European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0110OS00075.25A.0729.000
Rechtsgebiet: Strafrecht
Spruch:
(A) Im Verfahren AZ 42 Hv 141/17d des Landesgerichts Wiener Neustadt verletzen
(1) der Beschluss jenes Gerichts vom 2. April 2020 (ON 128) im unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren erfolgten Ausspruch bedingter Strafnachsicht, soweit er sich auf in den Verfahren AZ 46 Hv 100/12x und AZ 46 Hv 23/13z je des Landesgerichts Wiener Neustadt verhängte Freiheitsstrafen bezieht, § 40 Abs 1 SMG sowie
(2) der Beschluss jenes Gerichts vom 23. Juli 2021 (ON 144) im Ausspruch des Absehens vom Widerruf der mit dem vorerwähnten Beschluss (1) gewährten bedingten Strafnachsicht und der Verlängerung der dazu bestimmten Probezeit auf fünf Jahre § 53 Abs 1 erster Satz und Abs 3 erster Satz StGB.
Der Beschluss vom 23. Juli 2021 (ON 144), der im Übrigen unberührt bleibt, wird im Umfang der Probezeitverlängerung ersatzlos aufgehoben.
(B) Im Verfahren AZ 11 U 102/20i des Bezirksgerichts Baden verletzt der zugleich mit dem Urteil jenes Gerichts vom 19. Jänner 2021 ergangene Beschluss (ON 24 S 3)
auf Absehen vom Widerruf der mit Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 2. April 2020 (Punkt A 1) gewährten bedingten Strafnachsicht in Ansehung der in den Verfahren AZ 46 Hv 100/12x und AZ 46 Hv 23/13z, je des Landesgerichts Wiener Neustadt, verhängten Freiheitsstrafen sowie
auf Vorbehalt der Entscheidung über den Widerruf derselben in Ansehung der im Verfahren AZ 42 Hv 141/17d des Landesgerichts Wiener Neustadt verhängten Freiheitsstrafe
Gründe:
[1] Im Verfahren AZ 42 Hv 141/17d des Landesgerichts Wiener Neustadt wurde * L* mit (unbekämpft in Rechtskraft erwachsenem) Urteil der Einzelrichterin vom 6. November 2017 (ON 31) des Verbrechens des verbrecherischen Komplotts nach §§ 15, 277 Abs 1 StGB schuldig erkannt und hiefür zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten verurteilt. Zugleich erging der Beschluss auf Widerruf zweier dem Genannten mit früheren Urteilen gewährter bedingter Nachsichten (ON 31 S 3), und zwar aus AZ 46 Hv 100/12x (einer [Zusatz-]Freiheitsstrafe von zwei Monaten) und aus AZ 46 Hv 23/13z (einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten) jeweils des Landesgerichts Wiener Neustadt.
[2] Mit Beschluss vom 19. Jänner 2018 (ON 49) gewährte die Einzelrichterin dem Verurteilten hinsichtlich dieser (gemeinsam zu vollziehenden) Freiheitsstrafen (aus AZ 42 Hv 141/17d, AZ 46 Hv 100/12x und AZ 46 Hv 23/13z je des Landesgerichts Wiener Neustadt) Aufschub des Strafvollzugs nach § 39 Abs 1 SMG für die Dauer von zwei Jahren.
[3] Mit Beschluss vom 2. April 2020 (ON 128) sah die Einzelrichterin die mit ihrem eingangs genannten Urteil (ON 31) verhängte Freiheitsstrafe sowie die beiden weiteren, aus AZ 46 Hv 100/12x und AZ 46 Hv 23/13z jeweils des Landesgerichts Wiener Neustadt resultierenden Freiheitsstrafen nach § 40 Abs 1 SMG unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nach. Zugleich erteilte sie dem Verurteilten Weisungen (§§ 50, 51 StGB) und ordnete die Bewährungshilfe (§§ 50, 52 StGB) an.
[4] Im Verfahren AZ 11 U 102/20i des Bezirksgerichts Baden wurde L* mit (unbekämpft in Rechtskraft erwachsenem) Urteil vom 19. Jänner 2021 (ON 24) eines am 20. Dezember 2019 begangenen Vergehens nach § 50 Abs 1 Z 3 WaffG schuldig erkannt und hiefür zu einer Strafe verurteilt. Zugleich beschloss das Bezirksgericht, „[g]emäß § 494a Abs 1 Z 2 StPO iVm § 53 Abs 3 StGB“ vom Widerruf der mit Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 2. April 2020 (ON 128) gewährten bedingten Nachsicht der zu AZ 46 Hv 100/12x und zu AZ 46 Hv 23/13z verhängten Strafen abzusehen; eine Entscheidung über den Widerruf der (ebenfalls mit jenem Beschluss ON 128 gewährten) bedingten Nachsicht der zu AZ 42 Hv 141/17d ausgesprochenen Freiheitsstrafe behielt es „[g]emäß § 494a Abs 2 letzter Satz StPO“ dem Landesgericht Wiener Neustadt vor (ON 24 S 3 der U‑Akten = ON 137 S 3 der Hv-Akten).
