European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0230DS00002.24G.0730.000
Rechtsgebiet: Strafrecht
Fachgebiet: Standes- und Disziplinarrecht der Anwälte
Spruch:
In Stattgebung der Berufung wird das angefochtene Erkenntnis aufgehoben und in der Sache selbst erkannt:
* wird von dem wider ihn erhobenen Vorwurf, er habe seine Kanzlei in der Zeit vom 7. Juli 2022 bis zum 7. August 2022 sowie weiters vom 7. Juli 2023 bis zum 15. August 2023 jeweils wegen Betriebsurlaubs geschlossen gehalten, sei ortsabwesend gewesen und habe Zustellungen nicht entgegengenommen, ohne anlässlich seiner längeren Abwesenheiten einen anderen Rechtsanwalt zu substituieren und die Substitution dem Ausschuss der Rechtsanwaltskammer für * anzuzeigen, und insofern gegen § 14 RAO und § 40 Abs 4 RL-BA 2015 verstoßen, freigesprochen.
Gründe:
[1] Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde Rechtsanwalt * wegen des oben (zum Freispruch) zitierten Verhaltens „des“ Disziplinarvergehens der Verletzung von Berufspflichten nach § 1 Abs 1 (zu ergänzen:) erster Fall DSt (iVm § 14 RAO und § 40 Abs 4 RL-BA 2015) schuldig erkannt und nach § 16 Abs 1 Z 2 DSt zu einer, unter Bestimmung einer dreijährigen Probezeit bedingt nachgesehenen (§ 16 Abs 2 letzter Satz DSt) Geldbuße von 2.000 Euro verurteilt.
Dazu traf der Disziplinarrat – teilweise im Rahmen der Beweiswürdigung – folgende wesentliche Feststellungen:
[2] Der Beschuldigte hielt seine Kanzlei vom 7. Juli 2022 bis einschließlich 7. August 2022 geschlossen, wobei während dieser Zeit bei Anrufen ein Tonband über die Schließung informierte. Zustellungen im Weg des ERV waren vom 7. Juli 2022 bis 24. Juli 2022 nicht möglich, vom 7. Juli 2022 bis zum 15. Juli 2022 scheiterten mehrere Zustellversuche der Rechtsanwaltskammer.
[3] Im Folgejahr hielt der Beschuldigte seine Kanzlei vom 7. Juli 2023 bis zum 15. August 2023 geschlossen, wobei Zustellungen im Weg des ERV ab dem 21. Juli 2023 nicht möglich waren. Wegen einer bis 14. August 2023 vermerkten „Ortsabwesenheit“ konnten (jedenfalls) ab dem 24. Juli 2023 auch keine Zustellungen per Post erfolgen.
[4] In Sommer 2023 war ein Zivilprozess anhängig, in dem der Beschuldigte als Beklagtenvertreter einschritt. Das Gericht fasste am 20. Juli 2023 einen Beschluss, gegen den ein Rekurs des Beklagten statthaft war. Die Zustellung an den Beschuldigten scheiterte wegen der Abmeldung vom ERV, ebenso am 25. Juli 2023 ein Zustellversuch mit der Post. Wirksam zugestellt wurde der Beschluss erst aufgrund einer weiteren gerichtlichen Verfügung am 21. August 2023.
[5] Der Beschuldigte hatte die Schließung der Kanzlei und deren Dauer jeweils zuvor der Kammer bekannt gegeben. Für die Zeit seiner Abwesenheiten hatte er keinen Substituten bestellt. Ob und gegebenenfalls welche Vorkehrungen er getroffen hatte, um für seine Mandanten erreichbar zu sein, war für den Disziplinarrat nicht feststellbar.
Rechtliche Beurteilung
[6] Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die gegen die Aussprüche über die Schuld (zur Geltendmachung von Nichtigkeitsgründen in deren Rahmen siehe RIS-Justiz RS0128656 [T1]) und die Strafe gerichtete Berufung des Beschuldigten.
