European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0120OS00150.24M.0304.000
Rechtsgebiet: Strafrecht
Spruch:
Im Verfahren AZ 8 U 145/21k des Bezirksgerichts Innsbruck verletzen
I) die Unterlassung der Verständigung der Privatbeteiligten M* vom Anklagerücktritt § 72 Abs 3 StPO;
II) der Beschluss vom 23. September 2021 auf „Einstellung des Verfahrens [hinsichtlich] K* gemäß § 227 Abs 1 StPO“ § 86 Abs 1 und § 72 Abs 3 StPO;
III) die nach diesem Beschluss erfolgte (weitere) Durchführung des Hauptverfahrens gegen K* einschließlich der Urteilsfällung am 15. Dezember 2022, soweit sie auch die zu 1 des Schuldspruchs angeführte Straftat erfassen, § 4 Abs 2 StPO
IV) das Urteil vom 15. Dezember 2022 den aus § 72 Abs 3 und 4 StPO abzuleitenden Grundsatz der Bindungswirkung der gerichtlichen Einstellung des Verfahrens gemäß § 72 Abs 3 letzter Satz StPO;
V) das Unterbleiben der Anführung der in § 260 Abs 1 Z 1 und 2 StPO bezeichneten Angaben im Hauptverhandlungsprotokoll vom 15. Dezember 2022 § 271 Abs 1 Z 7 StPO.
Das genannte Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, wird im Schuldspruch der K* zu 1 ersatzlos, demzufolge in der zu 1 und 2 des Schuldspruchs gebildeten Subsumtionseinheit sowie in dem diese Angeklagte betreffenden Strafausspruch aufgehoben und die Sache in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Innsbruck verwiesen.
Gründe:
[1] Mit Strafantrag vom 25. Juni 2021 legte die Staatsanwaltschaft Innsbruck * K* und * J* zu AZ 8 U 145/21k des Bezirksgerichts Innsbruck eine als Vergehen des Diebstahls nach § 127 StGB beurteilte Tat zur Last (ON 7).
[2] Am 21. September 2021 trat die Staatsanwaltschaft Innsbruck hinsichtlich K* gemäß § 227 Abs 1 StPO (iVm § 447 StPO) aus dem Grunde des § 192 Abs 1 Z 1 StPO (endgültig) von der Anklage zurück (ON 1 S 5). Daraufhin stellte das Bezirksgericht Innsbruck das Verfahren gegen die Genannte – ohne vorangehende Verständigung der Privatbeteiligten M* – mit Beschluss vom 23. September 2021 gemäß (der Sache nach) § 72 Abs 3 letzter Satz StPO ein (ON 1 S 6; siehe auch VJ). Den Beschluss, der (auch laut VJ) nur den Wortlaut „Das Strafverfahren gegen * K*, geb. am: *1979[,] wegen § 127 StGB wird gemäß § 227 Abs 1 StPO eingestellt.“ aufwies und keine Rechtsmittelbelehrung enthielt, stellte es (unter anderem) der M* zu.
[3] In der am 28. Oktober 2021 hinsichtlich J* durchgeführten Hauptverhandlung stellte das Bezirksgericht Innsbruck das Verfahren gegen diese unter Bestimmung einer Probezeit von zwei Jahren gemäß § 203 Abs 1 StPO vorläufig ein (ON 27 S 1 und ON 28).
[4] Am 9. August 2022 beantragte die Staatsanwaltschaft Innsbruck die Fortsetzung des Verfahrens gegen J* gemäß § 205 Abs 2 Z 3 StPO unter Verweis auf einen beim Bezirksgericht Salzburg (zum AZ 28 U 195/22p) gegen J* und K* wegen einer dem Vergehen des Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB unterstellten Tat eingebrachten Strafantrag (ON 31).
[5] Mit – unbekämpft in Rechtskraft erwachsenem – Beschluss vom 22. August 2022 setzte das Bezirksgericht Innsbruck das Verfahren gegen J* gemäß § 205 Abs 2 Z 3 StPO fort (ON 32).
[6] Am 24. Oktober 2022 verfügte das Bezirksgericht Innsbruck die Einbeziehung des Verfahrens AZ 28 U 195/22p des Bezirksgerichts Salzburg (ON 35; s ON 1 S 7).
