtigung der Familienbeihilfe mit einem weiteren Abschlag von 10 % sei der Vater nicht beschwert.

[9] Das Rekursgericht erklärte den ordentlichen Revisionsrekurs nachträglich für zulässig (s dazu 4 Ob 128/24p), weil der Vater damit aufzeige, dass sich seine vier Kontakttage maßgeblich von einem reinen Wochenendkontaktrecht unterscheiden würden, und eine Klarstellung durch den Obersten Gerichtshof geboten erscheine.

[10] Mit seinem Revisionsrekurs begehrt der Vater, den Unterhaltsfestsetzungsantrag zur Gänze abzuweisen; hilfsweise stellt er Aufhebungsanträge.

[11] Eine Revisionsrekursbeantwortung wurde nicht erstattet.

Rechtliche Beurteilung

[12] Der Revisionsrekurs ist zulässig und im Sinne des subsidiären Aufhebungsantrags auch berechtigt, weil für die rechtliche Beurteilung maßgebliche Feststellungen fehlen.

[13] 1. Voraussetzung für die Anwendung des sogenannten „betreuungsrechtlichen Unterhaltsmodells“, welches nach der neueren Judikatur zu einem Entfall des Geldunterhaltsanspruchs des Kindes gegenüber seinen Eltern führt, ist neben der (nahezu) gleichwertigen Betreuungs‑ und Einkommenssituation, dass auch die sonstigen (bedarfsdeckenden) Naturalleistungen von beiden Elternteilen (in etwa) gleichwertig erbracht werden (vgl RS0131785, RS0131331, RS0130655, RS0047452 [T13, T23]; 6 Ob 18/22y). Je mehr sich die Situation einer gemeinsamen gleichwertigen Betreuung des Kindes durch beide Eltern annähert, umso weniger wird ein 10 %‑Abzug pro zusätzlichem Besuchstag bei unterhaltsneutralen Tagen den wechselseitigen Leistungen entsprechen, nicht zuletzt, weil echte Betreuung in zwei Haushalten zu einer gewissen Steigerung des Gesamtaufwands wegen doppelt notwendiger Versorgungsstruktur führt (vgl RS0128043).

[14] Ab wann von derartigen gleichwertigen Betreuungsleistungen die Rede sein kann, kann angesichts der Vielfalt familiärer Lebens‑ und Betreuungsmodelle nicht mit einem starren Prozentsatz festgelegt werden (vgl RS0047452 [T19]). Die Ermittlung des Betreuungsausmaßes erfolgt dabei nicht in Form einer „Berechnung“ von Kontakttagen schlicht nach (exakter) stundenweiser Zeiterfassung; sie ist vielmehr in einer generalisierenden und wertenden Betrachtung vorzunehmen. Eine Berücksichtigung weiterer Kontakttage durch Addition von „geleisteten“ Stunden ist daher nicht angebracht (RS0047452 [T36]). Einzelne Stunden eines Aufenthalts beim anderen Elternteil sind grundsätzlich nicht zu berücksichtigen (RS0047452 [T27]). Eine bloße Gegenüberstellung von Besuchs‑ bzw Betreuungstagen kann zudem nicht allein und abschließend maßgeblich sein (vgl 5 Ob 2/12y). Vielmehr ist auch zu fragen, ob die Betreuung des geldunterhaltspflichtigen Elternteils regelmäßig erfolgt und somit auch zu einer regelmäßigen Entlastung des anderen Elternteils führt; je eher dies der Fall ist, desto eher wird man von einer „gemeinsamen Betreuung des Kindes durch beide Elternteile“ ausgehen können (vgl 4 Ob 45/19z).

[15] Maßgeblich sind schließlich nicht die Aufwendungen des Unterhaltspflichtigen, sondern die ersparten Aufwendungen des anderen Elternteils (vgl RS0047452 [T1, T9]), etwa für Lebensmittel, Taschengeld, Wäsche und Freizeitaktivitäten (RS0128043 [T9]). Bei der Beurteilung, ob die Naturalleistungen etwa (annähernd) gleichwertig sind, kommt es aber nur auf die bedarfsdeckenden, also nach den konkreten Bedürfnissen des Kindes zweckmäßigen Leistungen an (RS0131785 [T2]).

[16] 2. Eine Betreuung im Ausmaße von 43 % oder 44 % bzw „4 : 3“ wurde vom Obersten Gerichtshof für unterhaltsrechtliche Belange bereits als annähernd gleichwertig verstanden, von 42 % oder 43 % aber auch wieder nicht (vgl 1 Ob 89/22b mwN aus der Rsp; RS0130654).

