AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2021:W122.2202526.1.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Gregor ERNSTBRUNNER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.06.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 11.05.2021 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (nachfolgend kurz: BF) stellte am 01.12.2015 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz und wurde am 02.12.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt. Am 06.12.2017 sowie am 03.05.2018 wurde der BF von der nunmehr belangten Behörde, dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), zu seinen Fluchtgründen niederschriftlich einvernommen.
Im behördlichen Verfahren gab der BF als Fluchtgrund im Wesentlichen an, dass er von einem Kommandanten beim Schwimmen entführt und in der Folge missbraucht worden sei. Er habe weiters für die Sicherheitsgarde in Kabul gearbeitet und drohe ihm deshalb Verfolgung durch die Taliban sowie aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der (schiitischen) Hazara.
2. Mit dem angefochtenen Bescheid (zugestellt am 02.07.2018) wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde nicht erteilt, sondern gegen den BF eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkte III. bis V.). Unter Spruchpunkt VI. wurde ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt.
Das BFA stellte dem BF amtswegig einen Rechtsberater zur Seite.
3. Der BF erhob gegen den Bescheid fristgerecht Beschwerde in vollem Umfang.
4. Mit Schriftsatz vom 01.08.2018 (eingelangt am 02.08.2018) legte die belangte Behörde die Beschwerde samt Bezug habenden Verwaltungsunterlagen dem Bundesverwaltungsgericht vor.
5. Mit Schreiben vom 01.03.2021 wurden der BF sowie das BFA zu einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 11.05.2021 geladen. Der BF beantragte mit Schriftsatz vom 07.05.2021 die Einvernahme eines Zeugen zum Nachweis seiner Integration sowie seines schützenswerten Privatlebens und legte diverse Bestätigungen vor.
6. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 11.05.2021 eine mündliche Verhandlung durch, an welcher der BF sowie dessen Rechtsvertretung teilnahmen. Der BF wurde ausführlich zu seiner Person und seinen Fluchtgründen befragt. Es wurde ihm Gelegenheit gegeben, alle Gründe umfassend darzulegen und seine Situation in Österreich darzustellen. Die Niederschrift über die mündliche Verhandlung wurde dem BFA zur Kenntnis gebracht.
7. Die Verkündung des Erkenntnisses entfiel gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG.
8. Das Bundesverwaltungsgericht führte zuletzt am 09.06.2021 eine Strafregisterabfrage durch.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des BF:
Der BF ist ein volljähriger afghanischer Staatsangehöriger. Er führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er gehört der Volksgruppe der Hazara an, bekennt sich zum schiitisch-muslimischen Glauben und spricht Dari als Muttersprache. Er spricht zudem Paschtu sowie ein wenig Französisch und Deutsch (Prüfung auf Niveau A2 positiv abgelegt).
Der BF stammt aus der Provinz Maidan Wardak (Distrikt Behsut) und lebte drei Jahre in Kabul. Der BF hat in Afghanistan zumindest acht Jahre die Schule besucht und war in Afghanistan als Automechaniker, Schneider und knapp drei Jahre in der Sicherheitsgarde eines hochrangigen afghanischen Politikers in Kabul tätig.
Der BF verfügt über seine Eltern, seine beiden Brüder sowie Onkel in seinem Heimatdorf. In seinem Elternhaus leben seine Eltern. Der BF führt eine langjährige Partnerschaft mit einer afghanischen Staatsangehörigen, die in Afghanistan bei ihrer Mutter lebt, und hat keine Kinder. Der BF hat regelmäßig Kontakt mit Verwandten sowie seiner Partnerin.
Der BF reiste im Jahr 2015 unter Umgehung von Passkontrollen aus Afghanistan aus, illegal nach Österreich ein und stellte am 01.12.2015 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Ein nicht auf das Asylgesetz gestütztes Aufenthaltsrecht besteht nicht.
Der BF hat in Österreich Deutschkurse besucht und die ÖSD-Deutschprüfungen für die Stufen A1 und A2 bestanden. In den Jahren 2016 und 2017 nahm er an zwei Informationsveranstaltungen des ÖIF teil.
Der BF lebt von der Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig. In den Jahren 2016 bis 2019 verrichtete er freiwillige und gemeinnützige Tätigkeiten im Bereich der Umweltpflege für die Gemeinde und half er in den Jahren 2016 und 2017 unentgeltlich bei verschiedenen Vereinen. Von 26.06. bis 20.09.2017 half er mehrmals wöchentlich ehrenamtlich in einem Seniorenheim und ist er seit Anfang März 2021 ebenfalls mehrmals in der Woche ehrenamtlich in einem Seniorenheim tätig. Im Jahr 2020 half er beim Speisentransport für die Alten- und Pflegeheime im Ort und führt er in der Flüchtlingsunterkunft sowie im Rahmen der Nachbarschaftshilfe diverse Hilfsarbeiten durch. Der BF hat gelegentlich Dienstleistungen für Dienstleistungsschecks erbracht. Im Zeitraum 14.02.2019 bis 14.03.2019 arbeitete er tageweise in einem Museum. Im Jahr 2017 hat sich der BF über das AMS um eine Stelle in der Landwirtschaft beworben.
Der BF konnte in Österreich Freundschaften (auch mit österreichischen Staatsbürgern) knüpfen und wird von Freunden, Bekannten und Arbeitgebern sehr geschätzt. Diese beschreiben den BF u.a. als fleißig, arbeitswillig, hilfbereit, zuverlässig, höflich und hoch motiviert. Die sozialen Kontakte entstanden zu einem Zeitpunkt, als der BF bereits seinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat.
Der BF verfügt über keine familiären oder sonstigen verwandtschaftlichen bzw. familienähnlichen sozialen Bindungen in Österreich. Der BF lebt hier in keiner Lebensgemeinschaft. Der BF absolviert in Österreich keine Ausbildung.
Der BF leidet an keiner physischen oder psychischen (schweren oder lebensbedrohlichen) Erkrankung und ist arbeitsfähig.
Der BF hat sich in Österreich keine Lebenseinstellung angeeignet, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt und die ein wesentlicher Bestandteil seiner Persönlichkeit geworden ist.
Der BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
Weder der BF noch seine Familie wurden in Afghanistan jemals von den Taliban oder von anderen Personen bedroht.
Der BF wurde in Afghanistan nicht von einem Kommandanten entführt und vergewaltigt.
Der BF war in Afghanistan wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit zu den Hazara, wegen seiner Religionszugehörigkeit zu den Schiiten oder wegen seiner Tätigkeit für einen hochrangigen afghanischen Politiker konkret und individuell weder physischer noch psychischer Gewalt ausgesetzt.
Der BF hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in seine körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen.
Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan drohen dem BF weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch die Taliban, den Kommandanten XXXX oder durch andere Personen.
1.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF nach Afghanistan:
Dem BF könnte bei einer Rückkehr in die Herkunftsprovinz Maidan Wardak aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.
Dem BF ist es jedoch möglich und zumutbar, sich in den Städten Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat anzusiedeln. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in den Städten Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat kann der BF grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung, Unterkunft und medizinische Versorgung befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und in den Städten Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif einer Arbeit nachgehen und sich selber erhalten.
Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert und mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut. Er ist zudem anpassungsfähig. Der BF hat Ortskenntnisse betreffend Kabul und sind ihm die dortigen städtische Strukturen bekannt. Der BF hat keine Sorgepflichten. Er kann bei einer Rückkehr nach Afghanistan zumindest anfänglich mit finanzieller und organisatorischer Unterstützung seiner Familie rechnen. Der BF kann auch Rückkehrhilfe in Aspruch nehmen.
Es ist dem BF möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in den Städten Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.
1.4. Zur maßgeblichen Lage in Afghanistan:
Die Länderfeststellungen in Afghanistan basieren auf nachstehenden in das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht eingeführten Quellen:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Version 4 (LIB),
- EASO Country Guidance: Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO 2020),
- EASO-Bericht Afghanistan Netzwerke, Stand Jänner 2018 (EASO Netzwerke),
- UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR).
Aktuelle Entwicklungen
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.10.2020). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020) (LIB, S. 23).
Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). 2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa Al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020, EASO 8.2020a). Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der afghanischen Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der afghanischen Regierung vor, ihren Teil der am 29.2.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten, und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020) (LIB, S. 27 f).
Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (AI 7.4.2021) (LIB, S. 28).
Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020; vgl. AI 7.4.2021). Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 9.12.2020; vgl. AI 7.4.2021). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.9.2020; vgl. EASO 8.2020a) wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 6.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die „innerhalb des Islam“ vorgesehen sind (BBC 22.9.2020). Frauenrechtlerinnen in Afghanistan haben jedoch seit vielen Jahren Bedenken geäußert, dass die Regierung die Rechte der Frauen eintauschen wird, um eine Einigung mit den Taliban zu erreichen. Die afghanische Regierung hat sich oft dagegen gewehrt, Frauen in Friedensgespräche einzubeziehen. Im Juni 2015 verabschiedete die afghanische Regierung einen nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der Resolution 1325 des Sicherheitsrats für den Zeitraum 2015 bis 2022, der auch das Ziel enthielt, die effektive Beteiligung von Frauen am Friedensprozess zu gewährleisten, doch dem Plan fehlten Details und er wurde nicht sinnvoll umgesetzt (HRW 22.3.2021). Am Tag der Wiederaufnahme der Verhandlungen in Doha am 5.1.2021 wurde nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Kabul in mindestens 22 von 34 Provinzen des Landes gekämpft (Ruttig 12.1.2021; vgl. TN 9.1.2021). Die neue amerikanische Regierung warf den Taliban im Januar 2021 vor, gegen das im Februar 2020 geschlossene Friedensabkommen zu verstoßen und sich nicht an die Verpflichtungen zu halten, ihre Gewaltakte zu reduzieren und ihre Verbindungen zum Extremistennetzwerk Al-Qaida zu kappen. Ein Pentagon-Sprecher gab an, dass sich der neue Präsident Joe Biden dennoch an dem Abkommen mit den Taliban festhält, betonte aber auch, solange die Taliban ihre Verpflichtungen nicht erfüllten, sei es für deren Verhandlungspartner „schwierig“, sich an ihre eigenen Zusagen zu halten (FAZ 29.1.2020; vgl. DZ 29.1.2021). Jedoch noch vor der Vereidigung des US-Präsidenten Joe Biden am 19.1.2021 hatte der designierte amerikanische Außenminister signalisiert, dass er das mit den Taliban unterzeichnete Abkommen neu evaluieren möchte (DW 29.1.2020; vgl. BBC 23.1.2021). Nach einer mehr als einmonatigen Verzögerung inmitten eskalierender Gewalt sind die Friedensgespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung am 22.2.2021 in Katar wieder aufgenommen worden (RFE/RL 23.2.2021b; vgl. AP 23.2.2021). Am 18.3.2021 empfing die russische Regierung Vertreter der afghanischen Regierung, der Taliban und von Partnerländern zu einem Gipfeltreffen, das die Friedensgespräche voranbringen sollte. Der 12-köpfigen afghanischen Regierungsdelegation gehörte eine Frau, Dr. Habiba Sarabi, an - ein Rückschritt gegenüber der Teilnahme von vier Frauen unter den 20 Mitgliedern beim innerafghanischen Dialog in Doha, Katar, im September 2020. Die 10-köpfige Taliban-Delegation war wie in der Vergangenheit ausschließlich männlich. Afghanische Frauenrechtsaktivistinnen haben die Sorge geäußert, dass Frauen von den geplanten Friedensgesprächen in der Türkei weitgehend ausgeschlossen werden, wodurch die Rechte der Frauen bei einer endgültigen Einigung stark gefährdet sind (HRW 22.3.2021). Beobachter sehen bei den Taliban eine bewusste Strategie des Teilens und Herrschens am Werk, die Einladungen zu privaten Gesprächen an verschiedene regionale Warlords und Herrscher verschickt haben. Offenbar ist das Ziel, Präsident Ghani zu isolieren (BAMF 10.5.2021). Die USA versuchten, in Istanbul eine Konferenz zu organisieren, um an einer Einigung zwischen den Taliban-Aufständischen und der afghanischen Regierung zu arbeiten, indem sie beide Parteien und andere wichtige internationale und regionale Akteure zusammenbrachten (AAN 1.5.2021; vgl. REU 20.4.2021. Die Taliban zeigten, wie sie selbst sagten, kein Interesse an dem Treffen und erklärten nach der Biden-Ankündigung zu den Truppen, dass sie nicht teilnehmen würden. Die Taliban nannten die Konferenz einen Versuch, „die Taliban, ob sie wollen oder nicht, zu einer überstürzten Entscheidung zu drängen, die von Amerika benötigt wird“ (AAN 1.5.2021; vgl. VOJ 20.4.2021, AP 21.4.2021). Die USA, die Türkei, Katar und Pakistan versuchten Berichten zufolge, die Taliban zur Teilnahme an der Konferenz zu bewegen, die für den 24.4.2021 bis 4.5.2021 geplant war, aber scheiterte. Sie wurde offiziell nicht abgesagt, sondern verschoben (AAN 1.5.2021; vgl. TN 22.4.2021). Die Taliban haben die Teilnahme an einem zukünftigen Gipfel in der Türkei nicht ausgeschlossen (RFE/RL 12.5.2021a). Auf der Kabuler Seite zog die politische Klasse auch nach dem klaren Signal der USA, die Truppen abzuziehen, nicht an einem Strang, weder um ernsthaft mit den Taliban zu verhandeln noch um eine alternative Strategie zu beschließen und zu verfolgen (AAN 1.5.2021) (LIB, S. 28 ff).
Abzug der internationalen Truppen
Im April kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen (WH 14.4.2021; vgl. RFE/RL 19.5.2021, AAN 1.5.2021, BBC 23.4.2021) - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan (RFE/RL 19.5.2021). Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin „terroristische Bedrohungen“ überwachen und bekämpfen sowie „die Regierung Afghanistans“ und „die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen“ (WH 14.4.2021), allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen (AAN 1.5.2021). Die Taliban zeigten sich von der Ankündigung eines vollständigen und bedingungslosen Abzugs nicht besänftigt, sondern äußerten sich empört über die Verzögerung, da im Doha-Abkommen der 30.4.2021 als Datum für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden war. In einer am 15.4.2021 veröffentlichten Erklärung wurden Drohungen angedeutet: Der „Bruch“ des Doha-Abkommens „öffnet den Mudschaheddin des Islamischen Emirats den Weg, jede notwendige Gegenmaßnahme zu ergreifen, daher wird die amerikanische Seite für alle zukünftigen Konsequenzen verantwortlich gemacht werden, und nicht das Islamische Emirat“ (AAN 1.5.2021; vgl. VOJ 20.4.2021). Für die Taliban ist die Errichtung einer „islamischen Struktur“ eine Priorität. Wie diese aussehen würde, haben die Taliban noch nicht näher ausgeführt. Ähnliche Bedenken werden in Bezug auf die Auslegung der Scharia und die Rechte der Frauen geäußert. Die Verhandlungen mit den USA haben bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs ausgelöst. Indem sie mit den Taliban verhandeln, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt. Gleichzeitig haben die Verhandlungen aber auch die afghanische Regierung unterminiert, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (VIDC 26.4.2021). Der Abzug wird eine große Bewährungsprobe für die afghanischen Sicherheitskräfte sein. US-Generäle und andere Offizielle äußerten die Befürchtung, dass er zum Zusammenbruch der afghanischen Regierung und einer Übernahme durch die Taliban führen könnte (RFE/RL 19.5.2021). Viele befürchten, dass mit dem Abzug der US-Truppen aus Afghanistan eine neue Phase des Konflikts und des Blutvergießens beginnen wird (VIDC 26.4.2021; vgl. AAN 1.5.2021, GM 18.5.2021). Mit dem Abzug der US-Truppen in den nächsten Monaten können die ANDSF mit einem Rückgang der Luftunterstützung und der Partner am Boden rechnen (AAN.1.5.2021; vgl. GM 18.5.2021), während die Taliban in jüngsten Äußerungen (Ende April 2021) voneinem bevorstehenden Sieg sprachen (RFE/RL 12.5.2021a; vgl. BBC 15.4.2021). Es gab auch einen Anstieg von tödlichen Selbstmordattentaten in städtischen Gebieten, die der islamistischen Gruppe angelastet werden (RFE/RL 12.5.2021a) und verstärkte Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen im April (RFE/RL 12.5.2021a; cf. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021, LWJ 20.5.2021). Damit haben die Taliban seit Beginn des Truppenabzugs am 1.5.2021 bis Anfang Juni mindestens 12 Distrikte erobert (LWJ 6.6.2021; vgl. DW 6.6.2021, MENAFN 7.6.2021, LWJ 20.5.2021, VOA 7.6.2021). Es wird erwartet, dass unter einer künftigen Taliban-Herrschaft die Rechte der Frauen im Land einen schweren Rückschlag erleiden werden (BAMF 10.5.2021; vgl. AI 24.5.2021, TD 25.5.2021, BBC 25.4.2021). Außerdem werden die Auswirkungen für Frauen in ländlichen Gebieten, in denen die Taliban die absolute Kontrolle haben, noch schlimmer sein als für Frauen in den großen städtischen Zentren wie Kabul (TD 25.5.2021). Im Mai 2021 warnte Human Rights Watch (HRW), dass sich die Gesundheitsversorgung für Frauen und Mädchen in Afghanistan aufgrund fehlender Spendengelder als Folge des Abzugs der internationalen Truppen und der unklaren Lage im Land verschlechtern wird (HRW 5.2021; vgl. BAMF 10.5.2021). Viele der schätzungsweise 18.000 afghanischen Dolmetscher, Kommandosoldaten und andere, die mit den US-Streitkräften zusammengearbeitet haben, haben Visa beantragt, um in die USA auszuwandern - ein Prozess, der nach Angaben von Gesetzgebern mehr als zwei Jahre dauern könnte, was sie möglicherweise Racheakten der Taliban aussetzen würde (RFE/RL 19.5.2021). US-amerikanische, britische und deutsche Beamte sowie internationale NGOs wie Human Rights Watch (HRW) äußerten sich besorgt über die Sicherheit von ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte (RFE/RL 19.5.2021; BAMF 17.5.2021; BBC 27.4.2021; HRW 8.6.2021), während die Taliban angaben, nicht gegen (ehemalige) Mitarbeiter der internationalen Truppen vorgehen zu wollen. Die Taliban behaupteten in der Erklärung, dass Afghanen, die für die ausländischen „Besatzungstruppen“ gearbeitet hätten, „irregeführt“ worden seien und „Reue“ für ihre vergangenen Handlungen zeigen sollten, da diese einem „Verrat“ am Islam und an Afghanistan gleichkämen (VOA 7.6.2021; vgl. MENAFN 7.6.2021, DZ 7.6.2021, HRW 8.6.2021). In den vergangenen Wochen gab es mehrere Demonstrationen afghanischer Ortskräfte in der Hauptstadt Kabul. Sie forderten die ausländischen Truppen und Botschaften auf, sie im Ausland in Sicherheit zu bringen (DZ 7.62021; vgl. HRW 8.6.2021). Im Mai 2021 schätzt das US-Militär, dass es bis zu einem Viertel seines Abzugs aus Afghanistan abgeschlossen hat (VOA 25.5.2021; vgl. AnA 26.5.2021) und fünf Einrichtungen an das afghanische Verteidigungsministerium übergeben wurden, darunter die riesige Militärbasis Kandahar Airfield [KAF] im Süden Afghanistans (AnA 26.5.2021; vgl. RFE/RL 19.5.2021, AAN 1.5.2021) (LIB, S. 30 f).
Allgemeine Sicherheitslage
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019). Dies stellt eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität dar (USDOD 12.2019) (LIB, S. 239).
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-TalibanAbkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020). Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.7.2020). Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch Tausender Gefangener verhandelt (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020; vgl. HRW 13.1.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.1.2021) (LIB, S. 34).
Die Sicherheitslage verschlechterte sich im Jahr 2020, in dem die Vereinten Nationen 25.180 sicherheitsrelevante Vorfälle registrierten, ein Anstieg von 10% gegenüber den 22.832 Vorfällen im Jahr 2019 (UNASC 12.3.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, sodass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020). Während die Zahl der Luftangriffe im Jahr 2020 um 43,6 % zurückging, stieg die Zahl der bewaffneten Zusammenstöße um 18,4 % (UNGASC 12.3.2021). Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43 Prozent aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen (AAN 16.8.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020). Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größereStädte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) der Taliban eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu (HRW 13.1.2021; vgl. AAN 16.8.2020, USDOS 30.3.2021). In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten (AA 14.1.2021; vgl. UNGASC 12.3.2021, AIHRC 28.1.2021). Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat (UNGASC 12.3.2021; vgl. AAN 16.8.2020), scheint es in der ersten Hälfte 2020 eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (AAN 16.8.2020). Die Taliban hielten jedoch den Druck auf wichtige Verkehrsachsen und städtische Zentren aufrecht, einschließlich gefährdeter Provinzhauptstädte wie in den Provinzen Farah, Kunduz, Helmand und Kandahar. Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen durch, um wichtige Autobahnen zu sichern und die Gewinne der Taliban rückgängig zu machen, insbesondere im Süden nach den jüngsten Offensiven der Taliban auf die Städte Lashkar Gah und Kandahar (UNGASC 12.3.2021) (LIB, S. 35 f).
Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021a; cf. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021). Im Mai 2021 übernahmen die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Dawlat Shah in der ostafghanischen Provinz Laghman (LWJ 20.5.2021) und den Distrikt Nerkh in der Provinz (Maidan) Wardak, einen strategischen Distrikt etwa 40 Kilometer von Kabul entfernt. Spezialkräfte wurden in dem Gebiet eingesetzt, um den Distrikt Nerkh zurückzuerobern, nachdem Truppen einen „taktischen Rückzug“ angetreten hatten (RFE/RL 12.5.2021b; vgl. TN 12.5.2021, AJ 12.5.2021). Aufgrund der sich intensivierenden Kämpfe zwischen den Taliban und der Regierung an unterschiedlichsten Fronten in mindestens fünf Provinzen (Baghlan, Kunduz, Helmand, Kandahar und Laghman) sind im Mai 2021 bis zu 8.000 Familien vertrieben worden. Berichten zufolge haben dieVertriebenen keinen Zugang zu Unterkunft, Verpflegung, Schulen oder medizinischer Versorgung (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 2.6.2021). Ende Mai/Anfang Juni übernahmen die Taliban die Kontrolle über mehrere Distrikte (LWJ 6.6.2021; vgl. DW 6.6.2021, MENAFN 7.6.2021). Die Taliban haben den Druck in allen Regionen des Landes verstärkt, auch in Laghman, Logar und Wardak, drei wichtigen Provinzen, die an Kabul grenzen (LWJ 6.6.2021; vgl. RFE/RL 1.6.2021). Damit haben die Taliban seit Beginn des Truppenabzugs am 1.5.2021 bis Anfang Juni mindestens zwölf Distrikte erobert (LWJ 6.6.2021; vgl. DW 6.6.2021, MENAFN 7.6.2021, LWJ 20.5.2021, VOA 7.6.2021) (LIB, S. 35).
Zivile Opfer
Zwischen dem 1.1.2021 und dem 31.3.2021 dokumentierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 1.783 zivile Opfer (573 Tote und 1.210 Verletzte). Der Anstieg der zivilen Opfer im Vergleich zum ersten Quartal 2020 war hauptsächlich auf dieselben Trends zurückzuführen, die auch im letzten Quartal des vergangenen Jahres zu einem Anstieg der zivilen Opfer geführt hatten - Bodenkämpfe, improvisierte Sprengsätze (IEDs) und gezielte Tötungen hatten auch in diesem vergleichsweise warmen Winter extreme Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung (UNAMA 4.2021; vgl. UNSC 1.6.2021). Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA 2.2021a; AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021a). Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch einweiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (UNAMA 2.2021a). Obwohl ein Rückgang der durch regierungsfeindliche Elemente verletzten Zivilisten im Jahr 2020, der hauptsächlich auf den Mangel an zivilen Opfern durch wahlbezogene Gewalt und den starken Rückgang der zivilen Opfer durch Selbstmordattentate im Vergleich zu 2019 zurückzuführen ist, festgestellt werden konnte, so gab es einen Anstieg zivilen Opfer durch gezielte Tötungen, durch wahllos von Opfern aktivierte Druckplatten-IEDs und durch fahrzeuggetragene Nicht-Selbstmord-IEDs (UNAMA 2.2021a; vgl. ACCORD 6.5.2021b). Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021). Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben aufständische Gruppen inAfghanistan ihre gezielten Tötungen von Frauen und religiösen Minderheiten erhöht (HRW 16.3.2021). Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.1.2021) (LIB, S. 36 f).
Im April 2021 meldete UNAMA für das erste Quartal 2021 einen Anstieg der zivilen Opfer um 29% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Aufständische waren für zwei Drittel der Opfer verantwortlich, Regierungstruppen für ein Drittel. Seit Beginn der Friedensverhandlungen in Doha Ende 2020 wurde für die letzten sechs Monate ein Anstieg von insgesamt 38 % verzeichnet (UNAMA 4.2021; vgl. BAMF 19.4.2021) (LIB, S. 37).
Während des gesamten Jahres 2020 dokumentierte UNAMA Schwankungen in der Zahl der zivilen Opfer parallel zu den sich entwickelnden politischen Ereignissen. Die „Woche der Gewaltreduzierung“ vor der Unterzeichnung des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban in Doha am 29.2.2020 zeigte, dass die Konfliktparteien die Macht haben, Schaden an der Zivilbevölkerung zu verhindern und zu begrenzen, wenn sie sich dazu entschließen, dies zu tun. Ab März wuchs dann die Besorgnis über ein steigendes Maß an Gewalt, da UNAMA zu Beginn des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie eine steigende Zahl von zivilen Opfern und Angriffen auf Gesundheitspersonal und -einrichtungen dokumentierte. Regierungsfeindliche Elemente verursachten mit 62% weiterhin die Mehrzahl der zivilen Opfer im Jahr 2020. Während UNAMA weniger zivile Opfer dem Islamischen Staat im Irak und in der Levante - Provinz Khorasan (ISIL-KP, ISKP) und den Taliban zuschrieb, hat sich die Zahl der zivilen Opfer, die durch nicht näher bestimmte regierungsfeindliche Elemente verursacht wurden (diejenigen, die UNAMA keiner bestimmten regierungsfeindlichen Gruppe zuordnen konnte), im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt (UNAMA 2.2021a; vgl. AAN 16.8.2020). Pro-Regierungskräfte verursachten ein Viertel der getöteten und verletzten Zivilisten im Jahr 2020 (UNAMA 2.2021a; vgl. HRW 13.1.2021). Nach den Erkenntnissen der AIHRC sind von allen zivilen Opfern in Afghanistan im Jahr 2020 die Taliban für 53 % verantwortlich, regierungsnahe und verbündete internationale Kräfte für 15 % und ISKP (ISIS) für fünf Prozent. Bei 25 % der zivilen Opfer sind die Täter unbekannt und 2 % der zivilen Opfer wurden durch pakistanischen Raketenbeschuss in Kunar, Khost, Paktika und Kandahar verursacht (AIHRC 28.1.2021) (LIB, S. 38).
Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019). Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten ’green-on-blueattack’: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.3.2020). High-profile Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente werden landesweit fortgesetzt, insbesondere in der Stadt Kabul. Zwischen dem 13.11.2020 und dem 11.2.2021 wurden 35 Selbstmordattentate dokumentiert, im Vergleich zu 42 im vorherigen Berichtszeitraum. Darüber hinaus wurden 88 Anschläge mit magnetischen improvisierten Sprengsätzen verübt, 43 davon in Kabul, darunter auch gegen prominente Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Gezielte Attentate, oft ohne Bekennerschreiben, nahmen weiter zu (UNGASC 12.3.2021) (LIB, S. 38 f).
Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (TN 26.3.2020; vgl. BBC 25.3.2020, USDOD 1.7.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020, USDOD 1.7.2020). Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge (AIHRC 28.1.2021) (LIB, S. 39).
Provinz Kabul und Kabul-Stadt
Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans (PAJ Kabul o.D.). Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Kabul 2019). Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Kabul im Zeitraum 2020-21 auf 4.459.463 Personen (NSIA 1.6.2020) (LIB, S. 44).
Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 4.434.550 Personen für den Zeitraum 2020-21 (NSIA 1.6.2020). Die Bevölkerung besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus (PAJ Kabul o.D.; vgl. NPS Kabul o.D.) (LIB, S. 45).
Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014), inklusive der Ring Road (Highway 1), welche die fünf größten Städte Afghanistans - Kabul, Herat, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Jalalabad - miteinander verbindet (USAID o.D.) (LIB, S. 45).
Der Highway zwischen Kabul und Kandarhar gilt als unsicher (TN 7.7.2020a). Aufständische sind auf dem Highway aktiv (UNGASC 28.2.2019; vgl. UNOCHA 23.2.2020) und kontrollieren Teile der Straße und es wurde von Straßenblockaden und Checkpoints durch Aufständische berichtet, die sich gegen Regierungsmitglieder und Sicherheitskräfte richten (LI 22.1.2020; vgl. EASO 9.2020). Der Kabul-Jalalabad-Highway ist eine wichtige Handelsroute, die oft als „eine der gefährlichsten Straßen der Welt“ gilt (was sich auf die zahlreichen Verkehrsunfälle bezieht, die sich auf dieser Straße ereignet haben) und durch Gebiete führt, in denen Aufständische aktiv sind (TD 13.12.2015; vgl. EASO 9.2020). Es wird berichtet, dass 20 Kilometer der Kabul-Bamyan-Autobahn, welche die Region Hazarajat mit der Hauptstadt verbindet, unter der Kontrolle der Taliban stehen (AAN 16.12.2019) und Reisenden zufolge haben die sicherheitsrelevanten Vorfälle auf der Autobahn, die Kabul mit den Provinzen Logar und Paktia verbindet, im Juli 2020 zugenommen (TN 7.7.2020a). In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit Stand Mai 2021 für die Abwicklung von internationalen und nationalen Passagierflügen geöffnet ist (F 24 o.D.). Die Stadt besteht aus drei konzentrischen Kreisen: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Karte Se, Karte Chahar, Karte Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den „jüngsten Einwanderern“ (USIP 4.2017) (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert (AAN 19.3.2019), mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs (USIP 4.2017). Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen. Dies gilt für die Altstadt ebenso wie für weiter entfernte Stadtviertel, und sie wird in den ungeplanten Gebieten immer deutlicher (Noori 11.2010). In den zuletzt besiedelten Gebieten sind die Bewohner vor allem auf Qawmi-Netzwerke angewiesen, um Schutz und Arbeitsplätze zu finden sowie ihre Siedlungsbedingungen gemeinsam zu verbessern. Andererseits ist in den zentralen Bereichen der Stadt die Mobilität der Bewohner höher und Wohnsitzwechsel sind häufiger. Dies hat eine negative Wirkung auf die sozialen Netzwerke, die sich in der oft gehörten Beschwerde manifestiert, dass man „seine Nachbarn nicht mehr kenne“ (AAN 19.3.2019). Nichtsdestotrotz ist in den Stadtvierteln, die von neu eingewanderten Menschen mit gleichem regionalem oder ethnischem Hintergrund dicht besiedelt sind, eine Art „Dorfgesellschaft“ entstanden, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls (USIP 4.2017). Einige Beispiele für die ethnische Verteilung der Kabuler Bevölkerung sind die folgenden: Hazara haben sich hauptsächlich im westlichen Viertel Chandawal in der Innenstadt von Kabul und in Dasht-e-Barchi sowie in Karte Se am Stadtrand niedergelassen; Tadschiken bevölkern Payan Chawk, Bala Chawk und Ali Mordan in der Altstadt und nördliche Teile der Peripherie wie Khairkhana; Paschtunen sind vor allem im östlichen Teil der Innenstadt Kabuls, Bala Hisar und weiter östlich und südlich der Peripherie wie in Karte Naw und Binihisar (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017), aber auch in den westlichen Stadtteilen Kota-e-Sangi und Bazaar-e-Company (auch Company) ansässig (Noori 11.2010); Hindus und Sikhs leben im Herzen der Stadt in der Hindu-Gozar-Straße (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017) (LIB, S. 46 f).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul (USDOD 1.7.2020; vgl. LWJ o.D.). Nach Schätzungen des Long War Journal sind die Distrikte Chahar Asyab, Dehsabz, Farza, Guldara, Kalakan, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi mit Stand Mai 2021 umkämpft (LWJ o.D.). Es finden weiterhin High-Profile-Angriffe - auch in der Hauptstadt - statt (UNAMA 2.2021a; vgl. HRW 13.1.2021, USDOD 1.7.2020, NYTM 26.3.2020, HRW 12.5.2020), wie Angriffe auf schiitische Feiernde und einen Sikhtempel im März 2020 (USDOD 1.7.2020) sowie auf Bildungseinrichtungen wie die Universität in Kabul (GN 2.11.2020; vgl. AJ 2.11.2020) oder ein Selbstmordattentat auf eine Schule in Kabul im Oktober 2020 (HRW 26.10.2020) für die alle der Islamische Staat die Verantwortung übernahm (HRW 26.10.2020; vgl. AJ 2.11.2020, GN 2.11.2020). Den Angriff auf eine Geburtenklinik im Mai 2020 reklamierte bislang keine Gruppierung für sich (AJ 15.6.2020; vgl. AP 16.6.2020, HRW 12.5.2020), wobei die Taliban eine Verantwortung abstritten (AP 16.6.2020, vgl. HRW 12.5.2020) und auch im Mai 2021 bekannte sich niemand zu einem Anschlag mit einer Autobombe vor einer Mädchenschule im mehrheitlich von Hazara bewohntem Gebiet Dasht-e Barchi (AI 10.5.2021; vgl. AJ 9.5.2021, RFE/RL 9.5.2021, NYT 9.5.2021, TN 8.5.2021). Bei Angriffen in Kabul kommt es oft vor, dass keine Gruppierung die Verantwortung übernimmt, oder es werden diese von nicht identifizierten bewaffneten Gruppen durchgeführt (UNAMA 2.2021a; vgl. UNGASC 2.2019, EASO 9.2020). Das U.S. Department of Defence (USDOD) beschreibt die Ziele militanter Gruppen, die in Kabul Selbstmordattentate verüben, als den Versuch internationale Medienaufmerksamkeit zu erregen, den Eindruck einer weitverbreiteten Unsicherheit zu erzeugen und die Legitimität der afghanischen Regierung sowie das Vertrauen der Bevölkerung in die afghanischen Sicherheitskräfte zu untergraben (USDOD 23.1.2020; vgl. EASO 9.2020). Afghanische Regierungsgebäude und -beamte, die afghanischen Sicherheitskräfte und hochrangige internationale Institutionen, sowohl militärische als auch zivile, gelten als die Hauptziele in Kabul-Stadt (USDOS 24.6.2020; vgl LI 22.1.2020, LIFOS 15.10.2019, EASO 9.2020). Aufgrund öffentlichkeitswirksamer Angriffe auf Kabul-Stadt kündigte die afghanische Regierung bereits im August 2017 die Entwicklung eines neuen Sicherheitsplans für Kabul an (AAN 25.9.2017). So wurde unter anderem das Green Village errichtet, ein stark gesichertes Gelände im Osten der Stadt, in dem unter anderem, Hilfsorganisationen und internationale Organisationen (RFE/RL 2.9.2019; vgl. FAZ 2.9.2019) sowie ein Wohngelände für Ausländer untergebracht sind (FAZ 2.9.2019). Die Anlage wird von afghanischen Sicherheitskräften und privaten Sicherheitsmännern schwer bewacht (AJ 3.9.2019). Die Green Zone hingegen ist ein separater Teil der nicht unweit der Green Village liegt. Die Green Zone ist ein stark gesicherter Teil Kabuls, in dem sich mehrere Botschaften befinden - so z.B. auch die US-amerikanische Botschaft und britische Einrichtungen (RFE/RL 2.9.2019; vgl. GN 15.7.2020) und der von hohen Mauern umgeben ist (GN 15.7.2020). Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Straßenkriminalität in Kabul ein Problem (AVA 1.2020; vgl. ArN 11.1.2020, AAN 11.2.2020, AAN 21.2.2020, TN 4.10.2020, TN 17.10.2020, TN 21.10.2020, EASO 9.2020). Im Jahr 2020 wurden in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif Tausende von Fällen von Straßenraub und Hausüberfällen gemeldet (ArN 11.1.2020; vgl. TN 24.7.2020). Nach einem Anstieg der Kriminalität und der Sicherheitsvorfälle in Kabul kündigte der Vizepräsident Amrullah Saleh im Oktober 2020 an, dass er auf Anordnung von Präsident Ashraf Ghani für einige Wochen die Verantwortung für die Sicherheit in Kabul übernehmen und hart gegen Kriminalität in Kabul vorgehen werde (TN 17.10.2020; vgl. AN 17.10.2020, TN 21.10.2020). Die Regierung kündigte einen Sicherheitsplan mit der Bezeichnung „Security Charter“ an, um das Sicherheitspersonal in die Gewährleistung der Sicherheit Kabuls und anderer Großstädte des Landes zu integrieren. Als Teil dieses Plans wies Präsident Ghani die Sicherheitsbehörden an, gegen schwere Verbrechen in der Stadt vorzugehen (TN 21.10.2020; vgl. TN 17.10.2020, AN 17.10.2020). Auf Regierungsseite befindet sich die Provinz Kabul mit Ausnahme des Distrikts Surubi im Verantwortungsbereich der 111. ANA Capital Division, die unter der Leitung von türkischen Truppen und mit Kontingenten anderer Nationen der NATO-Mission Train Advise Assist Command - Capital (TAAC-C) untersteht. Der Distrikt Surubi fällt in die Zuständigkeit des 201. ANA Corps (USDOD 1.7.2020). Darüber hinaus wurde eine spezielle Krisenreaktionseinheit (Crisis Response Unit) innerhalb der afghanischen Polizei geschaffen, um Angriffe zu verhindern und auf Anschläge zu reagieren (LI 5.9.2018). Im Distrikt Surubi wird von der Präsenz von Taliban-Kämpfern berichtet (TN 27.9.2020; vgl. GW 14.7.2020, EASO 9.2020, UNOCHA 3.2.2020). Aufgrund seiner Nähe zur Stadt Kabul und zum Salang-Pass hat der Distrikt große strategische Bedeutung (WOR 10.9.2018; vgl. TN 27.9.2020). Er gilt als unter Regierungskontrolle, wenn auch unsicher. Die Taliban fokussieren ihre Angriffe auf die Straße zwischen Surubi und Jagdalak und konnten diesen Straßenabschnitt auch kurzzeitig unter ihre Kontrolle bringen (TN 27.9.2020). Im Juli 2020 wurde über eine steigende Talibanpräsenz im Distrikt Paghman berichtet (TN 15.7.2020). Es wird berichtet, dass der Islamische Staat (ISKP) in der Provinz aktiv und in der Lage ist, Angriffe durchzuführen (UNGASC 27.5.2020; vgl. EASO 9.2020). Aufgrund des anhaltenden Drucks der ANDSF (Afghan National Security Forces), die Aktivitäten des Islamischen Staats zu stören (LI 22.1.2020; vgl. UNGASC 4.2.2020, EASO 9.2020), zeigte sich die militante Gruppe jedoch nur eingeschränkt in der Lage, 2019 in Kabul öffentlichkeitswirksame Anschläge zu verüben (UNAMA 2.2020; vgl. LI 22.1.2020, WP 9.2.2020, EASO 9.2020). UNAMA schrieb 673 zivile Opfer (213 Tote und 460 Verletzte) im Jahr 2020 in Afghanistan dem ISKP zu, ein Rückgang von 45% im Vergleich zu 2019. Die überwiegende Mehrheit der zivilen Opfer von ISIL KP wurde jedoch durch Selbstmordattentate und heftige Schusswechsel in Kabul und Jalalabad verursacht (UNAMA 2.2021a) (LIB, S. 47 ff).
Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 817 zivile Opfer (255 Tote und 562 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 48% gegenüber 2019. Die Hauptursache für die Opfer waren gezielte Tötungen, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und Selbstmordanschlägen (UNAMA 2.2021a). Seit Herbst 2018 haben die ANDSF-Kräfte eine konzertierte Anstrengung zur Auflösung militanter Gruppen begonnen, die im und um den Großraum Kabul herum aktiv sind (NYTM 16.1.2019; vgl. UNGASC 27.5.2020; USDOD 1.7.2020). Die ANDSF setzen gemeinsam mit einem neuen Kommando der Gemeinsamen Streitkräfte, das im Juni 2020 eingerichtet wurde (KP 4.6.2020) ihre Aktivitäten im Jahr 2020 fort. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen Operationen gegen aufständische Gruppierungen (TN 6.5.2020; KP 6.5.2020; RFE/RL 11.5.2020; TN 11.5.2020) und kriminelle Banden (KP 18.5.2020) sowie Luftschläge (EASO 9.2020) durch und konnten hochrangige Mitglieder der Taliban und des IS festnehmen (TN 11.5.2020; KP 12.2.2020; BBC 11.5.2020; TN 11.5.2020; PAJ 26.6.2020) sowie zwei IS-Mitglieder verhaften, die angeblich Angriffe auf ein Krankenhaus und ein Medienunternehmen planten (TN 7.7.2020b). Während des zweiten Quartals 2020 hat die Gewalt Berichten zufolge wieder zugenommen (NYTM 25.6.2020; vgl. UNGASC 17.6.2020, RY 30.6.2020, EASO 9.2020). Im letzten Quartal 2020 stieg die Gewalt weiter an und war weit höher als im Vergleichszeitraum des Vorjahres (SIGAR 30.1.2021). In Kabul wurden in den ersten Wochen des Jahres 2021 mehrere Anschläge mit kleinen „sticky bombs“ verübt, die unter Fahrzeugen angebracht und ferngesteuert oder mit Zeitzündern gezündet wurden. Die Gruppe „Islamischer Staat“ (ISKP) hat die Verantwortung für einige der Anschläge übernommen, während die afghanische Regierung einige den Taliban zuschreibt (RFE/RL 23.2.2021). Im Mai 2021 explodierte eine Autobombe vor einer Mädchenschule in Dasht-e Barchi in Kabul, einem mehrheitlich von schiitischen Hazara bewohntem Gebiet, und tötete bis zu 85 Menschen, darunter auch Schülerinnen, und verletzte mindestens 150 (AI 10.5.2021; vgl. AJ 9.5.2021, RFE/RL 9.5.2021, BBC 9.5.2021, NYT 9.5.2021, TN 8.5.2021) (LIB, S. 49 f).
Selbstmordanschläge (BAMF 11.1.2021; NYTM 29.10.2020a; NYTM 29.10.2020c; HRW 26.10.2020; RFE/RL 29.4.2020; REU 29.4.2020) und Detonationen von IEDs finden statt (AJ 1.6.2021; BAMF 15.3.2021; RFE/RL 4.4.2021; RFE/RL 20.2.2021; BBC 22.12.2020; WP 26.2.2020; AJ 22.8.2020; NYTM 29.10.2020c; TN 4.10.2020; KP 4.6.2020) und es wurde von gezielten Tötungen (BAMF 3.5.2021; AnA 24.4.2021; BAMF 22.3.2021; RFE/RL 23.2.2021; BAMF 11.1.2021; BBC 22.12.2020; BBC 15.12.2020; NYTM 26.3.2020; AT 22.8.2020; TN 21.10.2020; NYTM 5.11.2020) und Angriffen auf militärische Einrichtungen bzw. Sicherheitskräfte sowohl in Kabul-Stadt wie auch in den Distrikten der Provinz berichtet (RFE/RL 4.4.2021; RFE/RL 23.2.2021; BAMF 18.1.2021; BAMF 11.1.2021; NYTM 29.10.2020b; GN 11.2.2020; TN 22.6.2020; TN 8.7.2020; TN 6.7.2020; UNAMA 6.2020; TN 6.6.2020). Es gibt Berichte über Straßenblockaden und Angriffe auf Highways durch bewaffnete Gruppierungen (UNOCHA 29.1.2020; NYTM 27.2.2020) (LIB, S. 50).
In der Provinz Kabul und Kabul-Stadt kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen und somit einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt zu sein (EASO 2020, Kapitel 3.3.).
Der Flughafen von Kabul mit nationaler und internationaler Fluganbindung ist Teil des Stadtgebiets von Kabul-Stadt und liegt 16 km vom Stadtzentrum entfernt. Im November 2019 wurde ein Sicherheitsvorfall in der Nähe des Flughafens gemeldet, bei dem es zu zivilen Opfern kam. Kabul-Stadt ist im Allgemeinen ohne ernsthaftes Risiko zu erreichen (EASO 2020, Kapitel 5).
Provinz (Maidan) Wardak
Die Provinz Wardak, auch bekannt als Maidan Wardak, grenzt im Norden an Parwan und Bamyan, im Osten an Kabul und Logar und im Süden und Westen an Ghazni (UNOCHA Wardak 4.2014, NPS Wardak o.D., OPr Wardak 1.2.2017). Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Chak-e-Wardak, Daimir Dad, Hissa-e-Awali Behsud, Jaghatu, Jalrez, Markaz-e-Behsud, Maidan Shahr, Nerkh, Sayyid Abad (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Wardak 2019, UNOCHA Wardak 4.2014, NPS Wardak o.D., OPr Wardak 1.2.2017). Die Provinzhauptstadt Maidan Shahr befindet sich etwa 40-50 Kilometer südwestlich von Kabul (OPr Wardak 1.2.2017; vgl. ARTE 3.4.2020). Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Wardak im Zeitraum 2020/21 auf 637.634 Personen (NSIA 1.6.2020). Sie besteht aus Tadschiken, Paschtunen und Hazara (OPr Wardak 1.2.2017; vgl. NPS Wardak o.D.). Wardak ist aufgrund seiner strategischen Position, der Nähe zu Kabul und der Lage an wichtigen Fernstraßen eine bedeutsame Provinz (ARN 23.6.2019). Der Highway Kabul-Kandahar durchquert die Distrikte Maidan Shahr, Narkh und Saydabad (UNOCHA Wardak 4.2014). Die Taliban richten gelegentlich Kontrollpunkte an Abschnitt dieser Fernstraße in der Provinz Wardak ein (AVA 1.10.2019; vgl. UNSG 7.12.2018; vgl. PAJ 27.10.2018; AP 7.10.2018). Eine weitere wichtige Straße führt von Maidan Shahr durch die Distrikte Jalrez, Hissa-e-Awali Behsud, Markaz-e Behsud zum Haji-gak-Pass und weiter nach Bamyan (UNOCHA Wardak 4.2014; vgl. AAN 16.12.2019). Der Abschnitt im Distrikt Jalrez befindet sich unter Kontrolle der Taliban (AAN 16.12.2019; vgl. KNow 25.8.2019). Die Taliban betreiben entlang dieser Straße Kontrollpunkte und heben Steuern ein (AAN 16.12.2019; vgl. KNow 25.8.2019, PAJ 5.11.2018) und es sind Fälle dokumentiert, dass Durchreisende entführt oder getötet wurden (KNow 25.8.2019; vgl. DA 11.6.2019, RY 2.6.2019); vorwiegend Hazara (KNow 25.8.2019) (LIB, S. 213 f).
Wardak ist eine der am heftigsten umkämpften Provinzen Afghanistans und wird zum größten Teil von den Taliban kontrolliert (WP 10.8.2020; vgl. PBS 31.12.2019). Das Machtgleichgewicht in der Provinz Wardak blieb über Jahre hinweg relativ stabil (WP 10.8.2020). Die Sicherheitslage hat sich im Lauf des Jahres 2019 verschlechtert (KP 19.7.2019; vgl. KP 2.7.2019; DA 11.6.2019) und seit der Unterzeichnung eines Friedensabkommens zwischen den USA und den Taliban im Februar 2020 hat der Einfluss der Taliban in Wardak zugenommen (WP 10.8.2020). Nach Schätzungen des Long War Journal befinden sich die Distrikte Daimir Dad, Nerkh, Jalrez und Sayyid Abad mit Stand Mai 2021 unter Talibankontrolle, während Chak-e-Wardak, Hissa-e-Awali Behsud, Jaghatu und Maidan Shahr umkämpft sind (LWJ o.D.). Migrationen von Kuchi-Nomaden führen regelmäßig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen aufgrund von Landstreitigkeiten in den überwiegend von Hazara bewohnten Distrikten Hesa-i Awal-e Behsud, Markaz-e Behsud und Daymirdad in Wardak (ACCORD 6.8.2019; vgl. Giustozzi 10.2019, TN 8.7.2020, EASO 9.2020). Als sich die Spannungen zwischen den Kuchi-Nomaden und den lokalen Hazara-Bewohnern im Jahr 2015 verschärften, wurde von dem Hazara-Kommandanten Abdul Ghani Alipur eine Volksaufstandstruppe, die sogenannte Widerstandsfront [Anm.: Behsud Resistance Front (Jabha-ye Moqawamat)], gegründet. Im November 2018 wurde Alipur vom afghanischen Geheimdienst unter dem Vorwurf von Menschenrechtsverletzungen und Korruption verhaftet. Seiner Milizgruppe wurde vorgeworfen, Sicherheitskräfte angegriffen zu haben (TN 27.11.2018a, vgl. EASO 9.2020) sowie paschtunische Fahrgäste auf der Schnellstraße zwischen Maydan Shar und Jalrez erpresst, belästigt und entführt zu haben, angeblich als Vergeltung für Angriffe auf Hazara (TN 27.11.2018b; vgl. AAN 16.12.2019, EASO 9.2020). Seine Unterstützer behaupteten, Alipur hätte gegen die Taliban gekämpft (TN 26.11.2018). Nachdem in mehreren Teilen des Landes gewaltsame Hazara-Proteste ausgebrochen waren, wurde Alipur aus der NDS-Haft entlassen (RFE/RL 26.11.2018; vgl. EASO 9.2020). Im Juni 2020 wurden Berichten zufolge Dutzende von Straßenbauarbeitern von bewaffneten Männern der Hazara-Miliz von Alipur entführt und misshandelt (PAJ 23.6.2020; vgl. EASO 9.2020), und es wurde über die Tötung von mehr als einem Dutzend Menschen aufgrund von bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Anwohnern und Kuchi-Nomaden berichtet (TN 25.6.2020; vgl. EASO 9.2020). Polizisten, die an den Außenposten an der Grenze zwischen Regierungskontrolle und Taliban-Einfluss stationiert sind, berichtet über häufige Angriffe der Aufständischen. In Distrikten, die außerhalb der Regierungskontrolle liegen, berichten Zivilisten von einem verstärkten Einsatz von Artillerie durch Regierungseinheiten (WP 10.8.2020). Auch im volatilen Distrikt Sayyid Abad gab es in den letzten Jahren fast täglich Kämpfe zwischen Regierungskräften und Taliban. Dort wurden, laut Angaben der Bewohner, durch Sicherheitskräfte im November 2019 rund 80 Wohnhäuser zerstört, da in der Vergangenheit gemäß Angaben der Behörden die Taliban immer wieder Wohnhäuser als Unterkünfte und Befestigungen nutzten (AN 3.11.2019). Aus Sicherheitsgründen lebt die Bürgermeisterin von Maidan Shahr, Zarifa Ghafari, in Kabul und pendelt täglich 50 km zu ihrem Amtssitz (ARTE 3.4.2020). Auf Regierungsseite befindet sich die Provinz Wardak im Verantwortungsbereich des 203. ANA Corps (USDOD 1.7.2020; vgl. KP 4.7.2019), das der Task Force Southeast unter der Leitung von US-Truppen untersteht (USDOD 1.7.2020). Einheiten des Nationalen Sicherheitsdirektorates (NDS), der vom US-Geheimdienst CIA unterstützt wird, führen in der Provinz Wardak nächtliche Operationen durch, wobei es Berichten zufolge zu willkürlichen Angriffen gegen Zivilisten, Hinrichtungen und anderen Menschenrechtsverletzungen kommt. Die Täter werden nicht zur Rechenschaft gezogen (FP 6.2.2020, HRW 30.10.2019, BAMF 15.7.2019) (LIB, S. 214 f).
Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 145 zivile Opfer (55 Tote und 90 Verletzte) in der Provinz Wardak. Dies entspricht einem Rückgang von 21% gegenüber 2019. Die Hauptursachen für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (UNAMA 2.2021a) (LIB, S. 215).
Bei einem Angriff der Taliban auf eine Basis des NDS in der Nähe der Provinzhauptstadt Maidan Shahr wurden im Jänner 2019 über 100 Sicherheitskräfte getötet (NYT 21.1.2019; vgl. Guardian 21.1.2019, ORF 21.1.2019). Am 18.3.2021 starben bei dem Absturz eines Helikopters der afghanischen Armee im Distrikt Behsud neun Menschen. Hazara-Kommandeur Abdul Ghani Alipur der genannten Behsud Resistance Front (Jabha-ye Moqawamat) wurde vom Verteidigungsministerium vorgeworfen, für den Abschuss verantwortlich zu sein (BAMF 29.3.2021; vgl. AnA 20.3.2021). Am 30.1.2021 war es in Behsud nach einem Protestmarsch gegen die Einsetzung neuer Polizeikommandeure zu Auseinandersetzungen zwischen staatlichen Sicherheitskräften und bewaffneten Männern der Behsud Resistance Front gekommen. Dabei hätten staatliche Sicherheitskräfte das Feuer eröffnet, wobei mindestens neun Menschen gestorben und weitere verletzt worden seien (BAMF 29.3.2021; vgl. TN 30.1.2021, AVA 30.1.2021). Im Mai 2021 übernahmen die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Nerkh, einen strategischen Distrikt etwa 40 Kilometer von Kabul entfernt. Spezialkräfte wurden in dem Gebiet eingesetzt, um den Distrikt Nerkh zurückzuerobern, nachdem Truppen einen „taktischen Rückzug“ angetreten hatten (RFE/RL 12.5.2021; vgl. TN 12.5.2021, AJ 12.5.2021). Ein Taliban-Sprecher sagte, die Gruppe habe das Gebiet erobert, und die Aufständischen hätten das Polizeipräsidium und einen Armeestützpunkt eingenommen (RFE/RL 12.5.2021; vgl. TN 12.5.2021). Mehrere wichtige Fernstraßen in die zentralen und südlichen Provinzen des Landes führen durch den Distrikt Nerkh (RFE/RL 12.5.2021). In der Provinz kommt es regelmäßig zu Sicherheitsoperationen (KP 26.4.2021; TN 18.2.2020; PAJ 24.10.2019) und Luftschlägen (TN 25.4.2021; PAJ 18.2.2020; PAJ 24.10.2019; NG 17.10.2019; AT 8.12.2019). Die Taliban greifen regelmäßig Kontrollpunkte, Einrichtungen oder Konvois der Sicherheitskräfte an und es kommt zu Gefechten mit den Regierungstruppen, was zu Verlusten unter den Sicherheitskräften und den Aufständischen führt (ATV 23.9.2020; WP 10.8.2020; AN 3.11.2019; GW 21.7.2020; AN 6.9.2020; IAR 21.9.2020; FRP 29.7.2019; TN 18.2.2020; PAJ 24.10.2019; NG 17.10.2019) aber auch zivile Opfer nach sich zieht (BAMF 26.4.2021; KP 26.4.2020; TN 25.4.2021) (LIB, S. 216).
Provinz Balkh und Mazar-e Sharif
Balkh liegt im Norden Afghanistans (UNOCHA Balkh 13.4.2014; vgl. GADM 2018). Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dawlat Abad, Dehdadi, Kaldar, Kishindeh, Khulm, Marmul, Mazar-e Sharif, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa und Zari (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Balkh 2019). Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Balkh im Zeitraum 2020-21 auf 1,509.183 Personen, davon geschätzte 484.492 Einwohner in Mazar-e Sharif (NSIA 1.6.2020). Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern, sunnitischen Hazara (Kawshi) (PAJ Balkh o.D.; vgl. NPS Balkh o.D.) sowie Mitgliedern der kleinen ethnischen Gruppe der Magat bewohnt wird (AAN 8.7.2020) (LIB, S. 71).
Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum (SH 16.1.2017). Die Ring Road (auch Highway 1 genannt) verbindet Balkh mit den Nachbarprovinzen Jawzjan im Westen und Kunduz im Osten sowie in weiterer Folge mit Kabul (TD 5.12.2017). Rund 30 km östlich von Mazar-e Sharif zweigt der National Highway (NH) 89 von der Ring Road Richtung Norden zum Grenzort Hairatan/Termiz ab (OSM o.D.; vgl. TD 5.12.2017). Dies ist die Haupttransitroute für Warenverkehr zwischen Afghanistan und Usbekistan (LCA 4.7.2018). Entlang des Highway 1 westlich der Stadt Balkh in Richtung der Provinz Jawzjan befindet sich der volatilste Straßenabschnitt in der Provinz Balkh, es kommt dort beinahe täglich zu sicherheitsrelevanten Vorfällen. Auch besteht auf diesem Abschnitt in der Nähe der Posten der Regierungstruppen ein erhöhtes Risiko von IEDs - nicht nur entlang des Highway 1, sondern auch auf den Regionalstraßen (STDOK 21.7.2020). In Gegenden mit Talibanpräsenz, wie zum Beispiel in den südlichen Distrikten Zari (AAN 23.5.2020), Kishindeh und Sholgara, ist das Risiko, auf Straßenkontrollen der Taliban zu stoßen, höher (STDOK 21.7.2020; vgl. TN 20.12.2019) (LIB, S. 71).
In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen (Kam Air o.D.; vgl. F 24 o.D.) (LIB, S. 71).
Balkh zählte zu den relativ friedlichen Provinzen im Norden Afghanistans, jedoch hat sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren in einigen ihrer abgelegenen Distrikte verschlechtert (KP 10.2.2020; vgl. STDOK 21.7.2020), da militante Taliban versuchen, in dieser wichtigen nördlichen Provinz Fuß zu fassen (KP 10.2.2020; vgl. AA 16.7.2020). Ziel der Anschläge sind oftmals Sicherheitskräfte, jedoch kommt es auch zu zivilen Opfern. Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Kriminalität in Mazar-e Sharif ein Problem. Bewohner der Stadt berichteten insbesondere von bewaffneten Raubüberfällen (STDOK 21.7.2020). Im Jahr 2020 gehörte Balkh zu den konfliktreichsten Provinzen des Landes (UNGASC 9.12.2020; vgl. UNGASC 17.6.2020, UNGASC 17.3.2020, LWJ 10.3.2020) und in der Hauptstadt und den Distrikten kommt auch im Jahr 2021 weiterhin zu sicherheitsrelevanten Vorfällen (ACCORD 27.1.2021; vgl. KP 3.3.2021). Nach Schätzungen des Long War Journal befindet sich der Distrikt Dawlat Abad mit Stand Mai 2021 unter Talibankontrolle, während Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dehdadi, Kishindeh, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa und Zari umkämpft sind (LWJ o.D.). Auf Regierungsseite befindet sich Balkh im Verantwortungsbereich des 209. Afghan National Army (ANA) „Shaheen“ Corps (USDOD 1.7.2020; vgl. TN 22.4.2018), das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - North (TAAC-N) untersteht, welche von deutschen Streitkräften geleitet wird (USDOD 1.7.2020). Das Hauptquartier des 209. Afghan National Army (ANA) „Shaheen“ Corps befindet sich im Distrikt Dehdadi (TN 22.4.2018). Die meisten Soldaten der deutschen Bundeswehr sind in Camp Marmal stationiert (SP 7.4.2019). Weiters unterhalten die US-amerikanischen Streitkräfte eine regionale Drehscheibe in der Provinz (USDOD 1.7.2020) (LIB, S. 71 f).
Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 712 zivile Opfer (263 Tote und 449 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 157% gegenüber 2019. Die Hauptursache für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von Luftangriffen und improvisierten Sprengkörpern (IEDs; ohne Selbstmordattentate) (UNAMA 2.2021a). Ungeachtet der Friedensgespräche finden auch weiterhin sicherheitsrelevante Vorfälle in der Hauptstadt und den Distrikten statt (KP 3.3.2021, ACCORD 27.1.2021). Es kommt zu direkten Kämpfen (KP 3.3.2021; UNOCHA 23.9.2020; AJ 1.5.2020; DH 8.4.2020) und Angriffen der Taliban auf Distriktzentren (UNOCHA 23.7.2020; REU 1.5.2020; UNOCHA 26.2.2020) oder Sicherheitsposten (RFE/RL 14.4.2021; ANI 6.3.2021; NYTM 1.10.2020; NYTM 28.8.2020; AnA 18.3.2020). Die Regierungskräfte führen Räumungsoperationen durch (RFE/RL 14.4.2021; KP 3.3.2021; AN 25.6.2020; MENAFN 24.3.2020; AnA 18.3.2020). Ebenso wird von IED-Explosionen, beispielsweise durch Sprengfallen am Straßenrand (NYTM 28.8.2020), aber auch an Fahrzeugen befestigten Sprengkörpern (vehicle-borne IEDs, VBIEDs) (TN 25.8.2020; RFE/RL 25.8.2020; NYTM 28.8.2020) sowie Selbstmordanschlägen berichtet (TN 25.8.2020; RFE/RL 25.8.2020; RFE/RL 19.9.2020). Auch in Mazar-e Sharif kommt es wiederholt zu IED-Anschlägen (ACCORD 6.5.2021a; BAMF 12.4.2021; ACCORD 27.1.2021; NYTM 1.10.2020; AN 19.9.2020; TN 1.7.2020) sowie Angriffen auf bzw. die Tötung von Sicherheitskräften (ACCORD 6.5.2021a; KP 3.3.2021; ANI 6.3.2021; ACCORD 27.1.2021; BAMF 18.1.2021; PAJ 12.1.2021; AT 12.1.2021). Zudem wird von der Entführung (ACCORD 6.5.2021a; TN 13.3.2021; DH 8.4.2020) und Ermordung von Zivilisten in der Provinz berichtet (ACCORD 6.5.2021a; KP 3.3.2021; ACCORD 27.1.2021; NYTM 1.10.2020; DH 8.4.2020) (LIB, S. 74).
