European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0060OB00088.25X.0616.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird teilweise Folge gegeben.
Die angefochtenen Entscheidungen, die hinsichtlich der Rückführung der Kinder 2. V*, geboren * 2014, 3. L*, geboren * 2016, und 4. A*, geboren * 2018, bestätigt werden, werden hinsichtlich des Kindes 1. J*, geboren * 2011, dahin abgeändert, dass der Beschluss insoweit zu lauten hat:
Der Antrag auf Rückführung des Kindes 1. J*, geboren * 2011, in das ungarische Staatsgebiet wird abgewiesen.
Begründung:
[1] Die vier Kinder des Antragstellers und der Antragsgegnerin sind ungarisch/polnische Doppelstaatsbürger. Sie sind in Österreich (W*) geboren und lebten dort bis Februar 2022. Seit dem Schuljahr 2021/22 waren die drei älteren schulpflichtigen Kinder zum häuslichen Unterricht in Österreich angemeldet. Der Sohn (das jüngste Kind) besuchte den Kindergarten. Aufgrund der „drohenden Corona Impfpflicht“ und der Tatsache, dass sich der Vater um seine in Budapest befindliche Mutter kümmern wollte, übersiedelte die Familie Anfang März 2022 nach Ungarn. Die Familie lebte von März 2022 bis Juli 2023 zusammen mit der Mutter des Vaters in einem Haus mit Garten. Die Kinder besuchten in Ungarn die Schule bzw den Kindergarten. Es fanden Besuche in W* zu Weihnachten 2022, zu Ostern 2023 und im Juni 2023 zur Externistenprüfung statt.
[2] Die Mutter wollte nicht in Ungarn bleiben. Es steht aber nicht fest, dass der Vater im Sommer 2022 eine Rückkehr der gesamten Familie nach W* in Aussicht stellte. Über die Frage, wo zukünftig der Lebensmittelpunkt sein solle, gab es keine einvernehmliche Lösung der Eltern. Am 16. 7. 2023 (während sich die Familie auf der Durchreise von einem Judo‑Camp in W* befand) begab sich die Mutter mit den Kindern in Österreich in ein Frauenhaus und blieb dann mit ihnen in W*.
[3] Der Antragsteller stellte am 12. 10. 2023 den am 12. 12. 2023 beim Erstgericht eingelangten Antrag auf Rückführung der Kinder nach Ungarn. Die Antragsgegnerin habe die Kinder auf der Heimreise „bei einem Stopp in W*“ widerrechtlich verbracht.
[4] Die Antragsgegnerin hielt dem Rückführungsantrag entgegen, der gewöhnliche Aufenthalt sei immer in Österreich verblieben, weil die Kinder in W* gemeldet gewesen seien und die Externistenprüfung hier stattgefunden habe. Zudem stelle eine Rückführung der Kinder nach Ungarn eine Kindeswohlgefährdung dar. Sie würden sich der Rückkehr widersetzen.
[5] Im ersten Rechtsgang wies das Erstgericht mit Beschluss vom 8. 7. 2024 den Rückführungsantrag mangels widerrechtlichen Verbringens der Kinder ab, weil (auch) ein gewöhnlicher Aufenthalt der Kinder in W* begründet sei. Die Kinder hätten (direkt und über den bestellten Kinderbeistand) den Wunsch geäußert, lieber in W* bleiben zu wollen.
[6] Dieser Beschluss wurde nach Einlangen des Aktes beim Rekursgericht am 6. 9. 2024 mit Beschluss des Rekursgerichts vom 12. 9. 2024 mit der Begründung, es lasse sich auf Grundlage der (damals) getroffenen Feststellungen nicht eindeutig beurteilen, ob ein gewöhnlicher Aufenthalt der Kinder in Österreich vorgelegen habe, aufgehoben. Dem Erstgericht wurde eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.
[7] Im zweiten Rechtsgang legte das Erstgericht (nach neuerlicher Einvernahme der älteren beiden Kinder) zum Willen der Kinder zugrunde, dass die mit der Kinderbeiständin erarbeitete Nachricht an das Gericht aller vier Kinder laute, in W* bleiben zu wollen. Das älteste Mädchen J* wolle „dieses Verfahren endlich beendet“ wissen und zu dem Thema nichts mehr sagen, sei in psychologischer Behandlung und habe sich auch schon geritzt. Sie möchte den Vater derzeit nicht sehen. Eine Rückkehr nach Ungarn wäre für sie [Kraftausdruck], weil ihre Freunde in einer Klasse über ihr wären, weil sie ein Schuljahr wiederholen müsste. Die mj V* wünsche sich mehr Kontakte zum Vater, sie möchte allerdings keinen fixen Plan haben, wann sie Zeit mit dem Vater verbringt, sondern dies spontan sagen; sie habe Freundinnen in W* und in Ungarn und würde die Wohnsituation in Ungarn mit mehr Platz für alle bevorzugen. Sie habe zu bedenken gegeben, dass sie nicht so gut ungarisch spricht und dass das für die Schule ein Nachteil wäre.
[8] Das Erstgericht ordnete nun die Rückführung aller vier Kinder nach Ungarn an.
[9] Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluss (binnen 10 Tagen nach Einlangen des Aktes) und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Es verneinte eine Mangelhaftigkeit des Verfahrens sowie ein Vorliegen unrichtiger Tatsachenfeststellungen und übernahm die Sachverhaltsfeststellungen des Erstgerichts. Ein gewöhnlicher Aufenthalt der Kinder im Juli 2023 sei in Ungarn, nicht aber auch in Österreich gegeben gewesen. Der Ausnahmetatbestand des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ sei bei allen vier Kindern nicht vorgelegen und bei den drei jüngeren auch kein „Widersetzen“ iSd Art 13 Abs 2 HKÜ. Zwar habe sich das älteste Kind deutlich gegen eine Rückführung nach Ungarn ausgesprochen. Für die Annahme eines „Widersetzens“ reiche es aber nicht aus, dass ihre Freunde in Ungarn eine Klasse über ihr wären, weil sie das Schuljahr wiederholen müsste.
Rechtliche Beurteilung
[10] Der zur Klarstellung zulässige und vom Antragsteller beantwortete Revisionsrekurs macht geltend, es liege ein Rückführungshindernis in der inzwischen gegebenen Integration der Kinder in Österreich. Das Rekursgericht habe den relevanten Faktor „Zeit“ überhaupt nicht berücksichtigt. Es sei zudem der Kindeswunsch nicht ausreichend beachtet worden.
[11] Die Revisionsrekursbeantwortung hebt die Differenzierung des Art 12 Abs 1 und 2 HKÜ hervor und hält den Wunsch, in der bisherigen Umgebung bleiben zu wollen, für nicht entscheidend.
[12] 1. Eingangs sei festgehalten, dass der Revisionsrekurs der nun von beiden Vorinstanzen vertretenen Auffassung, dass zum Zeitpunkt des Verbleibens der Mutter mit den Kindern in Österreich der gewöhnliche Aufenthalt der Familie ausschließlich in Ungarn war und daher ein widerrechtliches Zurückhalten der Kinder durch die Mutter iSd Art 1 lit a HKÜ vorliegt, (zu Recht) nicht entgegentritt (vgl RS0126369; RS0074198; RS0046577).
2. Zur Minderjährigen J*:
[13] 2.1. Der erkennende Senat teilt die Auffassung der Vorinstanzen, es liege im (aktenkundig mehrfach [vier von der Kinderbeiständin übermittelte Botschaften und in zwei Einvernahmen vor Gericht]) ganz klar und deutlich geäußerten Willen des ältesten Kindes kein Rückführungshindernis, nicht:
[14] 2.2. Nach Art 13 Abs 2 HKÜ kann die Rückgabe abgelehnt werden, wenn festgestellt wird, dass sich das Kind der Rückgabe widersetzt und dass es ein Alter und eine Reife erreicht hat, angesichts deren es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen (6 Ob 218/15z; RS0074552).
[15] Art 21 Brüssel IIb‑VO verpflichtet die Mitgliedstaaten, dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, eine echte und wirksame Gelegenheit zu geben, diese zu äußern (Abs 1 leg cit), und dieser Meinung entsprechend seinem Alter und Reife gebührendes Gewicht beizumessen (Abs 2 leg cit). Die Bestimmung dient dem Anliegen der Brüssel IIb‑VO, die Bedürfnisse der Kinder ins Zentrum zu rücken und sie stärker in die sie betreffenden Verfahren einzubeziehen (vgl Neumayr/Weber in Mayr, Handbuch des Europäischen Zivilverfahrensrechts2 [2023] Rz 4.220). Das Gericht hat sich mit der Meinung des Kindes substantiell auseinanderzusetzen und sie einzubeziehen. Es ist freilich weder an die geäußerte Meinung gebunden noch hat es ihr stets Vorrang vor anderen Gesichtspunkten einzuräumen (Neumayr/Weber aaO Rz 4.226; Böhm in Garber/Lugani, Die Brüssel IIb‑VO [2022] Rz 9/44).
[16] Von Lehre und österreichischer Rechtsprechung wird für ein „Widersetzen“ nach Art 13 Abs 2 HKÜ ein deutliches Ergebnis verlangt (RS0074552 [T1]). Der bloße Wunsch eines Kindes, in seiner jetzigen Umgebung zu bleiben, muss das Rückgabehindernis nach Art 13 Abs 1 lit b HKÜ nicht unbedingt erfüllen (RS0074552 [T2]). Die für das „Widersetzen“ iSd Art 13 Abs 2 HKÜ angeführten Gründe müssen aber auch nicht das Gewicht einer Gefährdung iSd Art 13 Abs 1 lit b HKÜ erreichen. Im Rahmen der dem Gericht zukommenden Ermessensübung nach Art 13 Abs 2 HKÜ sind Authentizität und Ernsthaftigkeit des von den Kindern geäußerten Wunsches sowie das Gewicht der dafür ins Treffen geführten Gründe gegen die Gesamtzielsetzung des Übereinkommens abzuwägen (vgl RS0074552 [T5, T7, T9]).
[17] Zur Wahrung des Kindeswohls sind dabei alle während des Verfahrens eingetretenen unstrittigen und aktenkundigen Entwicklungen voll zu berücksichtigen, auch wenn sie erst nach Beschlussfassung der Vorinstanzen eingetreten sind (RS0048056 [insb T7, T10]; RS0006893; 6 Ob 10/17i; 6 Ob 54/23x [Rz 14]). Somit sind auch die von der Kinderbeiständin (dem Antragsteller und der Antragsgegnerin [letzterer noch vor Erstellung der Revisionsrekursbeantwortung]) übermittelten Botschaften von J* und V* einzubeziehen.
[18] In ihrer zuletzt geäußerten Botschaft unterstreicht J* ihren bereits mehrfach geäußerten Wunsch, nicht nach Ungarn zurückgeführt werden zu wollen, eindringlich. Zusammengefasst bringt sie darin zum Ausdruck, dass W* ihr Zuhause sei. Sie gehe hier in die Schule und habe hier ihre Freunde. Ihr Vater rege sie auf, weil er „so komische Sachen“ rede, weshalb sie ihn derzeit nicht treffen wolle. Sie könne sich überhaupt nicht vorstellen, mit ihrem Vater zusammen zu wohnen. Wenn sie zurück nach Ungarn müsse, werde sie „sicher weglaufen“. Deshalb wünsche sie sich, dass „das auf gar keinen Fall passiert“.
[19] Das Rekursgericht ging von der nötigen Reife des Kindes aus, erachtete aber den Schulwechsel nicht als ausreichenden Grund für eine Versagung der Rückführung (was im Regelfall zutreffen wird, weil die Rückführung sehr häufig mit einem [neuerlichen] Schulwechsel einhergeht).
[20] J* hat sich aber mehrmals und deutlich gegen eine Rückführung ausgesprochen. Mit der Bezugnahme allein auf den Schulwechsel wurde die Gesamtverfassung des Kindes vor dem Hintergrund der psychologischen Behandlung, zumal sich das Mädchen „auch schon geritzt“ hat, nicht miteinbezogen. Dem starken inneren Widerstand gegen eine Rückkehr, wie er schon in der Benutzung eines Kraftausdrucks bei Rückkehr nach Ungarn zum Ausdruck kam und nun erneut durch die Androhung des „Weglaufens“ ganz deutlich gemacht wird, ist das ihrem Alter und ihrer Reife entsprechende Gewicht zuzumessen.