[7] Entgegen dem Standpunkt der Verfahrensrüge (Z 4) wurden durch die Ablehnung (OZ 32 S 7) der in der Verhandlung am 22. November 2023 beantragten Vernehmung der Kammeramtsdirektorin Mag. * sowie der Rechtsanwälte Dr. * und Mag. * als Zeugen zum Beweis dafür, „dass es sich nach einheitlicher Standesauffassung bei den Zeiträumen laut dem Einleitungsbeschluss, welche gegenüber dem Disziplinarbeschuldigten als längere Abwesenheit vorgeworfen werden, um solche Zeiträume handelt, welche nach den in * vorherrschenden Standesauffassungen nicht mit einer längeren Abwesenheit gleichzusetzen sind, im Fall welcher besondere Maßnahmen zu treffen wären“ (OZ 32 S 6 f), Verteidigungsrechte nicht verletzt.
[8] Denn das Tatbild einer Berufspflichtverletzung ist in objektiver Hinsicht dann erfüllt, wenn gesatztes Recht oder verfestigte Standesauffassung eine Berufspflicht aufstellt und in Ausübung des Berufs (§ 2 RL-BA 2015) gegen diese verstoßen wird (vgl Engelhart/Hoffmann/Lehner/Rohregger/Vitek RAO11 § 1 DSt Rz 6 ff, 9 ff jeweils mwN).
[9] Die Auslegung von Gesetzesbegriffen (hier: des in § 14 RAO genannten Begriffs „längere Abwesenheit“) sowie die – gesatztem Recht zu entnehmenden – (Berufs-)Pflichten eines Rechtsanwalts im Fall einer mehrwöchigen Schließung seiner Kanzlei wegen Urlaubs stellen Rechtsfragen dar, deren Beantwortung der Rechtsprechung obliegen und die demnach nicht Gegenstand der Beweisaufnahme sind (RIS-Justiz RS0130194, RS0099342, RS0097540).
[10] Davon abgesehen hätte der Erfolg der Verfahrensrüge schon mit Blick auf das – vom Vizepräsidenten der Rechtsanwaltskammer *, Mag. *, gezeichnete – aktenkundige Schreiben des Ausschusses dieser Rechtsanwaltskammer vom 16. September 2022, mit dem der Beschuldigte anlässlich der verfahrensgegenständlichen urlaubsbedingten vierwöchigen Schließung seiner Kanzlei im Jahr 2022 auf § 14 RAO hingewiesen worden war, eines Antragsvorbringens dazu bedurft, warum die beantragte Beweisaufnahme das vom Antragsteller behauptete Ergebnis erwarten ließ (RIS‑Justiz RS0118444).
[11] Vorgesagtes trifft umso mehr auf die zum selben Beweisthema beantragte Einholung eines Sachverständigengutachtens aus dem Bereich der Arbeitsmedizin zu, hinsichtlich der die Tauglichkeit der Beweisführung gänzlich im Dunkeln blieb.
[12] Mit der Kritik an der Begründung des Disziplinarrats für die Ablehnung der beantragten Beweisaufnahmen, entfernt sich die Rüge vom Prüfungsmaßstab des herangezogenen Nichtigkeitsgrundes (RIS-Justiz RS0116749, RS0121628). Die in der Berufung nachgetragenen Argumente zur Antragsfundierung sind prozessual verspätet und daher unbeachtlich (RIS-Justiz RS0099618).
[13] Soweit in der Verhandlung am 28. Juni 2023 gestellte Anträge thematisiert werden (vgl OZ 15 S 4 ff), versagt der Einwand schon deshalb, weil er sich auf keine in der – zufolge Änderung der Senatsbesetzung (der Sache nach) – neu durchgeführten (§ 276a StPO iVm § 77 Abs 3 DSt) Verhandlung gestellten Anträge bezieht (RIS-Justiz RS0099049).
[14] Nominell nach § 281 Abs 1 Z 9 lit c StPO, in der Sache aber nach § 281 Abs 1 Z 8 StPO rügt der Beschuldigte ein Überschreiten des Einleitungsbeschlusses, weil ihm darin nicht vorgehalten worden sei, keinen Zugang zum ERV bereitgehalten zu haben, und weil der Tatzeitraum im Sommer 2023 nur mit „drei bis vier Wochen“, nicht jedoch im tatsächlich festgestellten Ausmaß von weit über einem Monat angegeben worden sei.
[15] Der Einleitungsbeschluss (§ 28 Abs 2 DSt) ist allerdings keine Anklageschrift im Sinn der StPO, sondern eine prozessleitende Verfügung, die das zu beurteilende Verhalten konkretisiert und den Prozessstoff auf Sachverhaltsebene eingrenzt (Lehner in Engelhart/Hoffmann/ Lehner/Rohregger/Vitek, RAO11 § 28 DSt Rz 2, § 49 DSt Rz 6/6). Der Sachverhalt ist im Einleitungsbeschluss so zu beschreiben, dass der Beschuldigte zweifelsfrei erkennen kann, worüber im weiteren Verfahren abgesprochen werden soll. Dazu ist es nicht erforderlich, dass jedes Detail der Tathandlung beschrieben wird (RIS-Justiz RS0056014 [T9] = RS0056153 [T9]). Mit Zustimmung des Beschuldigten und des Kammeranwalts kann die Verhandlung auch auf Tathandlungen ausgedehnt werden, die vom ursprünglichen Einleitungsbeschluss nicht erfasst waren (§ 36 Abs 2 DSt). Insgesamt ist entscheidend, dass der Beschuldigte erkennen kann, hinsichtlich welches Sachverhalts ein disziplinarrechtlicher Verfolgungswille besteht, und dass er insofern die Möglichkeit hat, seine Verteidigung auf die konkreten Anschuldigungspunkte auszurichten und die erforderlichen Beweismittel beizuschaffen (RIS-Justiz RS0056978 [T15, T20, T21]), dies zur Wahrung seiner Rechte nach Art 6 EMRK (RIS-Justiz RS0056978 [T22]).
[16] Im vorliegenden Fall war für den Beschuldigten aufgrund der Sachverhaltsschilderung im Einleitungsbeschluss vom 18. April 2023 (OZ 8) und der Thematisierung des Abschaltens des ERV in der Verhandlung vom 28. Juni 2023 (OZ 15) zweifelsfrei erkennbar, dass Verfahrensgegenstand zunächst der Vorwurf des Schließens der Kanzlei im ersten Tatzeitraum verbunden mit der Nichtannahme von Zustellungen zufolge (zumindest) teilweiser Abschaltung des ERV war. Dieser ursprüngliche Verfahrensgegenstand wurde in der Verhandlung vom 2. Oktober 2023 (OZ 24) mit Zustimmung des Beschuldigten um den Vorwurf erweitert, dass er die Kanzlei im Sommer 2023 „für drei bis vier Wochen, jedenfalls für eine zwei Wochen weit übersteigende Zeit, geschlossen hielt, ortsabwesend war und Zustellungen nicht entgegennahm, ohne angesichts dieser längeren Abwesenheit einen anderen Rechtsanwalt zu substituieren und die Substitution […] anzuzeigen“. Dass davon auch der Vorwurf der Abschaltung des ERV umfasst war, konnte aufgrund der Erörterung der der Ausdehnung zugrunde liegenden Zustellprobleme in einem Zivilprozess für den Beschuldigten nicht zweifelhaft sein. Ebenso bestand kein Zweifel, dass sich der Verfolgungswille – ungeachtet der Nennung eines Zeitraums von (nur) „drei bis vier Wochen“ – auf die gesamte Kanzleischließung des Beschuldigten im Sommer 2023 bezog, wobei deren Dauer aufgrund der Mitteilung des Beschuldigten an die Kammer vom 22. Mai 2023 nicht strittig war.
[17] Nach Vornahme der Ausdehnung wurde die Verhandlung „zur Ermöglichung der Verteidigungsrechte des Beschuldigten“ auf unbestimmte Zeit erstreckt (OZ 23 S 3). Eine nach § 281 Abs 1 Z 8 StPO relevante Verletzung der Verteidigungsrechte liegt auf dieser Grundlage nicht vor.