[17] Hier liegt bei der Betreuung sohin ein Grenzfall vor, bei dem das Augenmerk weniger auf geteilte und/oder schulpflichtige Tage, sondern vielmehr darauf zu richten ist, ob das von den Eltern gelebte Modell bei wertender Betrachtung als nahezu gleichwertige Aufteilung von laufendem Aufwand und Verantwortung verstanden werden kann. Dabei ist dem Revisionsrekurs beizupflichten, dass die geblockten Tage des Vaters nicht mit einem reinen Wochenendbesuchsrecht verglichen werden können. Einerseits gehen diese schon von der Länge darüber hinaus, andererseits nimmt der Vater durch die laufende Verschiebung der Tage wegen des arbeitsbedingten Achttagesrhythmus an der gesamten Schul‑ und Freizeitgestaltung teil.

[18] Aus den Feststellungen kann aber nicht abgeleitet werden, was die vom Vater behauptete Betreuung, auch in Bezug auf das Alter und die konkreten Bedürfnisse der Kinder, faktisch umfasst und ob dies zu einer (regelmäßigen) Entlastung der Mutter führt; warum die Situation „sehr nahe“ an einem Doppelresidenzmodell sei, aber für eine gleichteilige Betreuung nicht ausreiche, erschließt sich daraus nicht. Ebenso wenig ist ersichtlich, wie sich die Feiertags- und Ferienbetreuung gestaltet.

[19] Dasselbe gilt sinngemäß für die (bedarfsdeckenden) Naturalleistungen und die diesbezügliche Ersparnis der Mutter, die vom Vater behauptet wurden, zu denen aber (nachvollziehbare) Feststellungen fehlen. Trägt die Mutter über die (gleichteilig mit dem Vater ausgeübte) Betreuung hinaus im Wesentlichen die Kosten für die bedarfsorientierten Naturalleistungen, würde die gesetzliche Geldunterhaltsverpflichtung des Vaters dennoch bestehen bleiben (vgl RS0128043 [T7]).

[20] 3. Käme das Erstgericht ausgehend von der zu ergänzenden Sachverhaltsgrundlage und einer wertenden Gesamtbetrachtung im Einzelfall zu einer in etwa gleichwertigen Erbringung von Betreuungs‑ und Naturalleistungen, wären weiters Feststellungen zur Einkommenssituation der Mutter zu treffen. Das Kind soll nämlich auch bei sonst gleichteiligen Betreuungs- und Versorgungsleistungen durch die Eltern mittels Geldunterhalt in die Lage versetzt werden, während der Zeit der Betreuung im Haushalt des schlechter verdienenden Elternteils am (höheren) Lebensstandard des anderen weiterhin teilzunehmen (vgl 1 Ob 158/15i). Unterschiede beim Einkommen bis zu einem Drittel sind jedoch hinzunehmen (vgl 4 Ob 16/13a, 6 Ob 18/22y).

[21] Ein allfälliger (laufender) Restgeldunterhaltsanspruch des Kindes gegenüber einem leistungsfähigeren Elternteil wäre dadurch zu ermitteln, dass zunächst (fiktiv) die Ansprüche des Kindes gegenüber beiden Elternteilen nach der Prozentwertmethode zu ermitteln sind, sodann diese Ansprüche zu saldieren sind und schließlich der Saldo zu halbieren ist. Im Hinblick auf die Einführung des Familienbonus Plus ab 1. 1. 2019 (§ 33 Abs 3a EStG idF BGBl I 2018/62) geht der Oberste Gerichtshof seit der Entscheidung 4 Ob 150/19s (RS0132928) in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass eine (teilweise) Anrechnung der Transferleistungen Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrag auf Geldunterhaltsansprüche nicht mehr zu erfolgen hat. Wenn nun beim betreuungsrechtlichen Unterhaltsmodell beide Elternteile „nahezu gleichwertig“ betreuen, dann kann dies im hier interessierenden Zusammenhang nur bedeuten, dass die Transferleistungen beiden Elternteilen (rechnerisch) jeweils zur Hälfte zugutekommen müssen (vgl 6 Ob 18/22y mwN).

[22] Bei einem allfälligen Restgeldunterhaltsanspruch wären schließlich auch die vom Vater bereits geleisteten Zahlungen zu berücksichtigen.

[23] 4. Wenn man das betreuungsrechtliche Unterhaltsmodell verneinen würde, wären dennoch für die Beurteilung, welcher Prozentabzug angemessen ist, Feststellungen zu treffen, inwieweit die Mutter durch die Betreuung der Kinder durch den Vater konkret finanziell entlastet wurde bzw wird (vgl 1 Ob 89/22b mwN aus der Rsp).

[24] Eine Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen ist daher unumgänglich.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte