European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0020OB00075.25F.0626.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Der Revision wird teilweise Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass es unter Einschluss der bereits in Rechtskraft erwachsenen Teile insgesamtzu lauten hat:
„1. Die Klageforderung besteht mit 17.623,95 EUR sA zu Recht.
2. Die Gegenforderung besteht mit 5.152,50 EUR sA zu Recht.
3. Die beklagten Parteien sind daher schuldig, der klagenden Partei 12.471,45 EUR samt 4 % Zinsen seit 14. 8. 2023 binnen 14 Tagen zu zahlen.
4. Das Mehrbegehren auf Zahlung von 58.024,35 EUR samt 4 % Zinsen seit 14. 8. 2023 wird abgewiesen.“
Die klagende Partei ist schuldig, den beklagten Parteien die mit 10.888,81 EUR (darin 1.814,80 EUR USt) bestimmten anteiligen Kosten des Verfahrens aller drei Instanzen binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Die beklagten Parteien sind schuldig, der klagenden Partei die mit 2.197,89 EUR bestimmten anteiligen Barauslagen des Verfahrens aller drei Instanzen binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
[1] Am 24. Juli 2022 kam es auf einer Bundesstraße im Freilandgebiet zu einer Kollision zwischen einem bei der klagenden Partei kaskoversicherten Ferrari sowie einem vom Erstbeklagten gelenkten und gehaltenen und bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten VW Tiguan. Die Unfallstelle befindet sich etwa mehr als 300 Meter außerhalb des Ortsgebiets, eine von der Bundesstraße (in Fahrtrichtung der Beteiligten gesehen) links abgehende Straße weist einen über 15 Meter breiten Einmündungstrichter auf und war (auch) durch einen gut sichtbaren Wegweiser auffällig.
[2] Der Erstbeklagte fuhr mit rund 70 km/h an der Spitze einer Kolonne und wollte nach links in diese Straße abbiegen. Unmittelbar nach Erreichen eines „Vorwegweisers“ 150 Meter vor der Kollisionsstelle reduzierte er die Geschwindigkeit, setzte den linken Blinker (der vor der Kollision damit zumindest sieben Sekunden lang aufleuchtete) und ordnete sein Fahrzeug „Richtung Fahrbahnmitte“ ein. Zu diesem Zeitpunkt sah er in den Spiegel und machte einen Schulterblick, wobei sich kein Fahrzeug in Überholposition befand. Der immer langsamer werdende, im Zeitpunkt der Kollision (nur) noch 20 km/h schnell fahrende VW war für die Lenker der nachfolgenden Fahrzeuge auffällig. Der Erstbeklagte wurde von einem (aus der Kolonne ausscherenden) Drittfahrzeug überholt und angehupt. Danach begann er ohne Vornahme eines zweiten Schulterblicks, der den Unfall vermieden hätte, mit dem Linkseinbiegen.
[3] Der Lenker des in der Kolonne fahrenden Ferrari setzte ebenfalls zum Überholen des VW an. Zum Überholen der gesamten, zu Beginn noch mit 70 km/h fahrenden Kolonne wäre „auf Höhe der Sperrlinie“ eine Überholsichtweite von 650 Metern erforderlich gewesen, wobei die tatsächliche Sichtweite (nur) 563 Meter betrug. Die für einen gefahrlosen Überholvorgang erforderlichen Tiefenabstände waren zu diesem Zeitpunkt nicht vorhanden. Nach diesem Zeitpunkt verbesserte sich die Überholsichtweite für den Lenker des Ferrari, dem ein unfallvermeidender Abbruch des Überholvorgangs jedenfalls möglich gewesen wäre.
[4] Die Klägerin begehrte die Zahlung von 70.495,80 EUR sA an von ihr nach Abzug des Selbstbehalts des Versicherungsnehmers gezahlten Reparaturkosten. Das Alleinverschulden treffe den Erstbeklagten, der unter Außerachtlassung der gebotenen Sorgfalt nach links abgebogen sei, ohne dies rechtzeitig anzuzeigen und auf den bereits in Überholposition befindlichen Ferrari zu achten. Der Erstbeklagte hätte vor dem Linksabbiegen den Nachfolgeverkehr nochmals beobachten müssen. Er sei unmittelbar vor dem Unfall von einem Drittfahrzeug überholt worden.
[5] Die Beklagten wendeten eine Gegenforderung von 6.870 EUR an Sachschaden und Ummeldespesen ein. Das Alleinverschulden treffe den Lenker des Ferrari, der ein unzulässiges Überholmanöver durchgeführt und trotz unklarer Verkehrssituation auch nicht abgebrochen habe. Er habe das ordnungsgemäß durchgeführte Linksabbiegemanöver des Erstbeklagten übersehen.
[6] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Das Alleinverschulden treffe den Lenker des Ferrari, der ein nach § 16 Abs 1 lit a und c StVO unzulässiges Überholmanöver eingeleitet habe. Der Erstbeklagte habe allen Anforderungen an ein ordnungsgemäßes Linksabbiegemanöver entsprochen. Es habe keine Veranlassung für einen Kontrollblick unmittelbar vor dem Abbiegen gegeben.
[7] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Der Lenker des Ferrari hätte sein Überholmanöver jedenfalls abbrechen müssen. Die Abbiegestelle des VW sei für ihn klar erkennbar gewesen. Dass der Erstbeklagte unmittelbar vor dem Linksabbiegen von einem Drittfahrzeug überholt worden sei, habe ihn nicht zu einem Kontrollblick verpflichtet.
[8] Gegen die Abweisung eines Zahlungsbegehrens von 31.812,90 EUR sA wendet sich die außerordentliche Revision der Klägerin mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn der Stattgebung des Klagebegehrens im bekämpften Umfang. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[9] Die Beklagten beantragen in der ihnen freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision mangels erheblicher Rechtsfrage zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[10] Die Revision ist wegen einer aufzugreifenden Fehlbeurteilung zulässig und teilweise berechtigt.
[11] Die Klägerin argumentiert, dass der Lenker des Ferrari ein zulässiges Überholmanöver eingeleitet habe, gesteht aber die Notwendigkeit des Abbruchs des Überholvorgangs und ein daraus resultierendes gleichteiliges Mitverschulden zu. Die Entscheidung des Berufungsgerichts weiche von der einen vergleichbaren Sachverhalt betreffenden Entscheidung 2 Ob 121/18k ab. Da der Erstbeklagte unmittelbar vor dem Linksabbiegen von einem Drittfahrzeug überholt worden sei, hätte er auf eine unklare Verkehrslage schließen und einen Kontrollblick vornehmen müssen.
[12] 1. Kein Streitpunkt im Revisionsverfahren ist die Anwendbarkeit österreichischen Sachrechts.
[13] 2. Den Lenker des Ferrari trifft ein von der Klägerin im Revisionsverfahren auch zugestandenes Verschulden am Zustandekommen des Verkehrsunfalls.
[14] 2.1. Ein Überholverbot nach § 16 Abs 1 lit a StVO liegt immer dann vor, wenn die bloße Möglichkeit einer Gefährdung oder Behinderung eines anderen Verkehrsteilnehmers besteht. Mehrere hintereinander fahrende Fahrzeuge dürfen nur dann überholt werden, wenn der Lenker sicher erkennen kann, dass er sein Fahrzeug ohne Gefährdung oder Behinderung wieder einordnen kann, wobei eine Behinderung schon dann vorliegt, wenn der andere Verkehrsteilnehmer zum Bremsen oder Ablenken genötigt wird (RS0074013). Bei der Prüfung der Zulässigkeit eines Überholmanövers ist auf dessen Beginn abzustellen (RS0073819). Ein Lenker hat den Versuch eines Überholmanövers abzubrechen und sich wieder hinter das vor ihm fahrende Fahrzeug einzureihen, sobald er auf der Überholstrecke ein Hindernis oder sonst die Möglichkeit einer Gefährdung erkennt (RS0074083).
[15] 2.2. Im Anlassfall kann dem Lenker des Ferrari in Ermangelung konkreter Feststellungen zum Beginn des Überholmanövers damit zwar nicht das Einleiten eines unzulässigen Überholmanövers, sehr wohl aber das Unterlassen des Abbruchs des Überholmanövers zum Vorwurf gemacht werden.
[16] 3. Entgegen der Rechtsansicht der Vorinstanzen ist dem Erstbeklagten ebenfalls ein Verschulden am Verkehrsunfall anzulasten.
[17] 3.1. Hat der Lenker eines Fahrzeugs seine Absicht, nach links abzubiegen, rechtzeitig angezeigt und sich davon überzeugt, dass niemand zum Überholen angesetzt hat, dann ist er grundsätzlich nicht verpflichtet, unmittelbar vor dem Abbiegen nach links noch einmal den nachfolgenden Verkehr zu beobachten. Er darf vielmehr darauf vertrauen, dass ein nachfolgender Fahrzeuglenker dieses Manöver wahrnehmen, sich vorschriftsmäßig verhalten und ihn rechts überholen werde. In diesem Fall braucht er auch an Kreuzungen nicht damit zu rechnen, links überholt zu werden (stRsp: RS0079255). Dieser Grundsatz gilt allerdings dann nicht, wenn besondere Gründe den Linksabbieger eine Gefahr erkennen lassen oder er damit rechnen muss, dass hinter ihm eine unklare Verkehrslage besteht (2 Ob 89/24p Rz 7 mwN).
[18] Eine Veranlassung zu einem Kontrollblick bejaht die Rechtsprechung etwa dann, wenn (a) der Lenker zwar blinkte, aber nicht zur Fahrbahnmitte hin eingeordnet war oder sich nicht einordnen konnte (2 Ob 89/24p Rz 8 mwN), (b) die Einmündung, in die abzubiegen beabsichtigt ist, für nachkommende Verkehrsteilnehmer schwer erkennbar ist (2 Ob 183/21g Rz 11) oder (c) der Lenker eine unklare Verkehrslage für den Nachfolgeverkehr schafft (2 Ob 121/18k Punkt 2. mwN).
[19] Das Schaffen einer solchen unklaren Verkehrslage liegt nach der Rechtsprechung etwa vor, wenn der Lenker so lange blinkte, dass die genaue Abbiegestelle unklar wurde (2 Ob 18/91), oder er zwar seine Absicht, nach links abzubiegen, rechtzeitig und ordnungsgemäß anzeigte, sich aber vor dem Einbiegen von zwei (bzw mehreren) nachkommenden PKW links überholen ließ (RS0073636; 2 Ob 141/68 ZVR 1969/168; 2 Ob 121/18k).
[20] 3.2. Im Anlassfall bestand zwar keine Unklarheit über den Abbiegeort und die Abbiegerichtung. Allerdings nahm der Erstbeklagte in Annäherung an die Unfallstelle eine ganz erhebliche Geschwindigkeitsverminderung vor und war im Zug des über relativ lange dauernden Abbiegemanövers von einem anderen PKW links überholt worden. Gerade dieses Überholmanöver und der durch das Betätigen der Hupe ausgedrückte Unmut des Lenkers des Drittfahrzeugs hätten dem Erstbeklagten das Vorliegen einer für den Nachfolgeverkehr unklaren Verkehrssituation nahe legen müssen. Er wäre daher zu einem weiteren Kontrollblick unmittelbar vor dem Linksabbiegen gehalten gewesen, zumal er den Nachfolgeverkehr letztmals mehr als sieben Sekunden vor Beginn des eigentlichen Abbiegevorgangs beobachtet hatte. Dass das erste Fahrzeug in der Kolonne (nur) von einem (und nicht mehreren) anderen Fahrzeug(en) überholt wurde, vermag eine von der Entscheidung 2 Ob 121/18k abweichende Beurteilung nicht zu rechtfertigen.
[21] 4. Das Fehlverhalten des Lenkers des Ferrari, der trotz auffällig langsam werdender Fahrzeugkolonne von seinem Überholmanöver nicht Abstand nahm, ist wesentlich stärker zu gewichten als das Unterlassen des Kontrollblicks durch den Erstbeklagten und rechtfertigt eine Verschuldensteilung von 3 : 1 zu seinen Lasten (so auch 2 Ob 121/18k in einem ungefähr vergleichbaren Fall).
[22] 5. Die Revision der Klägerin hat daher teilweise Erfolg. Die (ungekürzte) Höhe der Klage‑ und Gegenforderung ist im Revisionsverfahren nicht strittig, den Beginn des Zinsenlaufs haben die Beklagten nicht (substantiiert) bestritten.
[23] 6. Die Entscheidung über die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens beruht auf § 43 Abs 1 ZPO. Die Klägerin obsiegte mit rund 18 %, sodass sie 18 % der von ihr alleine getragenen Barauslagen ersetzt bekommt, den Beklagten aber 64 % der Vertretungskosten und 82 % der von diesen alleine getragenen Barauslagen zu ersetzen hat. Einwendungen nach § 54 Abs 1a ZPO wurden nicht erhoben, von Amts wegen zu berücksichtigen war die teilweise Rückzahlung der verzeichneten Kostenvorschüsse.
[24] Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens beruht auf § 43 Abs 1 und § 50 ZPO. Im Berufungsverfahren obsiegte die Klägerin wiederum zu rund 18 %, im Revisionsverfahren zu rund 40 %. Sie hat den Beklagten daher deren anteilige Vertretungskosten zu ersetzen, erhält aber anteiligen Ersatz der im Rechtsmittelverfahren angefallenen Pauschalgebühren.
[25] Insgesamt ergeben sich saldiert die aus dem Spruch ersichtlichen Kostenersatzbeträge.
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