[18] Die weitere Rüge, der Spruch der schriftlichen Ausfertigung „überschreite“ in Bezug auf die Dauer der Kanzleischließung auch das mündlich verkündete Erkenntnis, ist in der Berufung nicht näher begründet und entzieht sich daher einer inhaltlichen Beurteilung. Zudem könnte der – in der Berufung nicht ausdrücklich genannte – Nichtigkeitsgrund des § 281 Abs 1 Z 3 StPO insofern nur erfüllt sein, wenn die Abweichung die in § 260 Abs 1 Z 1 bis 3 StPO (iVm § 77 Abs 3 DSt bzw § 38 Abs 2 DSt) genannten Inhalte beträfe (vgl Ratz,WK-StPO § 281 Rz 280; RIS-Justiz RS0098867; Lehner in Engelhart et al, RAO11 § 49 DSt Rz 6/2). Das trifft hier nicht zu, weil die im Spruch genannte Dauer der Kanzleischließung keine Bedeutung für die Individualisierung der Tat hat und als solche, wie bei der Behandlung der Rechtsrüge zu zeigen sein wird, für die Subsumtion des festgestellten Verhaltens ohnehin unerheblich ist (RIS-Justiz RS0117435 [insb T13]).
[19] Die – vor der Rechtsrüge zu behandelnde (Ratz, WK-StPO § 476 Rz 9) – Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld (im engeren Sinn; § 464 Z 2 erster Fall StPO) vermag weder mit dem – wenn auch grundsätzlich richtigen, jedoch nur auf einen Teil der beweiswürdigenden Erwägungen Bezug nehmenden –Einwand, aus den Screenshots über erfolglose ERV-Zustellversuche der Rechtsanwaltskammer am 13. und 18. Juli 2022 (vgl Beilage zum Protokoll OZ 32) könne nur auf eine Abschaltung des ERV an diesen beiden Tagen geschlossen werden, noch mit dem Verweis auf die Angaben des Beschuldigten in der Verhandlung am 28. Juni 2023 zum Zeitraum der ERV-Abschaltung im Jahr 2022 (OZ 14 S 2 f) Bedenken gegen die – aus einer vernetzten Betrachtung der angeführten Screenshots, dem Schreiben der Rechtsanwaltskammer vom 16. September 2022 (Beilage zu OZ 1) und den bezughabenden Angaben des Beschuldigten erschlossenen (ES 3, ES 5) – Feststellungen des Disziplinarrats zum Zeitraum der Nichtteilnahme am elektronischen Rechtsverkehr zu wecken:
[20] Der Disziplinarrat verwies nämlich insofern zunächst auf konkrete Fälle, in denen Zustellungen durch das Gericht oder durch das Sekretariat der Rechtsanwaltskammer nicht erfolgen konnten, weil sich der Beschuldigte vom ERV abgemeldet und (im zweiten Tatzeitraum) auch die Postzustellung durch Bekanntgabe der Ortsabwesenheit unmöglich gemacht hatte. Dabei begegnet auch die Ableitung der Annahme, dass im Zivilprozess die Zustellung des Beschlusses vom 20. Juli 2023 zunächst (und zwar vergeblich) im Weg des ERV versucht wurde, aus den aktenkundigen, in der mündlichen Verhandlung verlesenen Urkunden (vgl die Sachverhaltsdarstellung des Anzeigers Rechtsanwalt * vom 26. September 2023 samt Beilagen) keinen Bedenken. Daraus ergibt sich nämlich, dass das Gericht die nachweisliche Zustellung an beide Parteienvertreter verfügt hatte. Beim Gegenvertreter gelang diese Zustellung, beim Beschuldigten fehlt ein Zustellnachweis im ERV, und eine wenige Tage später versuchte Postzustellung scheiterte ebenfalls. Dieser Geschehensablauf ist – vom Disziplinarrat (implizit) zutreffend erkannt – ein zwingendes Indiz für den Versuch einer ERV-Zustellung auch an den Beschuldigten, da schlechthin kein Grund erkennbar ist, warum bei ihm – entgegen der ständigen Gerichtspraxis aufgrund der ERV‑Pflicht von Anwälten – sofort eine Postzustellung versucht worden sein sollte. Davon abgesehen erfolgt – gerichtsnotorisch – im Falle der Unmöglichkeit einer verfügten Zustellung im ERV-Weg oder einer E-Zustellung (etwa – wie hier – aufgrund einer Sperre) regelmäßig automatisch eine Umleitung auf die Poststraße.