[7] Mit Verfügung vom 11. November 2022 beraumte das Bezirksgericht Innsbruck die Hauptverhandlung für den 15. Dezember 2022 an (ON 1 S 8). Zudem bezog es am 2. Dezember 2022 das Verfahren AZ 3 U 204/22g des Bezirksgerichts Schwaz gegen J* wegen § 146 StGB (ON 39) ein (ON 1 S 8).
[8] Mit – unbekämpft in Rechtskraft erwachsenem – Urteil vom 15. Dezember 2022, GZ 8 U 145/21k-46, das infolge Nichterscheinens der zum Vorwurf vernommenen (ON 2.8 in ON 35), persönlich geladenen (ON 42) Angeklagten K* (nur) hinsichtlich dieser ein Abwesenheitsurteil darstellt, erkannte das Bezirksgericht Innsbruck K* und J* jeweils des Vergehens des Diebstahls nach §§ 127, 15 StGB (zu 1 und 2), J* darüber hinaus des Vergehens des Betrugs nach § 146 StGB (zu 3) schuldig und verurteilte K* zu einer (unbedingten) Freiheitsstrafe von drei Monaten sowie J* zu einer Geldstrafe (ON 46).
[9] Nach diesem Urteil hat – soweit hier von Belang – K* im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit J* Nachgenannten fremde bewegliche Sachen mit dem Vorsatz, sich oder einen Dritten durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, zu 1 weggenommen und zu 2 wegzunehmen versucht, und zwar
(1) am 16. März 2021 in I* Berechtigten der M* eine Lautsprecherbox „Bose“ im Wert von 599 Euro, sowie
(2) am 30. Juli 2022 in S* Berechtigten des Kleiderhauses „P*“ Bekleidung und Schuhe im Wert von insgesamt 2.282,70 Euro.
[10] Die zu 1 des Schuldspruchs der K* dargestellte Straftat war Gegenstand des Einstellungsbeschlusses vom 23. September 2021 (ON 1 S 6).
[11] Im Protokoll über die Hauptverhandlung vom 15. Dezember 2022 wurde hinsichtlich der Schuldsprüche lediglich vermerkt: „Der Richter verkündet das Urteil samt den wesentlichen Entscheidungsgründen (hinsichtlich J* §§ 146, 15, 127, Verurteilung laut Strafanträgen, Geldstrafe 150 Tagessätze, 75 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, Tagessatzhöhe 4 €, gesamt 600 € unbedingt, § 389 StPO, Zahlung von 301,17 € an R*[,] hinsichtlich K*, §§ 127, 15, Verurteilung im Sinne der Strafanträge, § 39 StGB Freiheitsstrafe 3 Monate, § 389 StPO, unbedingte Strafverhängung)“ (ON 45 S 5 ff).
Rechtliche Beurteilung
[12] Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt, stehen nachfolgende Vorgänge mit dem Gesetz nicht im Einklang:
[13] I) Der – auch in Bezug auf einzelne Taten zulässige – Rücktritt der Staatsanwaltschaft gemäß § 227 Abs 1 StPO führt in den Fällen, in denen bis dahin kein Privatbeteiligtenanschluss vorliegt, zur sofortigen Beendigung des Verfahrens und entfaltet Sperrwirkung. Der Beschluss auf Einstellung des Verfahrens gemäß § 227 Abs 1 StPO stellt diesfalls der Sache nach eine prozessleitende Verfügung iSd § 35 Abs 2 zweiter Satzteil StPO dar und hat nur deklarative Bedeutung (RIS-Justiz RS0124396; Danek/Mann, WK-StPO § 227 Rz 2). Erfolgte aber – wie vorliegend durch die M* – bereits vor dem Anklagerücktritt (RIS-Justiz RS0130257) ein Privatbeteiligtenanschluss (§ 67 Abs 2 StPO), so ist der außerhalb der Hauptverhandlung erklärte Rücktritt der Staatsanwaltschaft von der Anklage gemäß § 72 Abs 3 erster Satz StPO dem Privatbeteiligten durch das Gericht mit der Belehrung mitzuteilen, dass er binnen einem Monat die Erklärung abgeben könne, die Anklage als Subsidiarankläger aufrecht zu erhalten. Sofern er dies nicht tut, wird angenommen, dass er die Verfolgung nicht aufrecht halte. Erst dann ist das Verfahren (hier:) vom Bezirksgericht mit (anfechtbarem [11 Os 2/15a, 3/15y, 76/15h; vgl Danek/Mann,WK-StPO § 227 Rz 2]) Beschluss einzustellen (§ 72 Abs 3 dritter und vierter Satz StPO).
