European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0020OB00216.24I.0325.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Schadenersatz nach Verkehrsunfall
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
[1] Die Klägerin kam auf einer Gemeindestraße der beklagten Marktgemeinde aufgrund von im Zuge von Erhaltungsmaßnahmen aufgebrachtem Rollsplitt zu Sturz und verletzte sich. Durchgeführt wurden die Arbeiten von der Nebenintervenientin im Auftrag des Wegeerhaltungsverbands A*.
[2] Die Beklagte ist Mitglied dieses von mehreren Gemeinden gemäß § 4 Oö Gemeindeverbändegesetzes (Oö GemVG) gebildeten Wegeerhaltungsverbands, dem gemäß § 2 Abs 1 und Abs 4 der zwischen den Mitgliedern vereinbarten, mit Verordnung der Oberösterreichischen Landesregierung genehmigten Satzung die Instandhaltung und Instandsetzung des ländlichen Wegenetzes außerhalb des verbauten Gebiets obliegt, zu dem auch die Unfallstelle gehört. Neben der Instandhaltung und Instandsetzung des Wegenetzes hat der Verband nach § 2 Abs 2 der Satzung auch für die Aufbringung der für die Erhaltungsmaßnamen notwendigen Mittel zu sorgen. Gemäß § 2 Abs 6 der Satzung verpflichten sich die Gemeinden, einen von der Verbandsversammlung festzusetzenden Wegeerhaltungsbeitrag als Vorauszahlung aufzubringen und an den Verband zu entrichten. § 13 der Satzung hält fest, dass durch die Übernahme der Erhaltung und der Kosten der genannten Wege durch den Verband „§ 1319a ABGB nicht berührt“ wird und die „Haftung für den jeweiligen ordnungsgemäßen Wegzustand bei den Gemeinden“ verbleibt.
[3] Notwendige Instandhaltungs‑ oder Instand-setzungsmaßnahmen werden von der Geschäftsstelle des Verbandes angeordnet und koordiniert sowie von den Bediensteten der Straßenmeistereien unter Ersatz der Lohnkosten ausgeführt oder überwacht. Erforderliche Arbeiten werden ausgeschrieben und grundsätzlich an Privatfirmen vergeben.
[4] Die Klägerin macht gegen die beklagte Gemeinde gestützt auf § 1319a ABGB Schadenersatzansprüche geltend. Sie habe als Straßenerhalter nicht ausreichend vor den Gefahren der Rollsplittaufbringung gewarnt. Die Satzung lasse nach ihrem § 13 die Haftung der Gemeinde unberührt. Diese treffe jedenfalls ein Auswahl- und Überwachungsverschulden. Sie hätte das ordnungsgemäße Aufstellen von Warnschildern überwachen müssen.
[5] Die Beklagte wendet – soweit Gegenstand des Revisionsverfahrens – ein, aufgrund der Beauftragung des Wegeerhaltungsverbands mit den Erhaltungsarbeiten nicht passiv legitimiert zu sein.
[6] Das Erstgericht wies die Klage mangels Passivlegitimation ab.
[7] Das Berufungsgericht bestätigte die Entscheidung. Der von der Beklagten mit den Erhaltungsmaßnahmen beauftragte Gemeindeverband sei eigenständig für die Instandhaltung der Verkehrsfläche verantwortlich gewesen, begründe wie ein selbständiger Unternehmer einen eigenen Organisations‑ sowie Verantwortungsbereich und gehöre daher nicht zu den Leuten der beklagten Wegehalterin iSd § 1319a ABGB. An dem in § 1319a ABGB normierten Haftungsregime könne die Satzung schon deshalb nichts ändern, weil das Zivilrechtswesen in Gesetzgebung und Vollziehung Bundessache sei und im Sinn verfassungskonformer Auslegung der die Satzung genehmigenden Landesverordnung davon auszugehen sei, dass diese in die zivilrechtlichen Haftungsgrundsätze des § 1319a ABGB nicht eingreife. Die Satzung selbst halte fest, dass § 1319a ABGB unberührt bleibe. Der Hinweis, dass die Haftung bei den Gemeinde verbleibe, sei daher nur als interne Kostentragungsregel zu verstehen. Die Beklagte hafte daher aufgrund der Betrauung des Gemeindeverbands nur mehr für – hier nicht vorliegendes – Auswahl‑ oder Überwachungsverschulden.