[21] Dass der Disziplinarrat aus der Verantwortung des Beschuldigten, der – von der Berufung übergangen – auch ausdrücklich ausgeführt hatte, dass das „Abstellen der Zustellungsmöglichkeit die einzige Möglichkeit für einen als Einzelunternehmer tätigen Rechtsanwalt [sei], ohne Gefährdung von Mandanteninteressen Urlaub zu nehmen“ (OZ 30), erschlossen hat, dass er diese Möglichkeit für die Zeit der beiden von ihm der Kammer bekannt gegebenen und unstrittig urlaubsbedingten Kanzleischließungen auch genutzt hat, ist gleichfalls nicht zu beanstanden. Daran vermag auch die von der Berufung hervorgehobene (spätere) Aussage, sich nicht an die Dauer der Abschaltung des ERV erinnern zu können, nichts zu ändern.
[22] Indem der Beschuldigte weiters unter Berufung auf seine diesbezüglichen Ausführungen (vgl OZ 32 S 2) behauptet, er habe „alle Maßnahmen getroffen, um seine Mandanten bestmöglich zu schützen“, zeigt er keine Umstände auf, die geeignet wären, Zweifel an den Feststellungen zu entscheidenden Tatsachen zu wecken (vgl dazu gleich unten).
Der Beantwortung der Rechtsrüge (Z 9 lit a) ist voranzustellen:
[23] Bei der Beurteilung der Frage des Vorliegens einer aus einer (hier urlaubsbedingten) Kanzleischließung resultierenden Berufspflichtverletzung ist zwischen der Schließung der Kanzlei als solcher und der (hier damit verbundenen) Verhinderung der Vornahme von Zustellungen zu unterscheiden.
[24] Geht es um die (bloße) Abwesenheit des Rechtsanwalts dürfen dadurch weder Interessen der Mandanten gefährdet (§ 9 Abs 1 erster Satz RAO) noch die Sorgfalt und Umsicht der Kanzleiführung (§ 40 Abs 1 und Abs 2 RL-BA 2015) beeinträchtigt werden. Daraus folgend hat der Rechtsanwalt im Verhinderungsfall zur Vermeidung von Nachteilen für seine Mandanten einen anderen Rechtsanwalt zu substituieren, wobei die Substitution im Falle andauernder Verhinderung oder längerer Abwesenheit dem Ausschuss der Rechtsanwaltskammer anzuzeigen ist (Engelhart/Hoffmann/Lehner/Rohregger/Vitek, RAO11§ 14 RAO Rz 4 und 22; RIS‑Justiz RS0071988, RS0056549). Eine Urlaubsbewilligung benötigt ein Rechtsanwalt – selbst im Falle einer längeren Abwesenheit – zwar nicht (§ 14 letzter Satz RAO), er hat aber – im Sinn der ihn nach den §§ 9 Abs 1, 14 RAO, § 40 Abs 1 und Abs 2 RL-BA 2015 treffenden Pflichten – dafür Sorge zu tragen, dass seinen Mandanten durch seine Abwesenheit keine Nachteile entstehen (RIS-Justiz RS0071988 [T2]). Davon wäre – abgesehen von eindeutigen Fällen wie dem Versäumen von Fristen – dann auszugehen, wenn der Rechtsanwalt im Rahmen bestehender Mandatsverhältnissse auch in dringenden Fällen nicht erreichbar wäre und dafür auch nicht durch Substitution Vorsorge getroffen hätte. Werden die Interessen des Mandanten dagegen durch geeignete Maßnahmen gewahrt, steht der (vorübergehenden) Schließung der Kanzlei, etwa für Urlaubszwecke, kein gesetzliches Verbot entgegen (20 Ds 12/20z [Rz 6]).
[25] Davon zu unterscheiden ist dieAbmeldung vom ERV (dazu aus technischer Sicht Moser, ERV‑Rückverkehrssperre, AnwBl 2024/204) und die (hier damit im zweiten Tatzeitraum korrelierende) Bekanntgabe der Ortsabwesenheit bei der Post:
[26] Rechtsanwälte sind nach § 89c Abs 5 Z 1 GOG (nach Maßgabe der hier unstrittig vorhandenen technischen Möglichkeiten) zur Teilnahme am ERV verpflichtet, was nach § 89a GOG nicht nur das Anbringen von Eingaben, sondern auch die Entgegennahme von Zustellungen erfasst („Rückverkehr“). Damit übereinstimmend ist der Rechtsanwalt nach § 9 Abs 1a RAO verpflichtet, entsprechend den technischen und organisatorischen Möglichkeiten und den Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege Sorge für die zur Wahrung, Verfolgung und Durchsetzung der ihm anvertrauten Interessen notwendigen Einrichtungen, insbesondere um sich im Verkehr mit Gerichten des elektronischen Rechtsverkehrs zu bedienen, zu tragen.
