OGH 10ObS58/25i

OGH10ObS58/25i10.7.2025

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr.Nowotny als Vorsitzenden, den Vizepräsidenten Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi und den Hofrat Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Sibylle Wagner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Sylvia Zechmeister (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei *, vertreten durch Dr. Peter Lindinger und Dr. Andreas Pramer, Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen, 1051 Wien, Wiedner Hauptstraße 84–86, vertreten durch Dr. Eva-Maria Bachmann‑Lang und Dr. Christian Bachmann, Rechtsanwälte in Wien, wegen Pflegegeld, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linzals Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 9. April 2025, GZ 11 Rs 29/25 a‑14, womit das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 10. März 2024, GZ 31 Cgs 112/24h‑9, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:010OBS00058.25I.0710.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

 

Begründung:

[1] Die 1932 geborene Klägerin, die in ihrer Wohnung im Rahmen einer 24‑Stunden‑Pflege betreut wird, hat einen Pflege‑ und Betreuungsbedarf von mehr als 180 Stunden. Sie ist nicht in der Lage, selbständig zu gehen oder zu stehen. Wenn sie versuchen würde, aus dem Bett zu steigen oder von einem Sessel aufzustehen, dann stürzt sie, womit die Gefahr einer Verletzung verbunden ist.

[2] Bei der Klägerin liegt eine schwere Verhaltensstörung vor, sie leidet an zunehmender Demenz. Ihre Verwirrtheitszustände bedingen, dass sie hin und wieder die Tendenz hat, von einer Sitzgelegenheit zu rutschen bzw das Bett zu verlassen und dann in Sturzgefahr gerät.

[3] Zu ihrer Sicherung wird die Klägerin nach einem Oberschenkelhalsbruch untertags entweder unter ständige Beobachtung der 24‑Stunden‑Pflegerin gestellt oder – wenn diese einkaufen geht – ins Bett gelegt und dessen Seitenbegrenzung hochgeklappt. Das ist wegen der Selbstge- fährdung medizinisch notwendig. Ohne Seitenbegrenzung könnte man die Klägerin nicht alleine lassen. Die Überwindung der Seitenbegrenzung ist der Klägerin kräftemäßig nicht mehr möglich.

[4] In der Nacht hat die Klägerin vier‑ bis fünfmal Verwirrungszustände im Monat. Die Klägerin schläft nicht mehr durch, eine Selbstgefährdung (ohne Seitenbegrenzung) kann in der Nacht nicht ausgeschlossen werden. Die Selbstgefährdung wird in der Nacht durch die hochgeklappte Seitenbegrenzung unterbunden.

[5] Mit Bescheid vom 21. 10. 2024 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Erhöhung des bis dahin bezogenen Pflegegelds der Stufe 5 ab.

[6] Mit ihrer dagegen erhobenen Klage begehrt die Klägerin die Gewährung von Pflegegeld der Stufe 6, weil die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson während des Tages und der Nacht erforderlich sei.

[7] Das Erstgericht gab der Klage statt. Die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson sei zur Verhinderung der Selbstgefährdung erforderlich. Das Erstgericht ging davon aus, dass mit der Seitenbegrenzung des Pflegebetts eine unzulässige Freiheitsbeschränkung verbunden sei, die bei der Beurteilung des Pflegegelds nicht fiktiv einbezogen werden dürfe.

[8] Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Sozialversicherungsanstalt statt und verneinte die Voraussetzungen des § 4 Abs 2 BPGG. Mit dem Hochklappen der Seitenbegrenzung am Bett sei keine (unzulässige) Freiheitsbeschränkung verbunden, zumal die Klägerin zu einem selbständigen Gehen und Stehen nicht mehr in der Lage sei. Anhaltspunkte für eine nächtliche Umtriebigkeit der Klägerin lägen nicht vor. Abgesehen davon, dass das HeimAufG auf die häusliche Pflege nicht anzuwenden sei, seien die materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen nach § 4 HeimAufG erfüllt, weil das Hochklappen der Seitenbegrenzung während der Nacht die Sturz‑ und Verletzungsgefahr der Klägerin in Zuständen der Verwirrtheit hintanhalte.

[9] Das Berufungsgericht ließ die Revision mangels Rechtsprechung zur Rechtslage nach Inkrafttreten des HeimAufG zu.

Rechtliche Beurteilung

[10] Die Revision der Klägerin ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden gegenteiligen Ausspruch des Berufungsgerichts (§ 508a Abs 1 ZPO) nicht zulässig.

[11] 1. Thema des drittinstanzlichen Verfahrens ist ausschließlich die Frage, ob die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson während des Tages und der Nacht mit Blick auf die Wahrscheinlichkeit einer Eigen‑ oder Fremdgefährdung der Klägerin erforderlich ist (§ 4 Abs 2 Z 2 BPGG). Die am Ende der Revision angeführte Rechtsprechung zu Fragen von zeitlich unkoordinierbaren Betreuungsmaßnahmen können die Zulässigkeit des Rechtsmittels daher nicht stützen, zumal sich weder aus dem Vorbringen noch aus dem Akt (bzw dem Sachverhalt) Hinweise zu § 4 Abs 2 Z 1 BPGG ergeben.