[8] Die ordentliche Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil die Frage der Passivlegitimation der vom räumlichen Wirkungsbereich des Wegeerhaltungs-verbands A* erfassten Gemeinden für Haftungsfälle aus allfällig unzureichend gesicherten Straßenerhaltungsarbeiten in seiner Bedeutung über den Einzelfall hinausgehe.
Rechtliche Beurteilung
[9] Die Revision der Klägerin ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, und im Sinn einer Aufhebung berechtigt.
[10] Die Revision argumentiert zusammengefasst, sowohl der Wortlaut der Satzung als auch der Parteiwille der die Satzung abschließenden Mitglieder seien auf eine Aufrechterhaltung der Haftung der Beklagten gerichtet. Diese könne als Mitglied der Vollversammlung dem Gemeindeverband auch Weisungen erteilen. Überdies habe die Beklagte dem Gemeindeverband mit jenem Bescheid, mit dem die Durchführung der Erhaltungsmaßnahmen (dauerhaft) straßenpolizeilich bewilligt worden sei, Auflagen erteilt, deren Einhaltung sie durchsetzen könne und überwachen hätte müssen.
1. Grundsätze der Wegehalterhaftung nach § 1319a ABGB
[11] 1.1 Nach § 1319a Abs 1 Satz 1 ABGB haftet der Halter eines Weges den Benützern, wenn durch seinen mangelhaften Zustand ein Schaden herbeigeführt wird und dem Halter selbst oder seinen Leuten grobe Fahrlässigkeit oder Vorsatz vorzuwerfen ist.
[12] 1.2 Halter eines Weges ist derjenige, der die Kosten für die Errichtung und Erhaltung des Weges trägt sowie die Verfügungsmacht hat, die entsprechenden Maßnahmen zu setzen (RS0030011). Das Eigentum am Weg ist nicht entscheidend, kann die Halterstellung aber indizieren (RS0030011 [T4]).
[13] Bei Eröffnung eines Weges durch die öffentliche Hand haftet daher in der Regel die jeweilige Gebietskörperschaft als Straßenerhalter im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung nach § 1319a ABGB (RS0023174; Harrer/Wagner in Schwimann/Kodek 4 § 1319a ABGB Rz 15; Weixelbraun‑Mohr in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON1.08 § 1319a Rz 5).
[14] 1.3 Werden die Aufgaben des Wegehalters aber durch jemanden besorgt, der wie ein selbständiger Unternehmer einen eigenen Organisations‑ und Verantwortungsbereich begründet, so gehört er nicht mehr zu den „Leuten“ des Wegehalters (RS0029995; RS0030159). Entscheidend ist, ob die Möglichkeit besteht, im Einzelfall konkrete Anordnungen durchzusetzen oder es aufgrund des eigenen Organisations‑ und Verantwortungsbereichs des Betrauten dem Wegehalter nicht offen steht, im Einzelfall konkrete Weisungen wie gegenüber eigenen Leuten durchzusetzen (8 Ob 144/81 = ZVR 1982/162; 2 Ob 21/87 = ZVR 1988/128).
2 Rechtsstellung des Wegeerhaltungsverbands
[15] 2.1 Im Rahmen der interkommunalen Zusammenarbeit ermöglicht Art 116a Abs 1 B‑VG die Bildung von Gemeindeverbänden durch Vereinbarung zwischen Gemeinden. Die nähere Regelung der Bildung von freiwilligen Gemeindeverbänden, insbesondere zur Festlegung der Voraussetzungen, denen eine Vereinbarung der Gemeinden gemäß Art 116a Abs 1 letzter Satz B‑VG zu entsprechen hat, hat nach Art 115 Abs 2 B‑VG durch Landesgesetz (hier: Oö GemVG) zu erfolgen (Kemptner/Sturm in Pabel, Gemeinderecht 3. Teil Rz 16).
[16] Bei der Vereinbarung handelt es sich um einen öffentlich‑rechtlichen Vertrag, der durch übereinstimmende Beschlüsse der zuständigen Gemeindeorgane zustande kommt. Die erforderliche aufsichtsbehördliche Genehmigung erfolgt durch Verordnung (Schmid in Kahl/Khakzadeh/Schmid, Kommentar zum Bundesverfassungsrecht B‑VG und Grundrechte Art 116a B‑VG Rz 3; Kemptner/Sturm in Pabel, Gemeinderecht 3. Teil Rz 40 ff).