[21] Wenn nach Art 4 HKÜ das Übereinkommen nicht mehr anzuwenden ist, sobald das Kind das 16. Lebensjahr vollendet hat, ist bei Gewichtung des eigenen Willens des Kindes auch die Annäherung an dieses Alter entsprechend zu berücksichtigen. Dem klar geäußerten Willen ist umso eher Rechnung zu tragen, als sich das Kind der Altersgrenze annähert, die eine Anwendung des HKÜ überhaupt ausschließt (vgl RS0074552; Neumayr/Weber in Mayr, Handbuch des Europäischen Zivilverfahrensrechts2 Rz 4.251; Fucik in Deixler‑Hübner[Hrsg], Handbuch Familienrecht2 596; Nademleinsky in Gitschthaler [Hrsg], Internationales Familienrecht [2019] Art 13 HKÜ Rz 26; aus der deutschen Literatur Andrae, Internationales Familienrecht5 [2024], 725; ähnlich [„weiter Ermessensspielraum“] Hausmann, Internationales und Europäisches Familienrecht3 [2024] HKÜ Art 13 Rz 252).
[22] Die fast 14‑Jährige stellt sich innerlich so sehr gegen eine Rückkehr nach Ungarn, dass sie, sollte dies erfolgen, „sicher weglaufen“ werde, womit zum Vorschein kommt, dass für sie eine Rückkehr nach Ungarn und ein Zusammenwohnen mit dem Vater (derzeit) innerlich nicht tragbar scheint. Damit geht es aber nicht mehr nur um ihre „schulische Zukunft“ und den Beibehalt des mit zunehmendem Alter immer wichtiger werdenden Freundeskreises („peergroup“), sondern um ihr darin zum Ausdruck gekommenes Gesamtempfinden.
[23] Dieses Gesamtempfinden als Willen von J* gilt es mit den vom Übereinkommen verfolgten Zielen abzuwägen.
[24] Das Übereinkommen verfolgt das Ziel, die Verfestigung einer rechtswidrigen – dh unter Verletzung der bestehenden Sorgerechtsverhältnisse erfolgten – Selbsthilfe des „Entführers“ zu verhindern und eine unverzügliche Rückführung des Minderjährigen in den Herkunftsstaat sicherzustellen (Beck in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG I2 § 111d Rz 25, § 111d Rz 3 [Stand 1. 6. 2019, rdb.at]; Nademleinsky/Neumayr, IFR3 Rz 9.1 f [Stand 1. 8. 2022, rdb.at]). Auch dieses Ziel hat aber vor allem das Kindeswohl im Auge. Kinder sollen durch die rasche Rückkehr vor den Nachteilen einer Entführung geschützt werden. Schon nach seiner Präambel stellt das HKÜ das Kindeswohl – das ein zentrales Anliegen (auch) der (internationalen) Rechtsordnung ist (vgl Art 8 EMRK; Art 24 GRC; Bundesverfassungsgesetz über die Rechte von Kindern, BGBl I 2011/4; s auch Art 19 der UN‑Konvention über die Rechte des Kindes hinsichtlich des Schutzes vor Gewaltanwendung) – in den Vordergrund („[…] in der festen Überzeugung, daß das Kindeswohl in allen Angelegenheiten des Sorgerechts von vorrangiger Bedeutung ist [...]“; vgl Nademleinsky/Neumayr, IFR3 Rz 9.2 [Stand 1. 8. 2022, rdb.at]).