[5] Aus Anlass dieser Entscheidung fasste die Einzelrichterin des Landesgerichts Wiener Neustadt (im Verfahren AZ 42 Hv 141/17d) am 23. Juli 2021 den Beschluss (ON 144), vom Widerruf „der“ mit Beschluss desselben Gerichts vom 2. April 2020 (ON 128) gewährten bedingten Strafnachsicht „gemäß § 53 Abs 1 StGB iVm § 495 StPO“ abzusehen, jedoch „gemäß § 53 Abs 3 StGB“ die dazu bestimmte Probezeit auf fünf Jahre zu verlängern. Zugleich erteilte sie dem Verurteilten eine zusätzliche Weisung (§§ 50, 51 StGB).
[6] Dieser Ausspruch des Absehens vom Widerruf und der Probezeitverlängerung bezieht sich – nach der Begründung dieses Beschlusses unmissverständlich – auf die (mit Beschluss ON 128 gewährte) bedingte Nachsicht nicht nur der im Verfahren AZ 42 Hv 141/17d, sondern auch der in den Verfahren AZ 46 Hv 100/12x und AZ 46 Hv 23/13z jeweils des Landesgerichts Wiener Neustadt ausgesprochenen Freiheitsstrafen.
[7] Mit Beschluss vom 31. Jänner 2025 (ON 179) widerrief der (nach Richterwechsel) im Verfahren AZ 42 Hv 141/17d des Landesgerichts Wiener Neustadt befasste Einzelrichter die dem Verurteilten mit Beschluss vom 2. April 2020 (ON 128) gewährte bedingte Strafnachsicht (ausdrücklich) hinsichtlich aller drei in Rede stehender Freiheitsstrafen(‑teile) wegen mutwilligen Weisungsbruchs.
[8] Über eine dagegen gerichtete Beschwerde des Verurteilten (ON 180 der Hv-Akten) hat das Oberlandesgericht Wien bislang nicht entschieden.
Rechtliche Beurteilung
[9] Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, stehen die im Verfahren AZ 42 Hv 141/17d ergangenen Beschlüsse des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 2. April 2020 (ON 128) und vom 23. Juli 2021 (ON 144), sowie der im Verfahren AZ 11 U 102/20i des Bezirksgerichts Baden ergangene Beschluss vom 19. Jänner 2021 (ON 24 S 3) mit dem Gesetz nicht im Einklang:
[10] (A 1) Die Zuständigkeit zur Entscheidung über den Aufschub (hier nach § 39 Abs 1 SMG) des Vollzugs der im Urteil verhängten (unbedingten) Freiheitsstrafe und jener Strafen, auf die sich eine gleichzeitig ergangene Widerrufsentscheidung bezieht, kommt – gebündelt – dem „erkennenden“ (§ 397 letzter Satz StPO; § 7 Abs 1 StVG), also jenem Gericht zu, das (die neue Strafe und) den Widerruf ausgesprochen hat (RIS-Justiz RS0101517 [T1], im gegebenen Zusammenhang insbesondere 11 Os 98/19z, SSt 2019/72, EvBl 2020/83, 560 mwN).
[11] Anderes normiert das Gesetz in Bezug auf die – unter den Voraussetzungen des § 40 Abs 1 SMG zu gewährende – nachträgliche bedingte Nachsicht jeder einzelnen dieser (zuvor gemeinsam vom „erkennenden“ Gericht nach § 39 Abs 1 SMG aufgeschobenen) Strafen:
[12] Zur Entscheidung hierüber ist gemäß § 40 Abs 1 erster Satz SMG (nicht das „erkennende“, sondern) jenes Gericht zuständig, das „in erster Instanz erkannt hat“. Die diesbezügliche Entscheidungskompetenz kommt somit – wie nach dem insoweit wortgleichen § 410 Abs 1 StPO – jeweils dem Gericht zu, das die betreffende Sanktion ursprünglich ausgesprochen hat (11 Os 98/19z [mwN]; 12 Os 34/21y, 35/21w, 36/21t [Rz 15]; RIS-Justiz RS0112525 [T1]; siehe auch [zu § 410 Abs 1 StPO] 11 Ns 22/17z und 12 Os 67/19y).
[13] Über die nachträgliche bedingte Nachsicht (§ 40 Abs 1 SMG) der in den Verfahren AZ 46 Hv 100/12x und AZ 46 Hv 23/13z (jeweils des Landesgerichts Wiener Neustadt) ausgesprochenen Freiheitsstrafen wäre daher vorliegend von dem im jeweiligen Verfahren (nach der Geschäftsverteilung) zuständigen Richter – und nicht von der im Verfahren AZ 42 Hv 141/17d des genannten Gerichts befassten Richterin – zu entscheiden gewesen. Insoweit verletzt deren Beschluss vom 2. April 2020 (ON 128) § 40 Abs 1 SMG.