[17] 2.2 Übertragungsgegenstand können hoheitlich und privatwirtschaftlich auszuübende Kompetenzen sein (Schmid in Kahl/Khakzadeh/Schmid, Kommentar zum Bundesverfassungsrecht, Art 116a B‑VG Rz 2; Kemptner/Sturm in Pabel, Gemeinderecht 3. Teil Rz 39).
[18] 2.3 Gemeindeverbände sind selbständige juristische Personen (§ 3 Abs 1 Oö GemVG). Sie besitzen hinsichtlich der von ihnen zu besorgenden Angelegenheiten dieselbe rechtliche Stellung, wie sie den verbandsangehörigen Gemeinden hinsichtlich dieser Angelegenheiten vor der Bildung des Gemeindeverbands zugekommen ist (§ 3 Abs 2 Oö GemVG). Das bedeutet etwa, dass ein Gemeindeverband, der Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereichs der Gemeinde besorgt, frei von Weisungen von Verwaltungsorganen außerhalb des Gemeindeverbands ist. Der Gemeindeverband wird nicht für die verbandsangehörigen Gemeinden, sondern an deren Stelle tätig. Aus diesem Grund ist die Zuständigkeit der Gemeinden zur Besorgung dieser Angelegenheiten für die Dauer des Bestands des Gemeindeverbands zurückgedrängt (Kemptner/Sturm in Pabel, Gemeinderecht 3. Teil Rz 108).
3. Wegeerhaltungsverband und Halter‑ bzw Leuteeigenschaft
[19] 3.1 Im Zusammenhang mit der Übertragung der Verwaltung von Bundesvermögen (Bundesstraßenverwaltung) an den Landeshauptmann und die ihm unterstellten Behörden im Land gemäß Art 104 Abs 2 B‑VG hat der Oberste Gerichtshof die weiterbestehende Haltereigenschaft des Bundes bejaht und ausgesprochen, dass der Landeshauptmann und die ihm unterstellten Beamten bei Besorgung dieser Verwaltungsgeschäfte funktionell als weisungsgebundene Organe des Bundes tätig werden, wobei diese Privatwirtschaftsverwaltung nach denselben Grundsätzen wie die mittelbare Hoheitsverwaltung des Bundes geführt wird (6 Ob 694/78 [Reichsbrückeneinsturz]; vgl auch 2 Ob 3/93 [landesgesetzliche Übertragung der dem Land als Straßenerhalter obliegenden Streupflicht an eine Gemeinde unter aufrechtem Weisungszusammenhang nach Art 119 B‑VG; Haltereigenschaft des Landes unstrittig]).
[20] 3.2 Bei Bildung eines mit den Pflichten des Straßenerhalters betrauten Gemeindeverbands tritt aber dieser an die Stelle der Gemeinde. Er nimmt jene Rechtsposition ein, die der Gemeinde bis zur Bildung des Verbands zugekommen ist. Weder verfassungsrechtlich noch einfachgesetzlich ist eine Weisungsbefugnis der Gemeinde vorgesehen. Auch die Mitgliedschaft der Beklagten in der Verbandsversammlung vermittelt ihr allein kein Recht, dem Wegeerhaltungsverband Weisungen in Bezug auf konkrete Einzelmaßnahmen zu erteilen. Vielmehr hat der Gemeindeverband die Erhaltung des Wegenetzes und die Mittelaufbringung nach der Satzung eigenverantwortlich sicherzustellen. Ihm allein kommt daher auch die Verfügungsmacht zu, die entsprechenden Maßnahmen zu setzen. Damit besteht aber kein Zweifel, dass (nur) der Gemeindeverband im vorliegenden Fall als Wegehalter anzusehen ist. Die Haftung der Gemeinde kann daher nicht auf § 1319a ABGB gestützt werden.
3.3. Als Zwischenergebnis ist daher festzuhalten:
[21] Die beklagte Gemeinde ist aufgrund der Übertragung ihrer Pflichten als Straßenerhalter auf den Gemeindeverband nicht (mehr) Wegehalterin iSd § 1319a ABGB. Diese Rechtsstellung kommt vielmehr dem Gemeindeverband an deren Stelle alleine zu.
[22] Aus § 1319a ABGB kann daher eine Haftung der Beklagten nicht abgeleitet werden.
[23] 4. Daraus folgt aber noch nicht, dass die beklagte Gemeinde jedenfalls nicht haftet.