[27] Auf dieser Grundlage ist eine vorübergehende Abmeldung vom ERV (Rückverkehrssperre) jedenfalls dann disziplinär, wenn dadurch Interessen von Mandanten des Rechtsanwalts nicht mehr ordnungsgemäß verfolgt werden können (20 Ds 12/20z; RS0119857 [T2]; vgl auch 24 Ds 2/18f [zur Verpflichtung zur Substitution in dringenden Angelegenheiten]). Dabei genügt es, wenn der Rechtsanwalt aufgrund anhängiger Verfahren damit rechnen muss, dass die Abmeldung vom ERV eine solche Folge haben kann. Richtig ist zwar, dass bei Unzustellbarkeit einer Entscheidung keine Notfristen ausgelöst werden, sodass Mandanteninteressen unter dem Blickwinkel des Versäumens solcher Fristen nicht gefährdet sind. Allerdings kann die Verzögerung der Zustellung für den Mandanten aus anderen Gründen nachteilig sein, etwa wenn wegen verspäteter Kenntnis vom Eintritt der Vollstreckbarkeit eine im Einzelfall dringende Durchsetzungsmaßnahme vorerst unterbleibt oder wenn aufgrund einer Entscheidung (etwa in einer Haftsache) dringend weitere Anträge zu stellen sind. Sind solche Zustellungen aufgrund anhängiger Verfahren zu erwarten, so begründet schon eine kurzfristige Rückverkehrssperre eine Berufspflichtverletzung zufolge (solcherart konkreter) Gefährdung von Mandanteninteressen. In solchen Fällen wird der Rechtsanwalt daher durch geeignete Maßnahmen die Zustellung zu ermöglichen und das Setzen allenfalls erforderlicher Maßnahmen sicherzustellen haben.
[28] Die Verpflichtung, Zustellungen im Weg des ERV entgegenzunehmen, geht aber (auch) aus standesrechtlicher Sicht über die Wahrung von Interessen der (eigenen) Mandanten des Rechtsanwalts hinaus. Aus der Verpflichtung in § 89c Abs 5 Z 1 GOG und der Bezugnahme auf die Erfordernisse einer geordneten Rechtspflege in § 9 RAO ist abzuleiten, dass diese Verpflichtung ganz allgemein die geordnete und zügige Abwicklung von Verfahren sicherstellen soll, und zwar im Interesse der Behörden, die Zustellungen vornehmen, und der (anderen) Verfahrensbeteiligten.
[29] Das gilt umso mehr, als Zustellungen bei Vorliegen einer Prozessvollmacht oder bei Bestellung als Verteidiger wirksam nur an den Rechtsanwalt, nicht aber an die Partei vorgenommen werden können. Das „Umgehen“ eines nicht erreichbaren Rechtsanwalts durch unmittelbare Zustellung an die Partei ist daher – aus guten Gründen – nicht möglich. Diese besondere Stellung des Rechtsanwalts wird durch die gesetzlichen Regelungen zur Anwalts- oder Verteidigerpflicht verstärkt, die zwar primär dem Schutz der Partei dienen, aber mittelbar doch auch den Anwaltsstand wirtschaftlich stützen. All das begründet eine sachliche Rechtfertigung für die Annahme von Berufspflichten, die unabhängig von konkreten Mandanteninteressen in Bezug auf eine geordnete Rechtspflege bestehen.