[12] 2. Das Rechtsmittel argumentiert im Wesentlichen damit, dass das Hochklappen der Seitenbegrenzung des Pflegebetts eine unzulässige Freiheitsbeschränkung sei, weil die Überwachung durch eine geeignete Pflegeperson nach § 4 Z 3 HeimAufG hier als schonendere Maßnahme in Betracht komme.

[13] Damit wird keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung aufgezeigt.

[14] 3. Das HeimAufG regelt (nur) die Voraussetzungen und die Überprüfung von Freiheitsbeschränkungen in den in § 2 Abs 1 leg cit genannten Heimen und Einrichtungen. Vorliegend war allerdings der Pflegeaufwand der sich in häuslicher Pflege befindlichen Klägerin zu klären. Nach dem klaren Wortlaut des § 2 Abs 1 HeimAufG (Umkehrschluss) und den Gesetzesmaterialien findet damit das HeimAufG gegenständlich keine Anwendung (siehe ErläutRV 353 BlgNR XXII. GP , 8: „Weiter soll das Gesetz aufgrund gänzlich anderer organisatorischer und zum Teil auch [verfassungs‑]gesetzlicher Rahmenbedingungen keine Anwendung finden, wenn eine Person zu Hause von Familienangehörigen oder mobilen Diensten oder im Rahmen einer familienähnlichen Wohngemeinschaft betreut oder gepflegt wird). Die Zulässigkeit des Rechtsmittels kann hier somit nicht auf fehlende Rechtsprechung zum BPGG für die Zeit nach dem Inkrafttreten des HeimAufG gestützt werden.

[15] 3.1 Davon abgesehen, wäre für die Klägerin nichts gewonnen, wenn man die Regelungen zur Freiheitsbeschränkung im HeimAufG sinngemäß auch für die häusliche Pflege heranzieht.

[16] Nach gesicherter Rechtsprechung liegt nämlich eine Freiheitsbeschränkung nur dann vor, wenn die betreute oder gepflegte Person noch über die Möglichkeit zur willkürlichen körperlichen Fortbewegung verfügt (7 Ob 226/06w; 7 Ob 144/06m; 7 Ob 19/07f; RS0121221 [T1, T4, T5, T6]). Der Anlassfall ist aber gerade davon geprägt, dass die Klägerin zu einem selbständigen Gehen oder Stehen gerade nicht mehr in der Lage ist, worauf das Rechtsmittel nicht näher eingeht.

[17] 4. Im Übrigen hat der Senat in vergleichbaren Konstellationen die Verwendung eines niedrigen Steckgitters, das der hier vorliegenden Seitenbegrenzung entspricht, als zulässige Maßnahme qualifiziert, um eine geistig verwirrte, mobilitätsbehinderte Person am Verlassen des Betts zu hindern und deren Sturzgefahr hintanzuhalten, weshalb das Erfordernis der dauernden Beaufsichtigung durch eine Betreuungsperson in einem solchen Fall entbehrlich ist (RS0107442 [T7]; RS0106362 [T8]).

[18] 4.1 Der Senat führte in der Entscheidung 10 ObS 372/97x aus, dass die dortige (ebenfalls sturzgefährdete) Klägerin vor der Gefahr eines Sturzes bewahrt werden muss. Hindert man sie am Aufstehen, so wird diese Gefahr ausgeschaltet. Wenn zu diesem Zweck ständig eine Aufsichtsperson bei der Klägerin anwesend wäre, so hätte auch diese nur die Möglichkeit, die Klägerin am Aufstehen aus dem Bett zu hindern, indem sie sie wieder in die liegende Stellung bringt, zumal wegen der bestehenden Verwirrtheit bloßer Zuspruch kaum ausreichen wird, um sie dazu zu bringen, im Bett zu bleiben. Die Aufsichtsperson hat daher weitestgehend keine andere Möglichkeit, die Klägerin am Verlassen des Betts zu hindern, als durch entsprechende körperliche Eingriffe dafür zu sorgen, dass sie im Bett liegenbleibt. Dasselbe Ergebnis wird aber mit einem niederen Steckgitter erreicht, dessen Anbringung daher eine zulässige Maßnahme darstellt, um die Gefahr eines Sturzes der Klägerin hintanzuhalten.

[19] 4.2 In Ergänzung dieser Judikatur sprach der Senat zu 10 ObS 399/01a aus, dass mangels Anhaltspunkten für eine nächtliche Umtriebigkeit gegen die Verwendung eines Steckgitters während der Nacht zum Schutz der Klägerin keine Bedenken bestehen.

[20] 4.3 Die Entscheidung des Berufungsgerichts hält sich im Rahmen dieser Rechtsprechung, der ähnliche Fälle zugrundelagen.

[21] 5. Die Revision macht damit keine Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO geltend, weshalb das Rechtsmittel zurückzuweisen ist.

[22] 6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Zwar kann ein Kostenzuspruch nach dieser Bestimmung auch dann erfolgen, wenn das Berufungsgericht die ordentliche Revision zugelassen hat, der Oberste Gerichtshof diese jedoch mangels einer Rechtsfrage im Sinn des § 502 ZPO zurückweist (RS0085898 [T2]). Gründe für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit wurden jedoch nicht geltend gemacht und ergeben sich auch nicht aus der Aktenlage.

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