[25] Wägt man im vorliegenden Fall die Gesamtzielsetzung des Abkommens mit den individuellen Interessen dieses Kindes (also des konkreten Kindeswohls) ab, kommt hier der Beachtung des klar geäußerten Willens des bald 14‑jährigen Kindes das größere Gewicht zu. Das konkrete Kindeswohl wäre hier beeinträchtigt, wenn das Widersetzen von J* keine Beachtung fände und sie sich genötigt sähe, ihren Willen faktisch durch „Weglaufen“ umsetzen zu müssen (vgl zur Vertretbarkeit der Berücksichtigung des erklärten Willens einer 11 [fast 12]‑Jährigen und zweier zum Zeitpunkt der gerichtlichen Anhörung 9 Jahre alten Kinder EGMR 1. 7. 2014, App no 5443/10 Blaga v. Romania, [Rz 74 ff]).
3. Zu den Minderjährigen V*, L* und A*:
[26] 3.1. Hier liegt – insbesondere unter Berücksichtigung der zuletzt erstatteten Äußerung von V* – bei keinem Kind ein beachtliches „Widersetzen“ vor. Bei den beiden jüngsten Kindern fehlt es nach dem Rekursgericht – von den Parteien unwidersprochen – schon an der nötigen Reife. Während die nun 11‑jährige V* zuvor noch in W* bleiben wollte und Bedenken wegen mangelhafter Sprachkenntnisse geäußert hatte, deponierte sie in ihrer letzten Botschaft (nun gegenteilig) den klaren Wunsch, beim Vater leben zu wollen.
[27] 3.2.1. Für die drei jüngeren Kinder beruft sich der Revisionsrekurs (auch nur) auf deren „feste Integration“ als Hindernis nach Art 13 Abs 1 lit b HKÜ.
[28] 3.2.2. Nach Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ist die zuständige Behörde – ungeachtet der grundsätzlichen Verpflichtung zur sofortigen Rückgabe des Kindes (Art 12 Abs 1) – dann nicht verpflichtet, die Rückgabe anzuordnen, wenn (unter anderem) die Person, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist, dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt (RS0106455 [T2]). Wäre die Rückgabe der Kinder mit einer schwerwiegenden psychischen Gefährdung der Minderjährigen verbunden, ist diese auch zu berücksichtigen, wenn sie erst durch einen längeren Aufenthalt im Verbringungsland bedingt ist (RS0074565). Der Ausnahmetatbestand des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ist nach der Rechtsprechung eng auszulegen und deshalb auf wirklich schwere Gefahren zu beschränken (RS0074568 [T8, T12]).
[29] Das HKÜ unterscheidet in Art 12 nur danach, ob der Antrag auf Rückführung innerhalb eines Jahres nach dem Verbringen oder Zurückhalten gestellt wird, oder erst später. Im (hier gegebenen) ersteren Fall ist die sofortige Rückgabe anzuordnen, sofern kein Rückführungshindernis vorliegt, im zweiteren Fall gilt dies nicht, wenn erwiesen wird, dass sich das Kind in die neue Umgebung eingelebt hat. Das HKÜ stellt bei dieser Differenzierung nur auf den Zeitpunkt der Antragstellung, nicht auf die Dauer des anschließenden Verfahrens ab. Wenn es allein schon für die Antragstellung in diesem Sinn eine Frist von bis zu einem Jahr einräumt (und daher das Kind dann schon ein Jahr im Verbringungsstaat weilte), kann trotz der Ausgestaltung des Verfahrens als Eilverfahren mit einer grundsätzlichen Entscheidungsfrist von sechs Wochen gemäß Art 24 Abs 2 Brüssel IIb‑VO (insbesondere in Ansehung der Möglichkeit von Rechtsmittelverfahren) nicht davon ausgegangen werden, dass allein der Abstand zwischen Entführung und Entscheidung in erster Instanz von rund eineinhalb Jahren an den durch die Einleitung innerhalb eines Jahres festgelegten Entscheidungsgrundsätzen etwas ändern würde. Es bedürfte also einer mit der Rückführung verbundenen schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens. Weiters läge ein Rückführungshindernis dann vor, wenn das Kind in eine unzumutbare Lage gebracht würde.