[14] (B) Nach § 53 Abs 1 erster Satz StGB kommt ein auf neuerliche Delinquenz gegründeter Beschluss auf (Absehen vom) Widerruf einer (auch nach § 40 Abs 1 SMG gewährten – vgl § 40 Abs 3 SMG) bedingten Strafnachsicht (und Verlängerung der Probezeit – § 53 Abs 3 erster Satz StGB) – abgesehen von der hier nicht aktuellen Ausnahme des § 53 Abs 1 letzter Satz StGB – nur im Fall der Verurteilung des Rechtsbrechers wegen einer während der Probezeit begangenen strafbaren Handlung in Betracht (RIS-Justiz RS0092019, RS0112811).
[15] Die (einzige) strafbare Handlung, derentwegen er mit Urteil des Bezirksgerichts Baden vom 19. Jänner 2021 (ON 24 der U‑Akten) schuldig erkannt wurde, hat L* schon begangen, bevor die mit Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 2. April 2020 (ON 128 der Hv‑Akten) bestimmte Probezeit zu laufen begann (§ 49 erster Satz StGB).
[16] Demzufolge verletzt der zugleich mit jenem Urteil ergangene Beschluss des Bezirksgerichts Baden (ON 24 S 3 der U-Akten) in den Aussprüchen
- des Absehens vom Widerruf der betreffenden bedingten Nachsicht (§ 494a Abs 1 Z 2 StPO) hinsichtlich zweier Strafen (aus AZ 46 Hv 100/12x und aus AZ 46 Hv 23/13z jeweils des Landesgerichts Wiener Neustadt) und
- des Vorbehalts (§ 494a Abs 2 letzter Satz StPO) der Widerrufsentscheidung hinsichtlich einer weiteren (aus AZ 42 Hv 141/17d des Landesgerichts Wiener Neustadt; zur bloß deklaratorischen Bedeutung einer solchen Vorbehaltsentscheidung siehe RIS-Justiz RS0111830 [insbesondere T1])
[17] (A 2) Aus dem zu (B) genannten Grund verletzt auch der – nachfolgend gefasste – Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 23. Juli 2021 (ON 144 der Hv-Akten) auf Absehen vom Widerruf der bedingten Nachsicht (aller drei davon umfassten Freiheitsstrafen) und Verlängerung der dazu bestimmten Probezeit § 53 Abs 1 erster Satz und Abs 3 erster Satz StGB.
[18] Hinzugefügt sei, dass der (wenn auch gesetzwidrige – Punkt B) Beschluss des Bezirksgerichts Baden, vom Widerruf der bedingten Nachsicht der zu AZ 46 Hv 100/12x und zu AZ 46 Hv 23/13z jeweils des Landesgerichts Wiener Neustadt ausgesprochenen Freiheitsstrafen abzusehen (§ 494a Abs 1 Z 2 StPO iVm § 53 Abs 3 StGB), im Übrigen Sperrwirkung entfaltete (vgl RIS‑Justiz RS0101911, insbesondere 13 Os 116/03; 11 Os 16/13g, 17/13d; 14 Os 150/13k, 151/13g, 152/13d; Jerabek/Ropper, WK-StPO § 494a Rz 13 f und in WK2 StGB § 53 Rz 29).
[19] Auch deshalb hätte die Einzelrichterin des Landesgerichts Wiener Neustadt im Verfahren AZ 42 Hv 41/17d nicht aus Anlass derselben (Folge-)Verurteilung in Bezug auf diese beiden Freiheitsstrafen (neuerlich) über die Widerrufsfrage absprechen und insoweit auch keine – solcherart bereits präkludierte (vgl Jerabek/Ropper in WK2 StGB § 53 Rz 26) – Probezeitverlängerung aussprechen dürfen (vgl RIS-Justiz RS0100454 [insbesondere T15]; zum darin gelegenen Verstoß gegen den im 16. Hauptstück der Strafprozessordnung verankerten Grundsatz der Bindungswirkung gerichtlicher Entscheidungen vgl 13 Os 116/03; 11 Os 16/13g, 17/13d).
[20] Die zu (A 1) und zu (B) aufgezeigten Gesetzesverletzungen wirken nicht zum Nachteil des Verurteilten, sodass es mit ihrer Feststellung sein Bewenden hat (§ 292 vorletzter Satz StPO).
[21] Dagegen war die Feststellung der weiteren Gesetzesverletzung (A 2) – weil daraus ein solcher Nachteil resultiert – auf die im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO).
[22] Von der aufgehobenen Entscheidung rechtslogisch abhängige weitere Entscheidungen und Verfügungen – so auch der Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 31. Jänner 2025 (ON 179 der Hv‑Akten), mit dem die bedingte Strafnachsicht (wegen Weisungsbruchs in der mit dem aufgehobenen Beschluss verlängerten Probezeit) widerrufen wurde – gelten gleichermaßen als beseitigt (RIS-Justiz RS0100444).
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