[24] 4.1 Die Klägerin hat sich zur Begründung der Passivlegitimation der beklagten Gemeinde – wenn auch im Zusammenhang mit ihrem Argument, deren (gesetzliche) Haftung nach § 1319a ABGB bleibe unberührt – explizit auf § 13 der Satzung des Gemeindeverbands berufen, wonach durch die Übernahme der Erhaltung und der Kosten der genannten Wege durch den Verband § 1319a ABGB nicht berührt wird und die Haftung für den jeweiligen ordnungsgemäßen Wegzustand bei den Gemeinden verbleibt.
[25] 4.2 Diese Satzungsbestimmung dient aber schon nach dem Wortlaut (arg: „Haftung“) nicht nur der Regelung der internen Tragung von (berechtigten) Schadenersatzansprüchen zwischen dem Gemeindeverband und den Gemeinden, sondern soll nach ihrem erkennbaren Zweck allfällige Geschädigte absichern, die – unabhängig von einer Haftung des Gemeindeverbands nach § 1319a ABGB – (auch) gegen die Gemeinden ihre Ansprüche geltend machen können sollen (vgl 4 Ob 33/23s [Kostentragungsregel zu Gunsten eines Vertragserrichters]). Die Satzung kann daher als ein echter (öffentlich‑rechtlicher) Vertrag zu Gunsten Dritter im Zusammenhang mit Haftungsansprüchen aufgrund eines mangelhaften Wegezustands verstanden werden. Zwar lag der Vereinbarung möglicherweise ein irriges Verständnis des Halterbegriffs in § 1319a ABGB zugrunde. Es besteht aber kein Zweifel, dass die Vertragspartner (Gemeinden) jedenfalls das Ziel verfolgten, auch nach außen keine Änderung des Haftungsregimes eintreten zu lassen. Unabhängig davon, ob man auf die Auslegung der Vereinbarung die §§ 6 und 7 ABGB oder § 914 ABGB anwendet, lässt sich dieses Ziel nur durch Annahme eines durch die Vereinbarung begründeten weiteren Anspruchs erreichen. Denn sonst müsste § 13 der Satzung geradezu als Irreführung potentiell Geschädigter verstanden werden, die im Vertrauen auf diese Bestimmung die jeweilige Gemeinde in Anspruch nehmen und durch die Verlagerung der Haltereigenschaft Prozessverlust und unter Umständen Verjährung des Anspruchs gegen den Gemeindeverband gewärtigen müssten. Ein solches Verständnis kann der Satzung und den beteiligten Gemeinden nicht unterstellt werden.
[26] Kompetenzrechtliche Überlegungen stehen dem nicht entgegen, weil keine Änderung des gesetzlichen Haftungsregims des § 1319a ABGB erfolgt (also die von Gesetzes wegen bestehende Haftung des Gemeindeverbands nicht berührt wird), sondern im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung ein weiterer (vertraglicher) Anspruch zu Gunsten eines Dritten begründet wird.
[27] 4.3 Die Gemeinde hat sich daher in der Vereinbarung zur Gründung des Gemeindeverbands verpflichtet, für allfällige gegen diesen nach § 1319a ABGB bestehende Ansprüche einzustehen. Der Einwand fehlender Passivlegitimation geht daher fehl.
[28] 4.4 Zu prüfen ist daher, ob der Klägerin ein Anspruch gegen den Gemeindeverband als Wegehalter nach § 1319a ABGB zukommt, zu dessen Befriedigung sich die Beklagte verpflichtet hat. Dabei ist ua maßgeblich, ob die vom Gemeindeverband beauftragte Nebenintervenientin zu dessen Leuten gehört. Entscheidend ist daher nicht – wie bisher von den Vorinstanzen und den Parteien angenommen – die Leuteeigenschaft des Wegeerhaltungsverbands, sondern jene der Nebenintervenientin.
[29] 5. Da auch der Oberste Gerichtshof die Parteien in seiner Entscheidung nicht mit einer Rechtsauffassung überraschen darf, die sie nicht beachtet haben oder auf die sie das Gericht nicht aufmerksam gemacht hat, ist den Parteien die Möglichkeit zu geben, zu diesen neuen rechtlichen Gesichtspunkten Tatumstände und ihre Rechtsansichten vorzutragen (5 Ob 130/24i Rz 27 mwN).
6. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.
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