[30] Eine solche „Unzumutbarkeit“ ist aber nicht regelhaft, starr und zwingend mit einem bestimmten Zeitraum zwischen Entführung und Rückführung anzunehmen. Derartiges ist auch der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Bsw 71099/01 (EGMR 4. 5. 2005, Monory/Rumänien und Ungarn) nicht zu entnehmen. Soweit sich der Revisionsrekurs diesbezüglich auf die Ansicht von Nademleinsky (in Gitschthaler, Internationales Familienrecht [2019], Art 13 HKÜ Rz 20) stützt, so ist der angegebenen Stelle keine regelhafte Verknüpfung eines bestimmten „ungebührlich langen Zeitraums“ mit einer „Unzumutbarkeit“ zu entnehmen, sondern führt Nademleinsky dort aus, es könne sich eine unzumutbare Lage auch daraus ergeben, dass zwischen Entführung und Rückführung ein ungebührlich langer Zeitraum verstrichen und das Kind im Verbringungsstaat schon „fest integriert“ sei.
[31] Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs schließt eine „gelungene“ Integrierung eines Kindes in seine neue Umgebung nach Art 12 Abs 2 HKÜ eine Rückführung nur dann jedenfalls aus, wenn der Rückführungsantrag mehr als ein Jahr nach dem Verbringen des Kindes gestellt wurde (RS0074568 [T7]; zuletzt 6 Ob 153/24d). Es müssten berücksichtigungswürdige drohende Nachteile nach Art 13 Abs 1 lit b HKÜ über die zwangsläufigen Folgen eines erneuten Aufenthaltswechsels hinausgehen, weil sonst praktisch jede Rückführung scheitern und damit das Ziel des HKÜ nicht greifen würde (RS0074568 [T5]).
[32] 3.2.3. Entgegen den Ausführungen im Revisionsrekurs lässt sich dem Sachverhalt weder (eine nicht vom Revisionsrekurs inhaltlich definierte) „feste Integration“ (die über eine „gelungene“ hinausginge) entnehmen noch eine etwa darin begründete oder aus sonstigen Umständen entspringende Befürchtung von Umstellungsschwierigkeiten, die über das Ausmaß jener, wie sie mit jeder Rückführung einhergehen, hinausgehen und die im Einzelfall etwa ein Kind in eine so (besonders) belastende Lage brächten, dass iSv Art 13 Abs 2 lit b HKÜ von einer „unzumutbaren Lage“ gesprochen werden könnte. Umstände zu einer besonderen Art der Integration (über den Schulbesuch hinaus) und zu besonderen Schwierigkeiten der bei Wiedereingliederung der festgestelltermaßen zweisprachig aufgewachsenen Kinder, die in das angrenzende und zur EU gehörende Nachbarland rückzuführen sind, wurden von der Antragsgegnerin, auf der als Entführerin die Behauptungslast und der Nachweis des Vorliegens des Rückführungshindernisses nach Art 13 Abs 1 HKÜ lastet (RS0074561 [T1]), auch gar nicht angesprochen. Zu Recht weist die Revisionsrekursbeantwortung darauf hin, dass der Revisionsrekurs nicht gesetzmäßig ausgeführt ist, wenn er unterstellt, es sei festgestellt, dass (alle) Kinderbesser Deutsch als Ungarisch sprächen oder der Vater als deklarierter Impfgegner ganz offensichtlich seine Anschauungen über das Wohl der Kinder stelle.
[33] 4. Aspekte einer Geschwistertrennung werden in beiden Schriftsätzen nicht angesprochen. Zwar ist das gemeinsame Aufwachsen von Geschwistern in einem Haushalt in der Regel von großem Wert für die Entwicklung der Kinder (vgl RS0047845), jedoch ist hier nicht die Frage, wem in Hinkunft die Obsorge zustehen wird und wer dann über den Aufenthalt entscheidet, zu treffen, sondern es geht um die Frage der Rückführung widerrechtlich in das Hoheitsgebiet eines anderen Staats entführter Kinder. Ein Verbringen in eine unzumutbare Lage durch die Rückführung nach Ungarn ist hier für die drei jüngeren Kinder zu verneinen, weil sie zu dritt zusammenbleiben. Zwar führt die Versagung der Rückführung bei der ältesten Tochter zur Trennung von ihren Geschwistern. Sie bleibt dafür aber in der von ihr angestrebten Umgebung.
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