[30] Daraus folgt, dass eine Berufspflicht auch dann verletzt sein kann, wenn durch die Abmeldung vom ERV in anhängigen Verfahren ganz allgemein (nicht nur für den eigenen Mandanten) die Gefahr besteht, dass das Nichtauslösen von Fristen (oder die Unmöglichkeit einer Ladung) zu Verzögerungen führt. Allerdings ist insofern – zumal mit Blick auf kleine Anwaltskanzleien – keine permanente Erreichbarkeit zu fordern, vielmehr hat eine Interessenabwägung zu erfolgen (20 Ds 12/20z, RIS‑Justiz RS0133576). Dabei steht dem Interesse am Unterbleiben solcher Verzögerungen das Interesse des Anwalts an einem ungestörten, auch längeren Urlaub und – wenngleich mit geringerem Gewicht – am Unterbleiben der mit der Bestellung eines Substituten verbundenen organisatorischen und finanziellen Belastungen gegenüber.
[31] Auf dieser Grundlage liegt jedenfalls dann eine Berufspflichtverletzung vor, wenn sich ein Rechtsanwalt vom ERV abmeldet, um eine in einem konkreten Verfahren zu erwartende Zustellung zu verhindern und damit den Lauf von Fristen oder den Eintritt der Vollstreckbarkeit einer Entscheidung bewusst zu vereiteln. Abgesehen von solchen Missbrauchsfällen ist aber die mit einer kurzfristigen Rückverkehrssperre verbundene Unmöglichkeit von Zustellungen im Regelfall aufgrund der genannten Interessen des Anwalts hinzunehmen, wobei als Höchstgrenze – da dem Anwalt bei längerer Abwesenheit die Bestellung eines Substituten zugemutet werden kann – eine etwa zweiwöchige Unterbrechung angesehen werden kann (20 Ds 12/20z). Das gilt freilich nicht, wenn durch die Rückverkehrssperre zu erwartende Zustellungen in anhängigen eilbedürftigen Verfahren (etwa Haftsachen, Verfahren zur Erlassung einer einstweiligen Verfügung oder dringende Sorgerechtssachen) verhindert werden könnten. In solchen Fällen wiegt das Interesse der Allgemeinheit und der anderen Beteiligten an einer nicht durch Zustellprobleme behinderten Rechtspflege jedenfalls schwerer als jenes des Anwalts an einem ungestörten Urlaub und an der Nichtbestellung eines Substituten.
[32] Ausgehend von diesen Grundsätzen zeigt die Rechtsrüge (Z 9 lit a) im Ergebnis zutreffend auf, dass die Feststellungen des angefochtenen Erkenntnisses die rechtliche Annahme einer Verletzung von Berufspflichten in Bezug auf die Kanzleischließung von 7. Juli 2022 bis 7. August 2022 nicht zu tragen vermögen.
[33] Insoweit hat der Disziplinarrat nämlich nicht festgestellt, dass auch nur ein Verfahren anhängig gewesen wäre, in dem die Unzustellbarkeit einer Entscheidung einem Mandanten zum Nachteil gereichen hätte können, oder durch die Nichtteilnahme am ERV Mandanteninteressen des Beschuldigten auf andere Weise gefährdet worden wären. Ob (und bejahendenfalls welche) Maßnahmen im oben dargestellten Sinn der Beschuldigte vor Urlaubsantritt ergriffen hat, vermochte der Disziplinarrat nämlich nicht festzustellen, womit von einer durch Nichterreichbarkeit begründeten Gefährdung von Mandanteninteressen gerade nicht mit der nötigen Sicherheit auszugehen ist. Aus seiner (bloßen) Ortsabwesenheit resultiert daher gleichfalls kein disziplinarrechtlich relevanter Vorwurf.
[34] Die damit alleine verbleibende Unmöglichkeit von Zustellungen im ERV vom 7. Juli (Donnerstag) 2022 bis 24. Juli (Sonntag) 2022, überschreitet die nach dem Vorgesagten im Regelfall geltende Zwei-Wochen-Frist nur so knapp, dass darin (gerade noch) keine Berufspflichtverletzung zu erblicken ist.
[35] Dieser Rechtsfehler führt insoweit zur Aufhebung des diesbezüglichen Schuldspruchs und – da nach der Aktenlage weitergehende Sachverhaltsannahmen nicht zu erwarten sind – zur Fällung eines Freispruchs.