[14] II) Die Beschlussfassung durch das Bezirksgericht Innsbruck vom 23. September 2021 ohne vorangehende Verständigung der Privatbeteiligten M* verletzt daher § 72 Abs 3 StPO. Da dieser Beschluss weder Begründung noch Rechtsmittelbelehrung enthielt, ist überdies § 86 Abs 1 StPO verletzt (vgl zum Fehlen der Rechtsmittelbelehrung und deren Auswirkungen auf den Beginn des Fristenlaufs RIS-Justiz RS0123942).
[15] III) Die Einleitung und Durchführung eines Hauptverfahrens setzt eine rechtswirksame Anklage voraus (§ 4 Abs 2 StPO). Daher ist die (weitere) Durchführung des Hauptverfahrens unzulässig, wenn die Staatsanwaltschaft von der Anklage gemäß § 227 Abs 1 StPO zurücktritt und der Privatbeteiligte nicht erklärt, sie aufrecht zu halten. Der Anberaumung und Durchführung der Hauptverhandlung sowie der Urteilsfällung am 15. Dezember 2022, soweit sie die im Strafantrag der Staatsanwaltschaft Innsbruck vom 25. Juni 2021 (ON 7) genannte Tat vom 16. März 2021 erfassten (= Schuldspruch der K* zu 1), stand daher § 4 Abs 2 StPO entgegen (vgl RIS-Justiz RS0124396).
[16] IV) Weiters weist die Generalprokuratur zutreffend darauf hin, dass ein auf § 72 Abs 3 letzter Satz StPO gestützter Einstellungsbeschluss bereits ab dem Zeitpunkt (hier) der Übergabe der unterfertigten schriftlichen Fassung an die Kanzlei Bindungswirkung entfaltet. Die Behebung oder Abänderung einer solchen Entscheidung kann grundsätzlich nur noch im Anfechtungsweg erfolgen (vgl RIS‑Justiz RS0101270 [insb auch T1]; RS0101040; RS0091907; Lewisch,WK-StPO Vor §§ 352–363 Rz 32 ff).
[17] Vorliegend war der in Rede stehende Einstellungsbeschluss vom 23. September 2021 zwar der M* gegenüber noch nicht in Rechtskraft erwachsen (vgl erneut RIS-Justiz RS0123942), er stellte jedoch bereits ein (vorerst) temporäres Verfolgungshindernis hinsichtlich der von ihm erfassten Straftat dar. Das Urteil des Bezirksgerichts Innsbruck vom 15. Dezember 2022 ist daher, soweit dieses K* auch wegen der vom Einstellungsbeschluss erfassten Straftat schuldig erkannte (= Schuldspruch zu 1), ohne dass zuvor das Bestehen dieses Verfolgungshindernisses abgeklärt wurde, in einem mangelhaften Verfahren zustande gekommen (vgl 13 Os 64/09z; Ratz, WK-StPO § 292 Rz 17).
[18] V) Schließlich hat das über die Hauptverhandlung aufzunehmende Protokoll gemäß § 271 Abs 1 Z 7 StPO (hier iVm § 458 zweiter Satz StPO) den Spruch des Urteils mit den in § 260 Abs 1 Z 1 bis 3 StPO bezeichneten Angaben zu enthalten. Der in das Hauptverhandlungsprotokoll vom 15. Dezember 2022 aufgenommene (oben wiedergegebene) Vermerk genügt den in Z 1 und 2 leg cit genannten Anforderungen nicht (vgl RIS-Justiz RS0098552 [T2]; 11 Os 139/20f, 12 Os 108/22g, 11 Os 93/23w ua).
[19] Da sich die zu III und IV aufgezeigten Gesetzesverletzungen zum Nachteil der Verurteilten K* ausgewirkt haben, war deren Feststellung mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO). Daher waren der Schuldspruch der K* zu 1 ersatzlos, demzufolge die zu 1 und 2 gebildete Subsumtionseinheit und der Strafausspruch aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Innsbruck zu verweisen.
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