[36] Ob die für diesen Zeitraum festgestellten Zustellversuche durch die Rechtsanwaltskammer überhaupt in Verfahren erfolgten, in denen für den Beschuldigten ERV‑Pflicht bestand (vgl dazu 20 Ds 12/20z [Rz 9]: Treuhandstatut), kann daher dahingestellt bleiben.
[37] Nicht im Recht ist dagegen die auf den inkriminierten Zeitraum vom 7. Juli 2023 bis zum 15. August 2023 bezogene Rechtsrüge (Z 9 lit a).
[38] Sie weist zwar – aufgrund der eben angesprochenen Negativfeststellungen zu vom Beschuldigten vor der Kanzleischließung gesetzten Maßnahmen – an sich zutreffend darauf hin, dass den Sachverhaltsannahmen des Disziplinarrats auch insoweit eine durch die Abmeldung vom ERV bewirkte konkrete Gefährdung von Interessen des Mandanten des Beschuldigten nicht zu entnehmen ist.
[39] Wohl aber war nach den Feststellungen im Sommer 2023 zumindest ein Verfahren anhängig, in dem mit einer Zustellung zu rechnen war (die auch tatsächlich versucht wurde). Zwar wäre der Lauf der durch diese Zustellung ausgelösten Frist nach § 222 ZPO bis zum 17. August 2023 gehemmt gewesen. Bei wirksamer Zustellung hätte die Frist aber am 31. August 2023 geendet. Die Unmöglichkeit der Zustellung führte zur Notwendigkeit eines weiteren Zustellversuchs, der erst nach dem 17. August 2023 erfolgte, und damit zu Verzögerungen im Verfahren. Die Gefahr einer Verzögerung bestand daher trotz der im konkreten Fall anwendbaren Fristenhemmung nach § 222 ZPO. Die mehr als dreiwöchige Rückverkehrssperre war demzufolge angesichts des anhängigen Verfahrens geeignet, zu Verzögerungen und einem zusätzlichen Aufwand in der Rechtspflege zu führen. Dass zudem wegen der Bekanntgabe der Ortsabwesenheit auch keine Zustellung auf dem Postweg möglich war, hat insofern keine entscheidende Bedeutung, weil – nach dem Vorgesagten - allein die Verletzung der ERV‑Pflicht als Berufspflichtverletzung zu werten ist.
[40] Letztendlich kommt jedoch in Bezug auf dieses verbleibende Disziplinarvergehen der Reklamation des besonderen Strafausschließungsgrundes nach § 3 DSt (Z 9 lit b) Berechtigung zu.
[41] Gemäß § 3 DSt ist ein Disziplinarvergehen vom Disziplinarrat nicht zu verfolgen, wenn das Verschulden geringfügig ist und das inkriminierte Verhalten keine oder nur unbedeutende Folgen nach sich gezogen hat.
[42] Bei dieser Beurteilung war ins Kalkül zu ziehen, dass zum Zeitpunkt der urlaubsbedingten Kanzleischließung bloß ein Zivilverfahren anhängig war, in dem der Beschuldigte als Vertreter einer der Parteien einschritt, und dass die – der Rechtsanwaltskammer zudem bekannt gegebene – Nichtteilnahme am ERV fast gänzlich in den von § 222 ZPO für die Fristenhemmung normierten Zeitraum fiel. Weil durch die Unzustellbarkeit des in Rede stehenden Beschlusses demnach auch bloß eine kurzfristige Verfahrensverzögerung bewirkt wurde, ist zum einen der konkrete Unrechtsgehalt des inkriminierten Geschehens im Verhältnis zu Durchschnittsfällen einer derartigen Deliktsverwirklichung gerade noch als gering einzustufen, zum anderen können auch die Folgen des zur Last gelegten Verhaltens als geringfügig betrachtet werden.
[43] Mit Blick auf den Wegfall des vom Disziplinarrat angenommenen Erschwerungsgrundes der „wiederholten Begehung im Jahr 2022 und 2023“ und den bisher ordentlichen Lebenswandel des Beschuldigten sind insgesamt alle Voraussetzungen für ein Vorgehen nach § 3 DSt erfüllt.
[44] Es war daher das angefochtene Erkenntnis auch im auf den Tatzeitraum Sommer 2023 bezogenen Schuldspruch aufzuheben und mit Freispruch vorzugehen.
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