Das Konfliktmuster im Distrikt Mazar-e Sharif, zu dem auch die Provinzhauptstadt gehört, unterscheidet sich vom allgemeinen Muster in der Provinz Balkh und in den verschiedenen Distrikten. Mazar-e Sharif war einer der Bezirke in der Provinz Balkh, in denen eine geringere Anzahl von Vorfällen gemeldet wurde. Zwischen dem 1. März 2019 und dem 30. Juni 2020 wurden 19 gewalttätige Vorfälle im Bezirk Mazar-e Sharif (durchschnittlich 0,3 Vorfälle pro Woche) registriert, was etwa 2 % aller in der Provinz Balkh in diesem Zeitraum erfassten gewalttätigen Vorfälle entspricht. Es wurden keine Luftangriffe in Mazar-e Sharif und keine konfliktbedingte Vertreibung gemeldet. Mazar-e Sharif beherbergte etwa ein Drittel aller Binnenvertriebenen, die innerhalb der und in die Provinz Balkh vertrieben wurden (EASO 2020, Kapitel 3.3.). Mazar-e Sharif steht unter der Kontrolle der Regierung (EASO 2020, Kapitel 5).
Obwohl die willkürliche Gewalt in der Provinz Balkh – mit Ausnahme der Stadt Mazar-e Sharif – in den meisten Distrikten ein hohes Niveau erreicht, reicht die bloße Anwesenheit in der Provinz Balkh nicht für die Annahme aus, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen und somit einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt zu sein. Aufgrund des hohen Niveaus der willkürlichen Gewalt in den meisten Distrikten der Provinz ist aber ein geringeres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme zu liefern, dass eine in das Gebiet zurückkehrende Person einem realen Risiko eines ernsthaften Schadens im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie ausgesetzt ist (EASO 2020, Kapitel 3.3.).
In der Hauptstadt Mazar-e Sharif sowie im Distrikt Marmul findet willkürliche Gewalt auf einem so niedrigen Niveau statt, dass im Allgemeinen kein reales Risiko besteht, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden, da sie den Antragsteller in risikoreichere Situationen bringen könnten (EASO 2020, Kapitel 3.3.).
Der Flughafen von Mazar-e Sharif mit nationaler und internationaler Fluganbindung liegt 8 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Stadt Mazar-e Sharif ist im Allgemeinen ohne ernsthaftes Risiko zu erreichen (EASO 2020, Kapitel 5).
Provinz Herat und Herat-Stadt
Die Provinz Herat liegt im Westen Afghanistans (UNOCHA Herat 4.2014). Herat ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Adraskan, Chishti Sharif, Enjil, Fersi, Ghoryan, Gulran, Guzera (Nizam-i-Shahid), Herat, Karrukh, Kohsan, Kushk (Rubat-i-Sangi), Kushk-i-Kuhna, Obe, Pashtun Zarghun, Zendahjan und die „temporären“ Distrikte Poshtko, Koh-e-Zore (Koh-e Zawar, Kozeor), Zawol und Zerko (NSIA 1.6.2020; IEC Herat 2019), die aus dem Distrikt Shindand herausgelöst wurden (AAN 3.7.2015; vgl. PAJ 1.3.2015). Ihre Schaffung wurde vom Präsidenten nach Inkrafttreten der Verfassung von 2004 aus Sicherheits- oder anderen Gründen genehmigt, während das Parlament seine Zustimmung (noch) nicht erteilt hat (AAN 16.8.2018). Die Provinzhauptstadt von Herat ist Herat-Stadt (NSIA 1.6.2020). Herat ist eine der größten Provinzen Afghanistans (PAJ Herat o.D.). Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in der Provinz Herat im Zeitraum 2020-21 auf 2,140.662 Personen, davon 574.276 in der Provinzhauptstadt (NSIA 1.6.2020). Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen (PAJ Herat o.D.). Herat-Stadt war historisch gesehen eine tadschikisch dominierte Enklave in einer paschtunischen Mehrheits-Provinz, die beträchtliche Hazara- und Aimaq-Minderheiten umfasst (USIP 2015). Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert. Der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 besonders gestiegen, da viele aus dem Iran rückgeführt oder aus den Provinzen Zentralafghanistans vertrieben wurden (AAN 3.2.2019). Der Grad an ethnischer Segregation ist in Herat heute ausgeprägt (USIP 2015; vgl. STDOK 13.6.2019) (LIB, S. 113 f).
Die Provinz ist durch die Ring Road mit anderen Großstädten verbunden (TD 5.12.2017, LCA 4.7.2018). Eine Hauptstraße führt von Herat ostwärts nach Ghor und Bamyan und weiter nach Kabul. Andere Straßen verbinden die Provinzhauptstadt mit dem afghanisch-turkmenischen Grenzübergang bei Torghundi sowie mit der afghanisch-iranischen Grenzüberquerung bei Islam Qala (LCA 4.7.2018), wo sich einer der größten Trockenhäfen Afghanistans befindet (KN 7.7.2020). Die Schaffung einer weiteren Zollgrenze zum Iran ist im Distrikt Ghoryan geplant (TN 11.9.2020). Eine Eisenbahnverbindung zwischen der Stadt Herat und dem Iran, die die Grenze an diesem Punkt überqueren wird, ist derzeit im Bau (1TV 28.10.2020, TN 11.9.2020). Auf der Strecke Herat-Islam-Qala wurde über Tötungen und Entführungen berichtet (UNAMA 7.2020, KN 7.7.2020; vgl. PAJ 6.2.2020) sowie über Sprengfallen am Straßenrand (KN 7.7.2020; vgl. PAJ 6.2.2020), auch auf der Ring Road in Richtung Kandahar (TN 10.10.2020). Darüber hinaus gibt es Berichte über illegale Zolleinhebungen durch Aufständische sowie Polizeibeamte entlang der Strecke Herat-Kandahar (HOA 12.1.2020, PAJ 4.1.2020; vgl. NYT 1.11.2020). Ein Flughafen mit Linienflugbetrieb zu internationalen und nationalen Destinationen liegt in der unmittelbaren Nachbarschaft von Herat-Stadt (STDOK 25.11.2020; vgl. Kam Air o.D., F 24 o.D.) (LIB, S. 114).
Die Sicherheitslage auf Stadt- und Distriktebene unterscheidet sich voneinander. Während einige Distrikte, wie z.B. Shindand, als unsicher gelten, weil die Kontrolle zwischen der Regierung und den Taliban umkämpft ist, kam es in Herat-Stadt in den letzten Jahren vor allem zu kriminellen Handlungen und kleineren sicherheitsrelevanten Vorfällen, jedoch nicht zu groß angelegten Angriffen oder offenen Kämpfen, die das tägliche Leben vorübergehend zum Erliegen gebracht hätten. Die sicherheitsrelevanten Vorfälle, die in letzter Zeit in der Stadt Herat gemeldet wurden, fielen meist in zwei Kategorien: gezielte Tötungen und Angriffe auf Polizeikräfte (AAN 21.4.2020; vgl. OA 20.7.2020). Darüber hinaus fanden im Juli und September 2020 (UNAMA 10.2020) sowie Oktober 2019 Angriffe statt, die sich gegen Schiiten richteten (AAN 21.4.2020). Bezüglich krimineller Handlungen wurde beispielsweise über bewaffnete Raubüberfälle und Entführungen berichtet (OA 20.7.2020, AAN 21.4.2020, AN 2.1.2020). Je weiter man sich von der Stadt Herat (die im Januar 2019 als „sehr sicher“ galt) und ihren Nachbardistrikten in Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer ist der Einfluss der Taliban (STDOK 13.6.2019). Pushtkoh und Zerko befanden sich im Februar 2020 einem Bericht zufolge vollständig in der Hand der Taliban (AAN 28.2.2020), während die Kontrolle der Regierung in Obe auf das Distriktzentrum beschränkt ist (AAN 8.4.2020, AAN 20.12.2019). In Shindand befindet sich angeblich das „Taliban-Hauptquartier“ von Herat (AAN 20.12.2019). Nach Schätzungen des Long War Journal befindet sich der Distrikt Fersi mit Stand Mai 2021 unter Talibankontrolle, während Adraskan, Chishti Sharif, Ghoryan, Gulran, Kushk (Rubat-i-Sangi), Kushk-i-Kuhna, Obe, Pashtun Zarghun und Shindand umkämpft sind (LWJ o.D.). Innerhalb der Taliban kam es nach der Bekanntmachung des Todes von Taliban-Führer Mullah Omar im Jahr 2015 zu Friktionen (SaS 2.11.2018; vgl. RUSI 16.3.2016). Mullah Rasoul, der eine versöhnlichere Haltung gegenüber der Regierung in Kabul einnahm, spaltete sich zusammen mit rund 1.000 Kämpfern von der Taliban-Hauptgruppe ab (SaS 2.11.2018). Die Rasoul-Gruppe, die mit der stillschweigenden Unterstützung der afghanischen Regierung operiert hat, kämpft mit Stand Jänner 2020 weiterhin gegen die Hauptfraktion der Taliban in Herat, auch wenn die Zusammenstöße zwischen den beiden Gruppen laut einer Quelle innerhalb der Rasoul-Fraktion nicht mehr so häufig und heftig sind wie in den vergangenen Jahren. Etwa 15 Kämpfer der Gruppe sind Anfang 2020 bei einem Drohnenangriff der USA gemeinsam mit ihrem regionalen Führer getötet worden (SaS 9.1.2020; vgl. UNSC 27.5.2020). Während ein UN-Bericht einen Angriff in der Nähe einer schiitischen Moschee im Oktober 2019 dem Islamischen Staat Provinz Khorasan (ISKP) zuschrieb (UNGASC 10.12.2019) und ein Zeitungsartikel vom März 2020 behauptete, dass der ISKP eine Hochburg in der Provinz unterhält (VOA 20.3.2020), gab eine andere Quelle an, dass es unklar sei, ob und welche Art von Präsenz der ISKP in Herat hat. Angriffe gegen schiitische Muslime sind Teil des Modus operandi des ISKP, aber - insbesondere angesichts der Schwäche der Gruppe in Afghanistan - stellt ein Bekenntnis des ISKP zu einem bestimmten Angriff noch keinen vollständigen Beweis dafür dar, dass die Gruppe ihn wirklich begangen hat (AAN 21.4.2020). Ein Bewohner des Distrikts Obe hielt eine ISKP-Präsenz in Herat angesichts der Präsenz der Taliban z.B. im Distrikt Shindand für unwahrscheinlich (AAN 20.12.2019). Auf Regierungsseite befindet sich Herat im Verantwortungsbereich des 207. Afghan National Army (ANA) „Zafar“ Corps (USDOD 1.7.2020; vgl. ST 2.10.2020), das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - West (TAAC-W) untersteht, welche von italienischen Streitkräften geleitet wird (USDOD 1.7.2020) (LIB, S. 114 f).
Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 339 zivile Opfer (124 Tote und 215 Verletzte) in der Provinz Herat. Dies entspricht einem Rückgang von 15% gegenüber 2019. Die Hauptursache für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von gezielten Tötungen und improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge) (UNAMA 2.2021a). Im Jahr 2020 wurden auch mehrere Fälle von zivilen Opfern aufgrund von Luftangriffen gemeldet (UNAMA 10.2020, AAN 24.2.2020, RFE/RL 22.1.2020). Es kommt in mehreren Distrikten der Provinz Herat zu Kämpfen zwischen den Regierungstruppen und den Taliban sowie zu Angriffen der Taliban auf Regierungseinrichtungen (KP 20.11.2020; NYTM 29.10.2020; PAJ 15.10.2020; NYTM 1.10.2020; KP 5.9.2020; NYTM 28.8.2020; NYTM 27.2.2.2020; NYTM 30.1.2020). Die Regierungstruppen führen in der Provinz Operationen durch (AN 5.9.2020; AJ 23.7.2020; XI 29.1.2020b, RFE/RL 22.1.2020). Darüber hinaus wird von Explosionen von Sprengfallen am Straßenrand in verschiedenen Distrikten berichtet (KP 22.11.2020, NYTM 29.10.2020; TN 10.10.2020, NYTM 1.10.2020, NYTM 28.8.2020; TN 5.7.2020; NYTM 30.1.2020). Vorfälle mit IEDs, wie Detonationen von an Fahrzeugen befestigten IEDs (VBIED) (AJ 13.3.2021; REU 12.3.2021; KP 1.11.2020; ACCORD 27.1.2021), einer Sprengfalle am Straßenrand (NYTM 28.8.2020) und eines weiteren IEDs kommen auch in der Stadt Herat vor (GW 10.11.2020; vgl. AAN 27.10.2020). Auch werden sowohl in den Distrikten als auch der Stadt Herat gezielte Tötungen durchgeführt (ACCORD 6.5.2021a; AJ 13.3.2021; REU 12.3.202; NYTM 29.10.2020; NYTM 1.10.2020; NYTM 28.8.2020; NYTM 27.2.2.2020; NYTM 30.1.2020) und es kommt zu Angriffen auf Soldaten und Sicherheitskräfte (ACCORD 6.5.2021a; BAMF 15.3.2021; AJ 13.3.2021; REU 12.3.2021; ACCORD 27.1.2021; AN 16.1.2021; ANI 8.1.2021) (LIB, S. 117).
In der Provinz Herat – mit Ausnahme in der Stadt Herat – kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO 2020, Kapitel 3.3.).
In der Hauptstadt der Provinz, Herat-Stadt, findet willkürliche Gewalt auf einem so niedrigen Niveau statt, dass im Allgemeinen kein reales Risiko besteht, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden (EASO 2020, Kapitel 3.3.). Herat-Stadt steht unter der Kontrolle der Regierung (EASO 2020, Kapitel 5).
Der Flughafen Herat mit nationaler und internationaler Fluganbindung liegt 10 km westlich der Stadt im Distrikt Gozara. Die Straße, welche die Stadt mit dem Flughafen verbindet wird laufend von Sicherheitskräften kontrolliert. Unabhängig davon gab es in den letzten Jahren Berichte von Aktivitäten von kriminellen Netzwerken, welche oft auch mit Aufständischen in Verbindung stehen. Es ist davon auszugehen, dass Herat-Stadt im Allgemeinen ohne ernsthaftes Risiko erreicht werden kann (EASO 2020, Kapitel 5).
Transportwesen
Das Transportwesen in Afghanistan gilt als „verhältnismäßig gut“. Es gibt einige regelmäßige Busverbindungen innerhalb Kabuls und in die wichtigsten Großstädte Afghanistans (IE o.D.). Die Kernfrage bleibt nach wie vor die Sicherheit (IWPR 26.3.2018). Es existieren einige nationale Busunternehmen, welche Mazar-e Sharif, Kabul, Herat, Jalalabad und Bamyan miteinander verbinden; Beispiele dafür sind Bazarak Panjshir, Herat Bus, Khawak Panjshir, Ahmad Shah Baba Abdali (vertrauliche Quelle 14.5.2018; vgl. IWPR 26.3.2018). Aus Bequemlichkeit bevorzugen Reisende, die es sich leisten können, die Nutzung von Gemeinschaftstaxis nach Mazar-e Sharif, Kabul, Herat, Jalalabad und Bamyan (vertrauliche Quelle 14.5.2018) (LIB, S. 229).
Es gibt etwa einige Busverbindungen zwischen Mazar-e Sharif und Kabul. Bis zu 50 unterschiedliche Unternehmen bieten 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, Fahrten von und nach Kabul an. Ausführende Busunternehmen sind beispielsweise Bazarak Panjshir Bus, Hesarak Panjshir Bus, Jawid Bus, Khorshid Bus und Jabal Seraj Bus. Die Preise pro Passagier liegen zwischen 400 und 1.000 Afghani und hängen stark vom Komfort im Bus ab. So kann man zum Beispiel in einem Bus der Marke Mercedes Benz mit Toiletten, Kühlschränken und Internet reisen. Busreisen gelten als relativ günstig (STDOK 4.2018) (LIB, S. 230).
In Afghanistan gibt es insgesamt vier internationale Flughäfen (LIFOS 23.1.2018). Trotz jahrelanger Konflikte verzeichnet die afghanische Luftfahrtindustrie einen zahlenmäßigen Anstieg ihrer wettbewerbsfähigen Flugrouten. Daraus folgt ein erleichterter Zugang zu Flügen für die afghanische Bevölkerung. Die heimischen Flugdienste sehen sich mit einer wachsenden Konkurrenz durch verschiedene Flugunternehmen konfrontiert. Flugrouten wie Kabul - Herat und Kabul - Kandahar, die früher ausschließlich von Ariana Afghan Airlines angeboten wurden, werden nun auch von internationalen Fluggesellschaften abgedeckt (AG 3.11.2017) (LIB, S. 232). Nationale Airlines (Kam Air, Ariana Air) bieten internationale Flüge von Indien und der Türkei nach Mazar-eh Sharif an (F 24 o.D.). Innerstaatlich gehen Flüge von und nach Mazar-e Sharif (durch Kam Air bzw. Ariana Afghan Airlines) zum Flughafen von Kabul (F 24 o.D.) (LIB, S. 234).
Nationale Airlines (Kam Air und Ariana Afghan Airlines) fliegen Herat international aus Saudi Arabien an (F 24 o.D.). Innerstaatlich gehen Flüge von und nach Herat (durch Kam Air bzw. Ariana Afghan Airlines) zum Flughafen von Kabul (F 24 o.D.) (LIB, S. 234).
Taliban
Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde; nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 27.4.2020). Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen „Werte“ betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik einer eventuellen Regierung der Machtteilung, die die Taliban einschließt, zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab (Ruttig 3.2021). Sie sehen sich nicht als bloße Rebellengruppe, sondern als eine Regierung im Wartestand und bezeichnen sich selbst als „Islamisches Emirat Afghanistan“, der Name, den sie benutzten, als sie von 1996 bis zu ihrem Sturz nach den Anschlägen vom 11.9.2001 an der Macht waren (BBC 15.4.2021) (LIB, S. 240).
Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019; BBC 15.4.2021) und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen (EASO 8.2020c; vgl. USIP 4.2020). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.5.2020, AnA 28.7.2020) - Stellvertreter sind der Erste Stellvertreter Sirajuddin Jalaluddin Haqqani (Leiter des Haqqani-Netzwerks) und zwei weitere: Mullah Mohammad Yaqoob [Mullah Mohammad Yaqub Omari] (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020) und Mullah Abdul Ghani Baradar Abdul Ahmad Turk (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.; vgl. BBC 15.4.2021). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020). Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban-Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020). Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020). Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen haben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Sar-e Pul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019) (LIB, S. 240 f).
Während die Taliban behaupten, nicht mehr dieselbe brutale Gruppe zu sein die Afghanistan in den 1990er Jahren beherrschte, und versuchen inmitten der internationalen Bemühungen um eine Friedensregelung zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban ein versöhnlicheres Image zu vermitteln, sagen Afghanen, die derzeit unter der Kontrolle der Taliban leben, dass die militante Gruppe weiterhin in ihrer extremistischen Auslegung des Islam verwurzelt ist und mit Angst und Barbarei regiert (RFE/RL 13.4.2021), wobei sich viele innerhalb der Taliban erhoffen, ihr „Emirat“ wiederherstellen zu können (Ruttig 3.2021). Einem lokalen Vertreter der Talibanzufolge sind die Taliban von früher und die Taliban von heute dieselben (BBC 15.4.2021). Die Taliban haben sich offenbar absichtlich vage darüber geäußert, was sie mit der „islamischen Regierung“ meinen, die sie schaffen wollen. Einige Analysten sehen darin einen bewussten Versuch, interne Reibereien zwischen Hardlinern und gemäßigteren Elementen zu vermeiden (BBC 15.4.2021) (LIB, S. 245 f).
Es gibt Anzeichen für einen wirklichen Politikwandel in bestimmten Bereichen (z.B. bei der Nutzung der Medien, im Bildungssektor, eine größere Akzeptanz von NGOs und die Einsicht, dass ein zukünftiges politisches System zumindest einige ihrer politischen Rivalen aufnehmen muss), doch scheinen ihre politischen Anpassungen eher von politischen Notwendigkeiten als von grundlegenden Veränderungen in der Ideologie getrieben zu sein (Ruttig 3.2021; vgl. BBC 15.4.2021). In den letzten Jahren haben sich die Taliban dazu bekannt, Frauen ihre Rechte zu gewähren und ihnen zu erlauben, zu arbeiten und zur Schule zu gehen, wenn sie nicht gegen den Islam oder die afghanischen Werte verstoßen (RFE/RL 13.4.2021; vgl. BBC 15.4.2021), aber laut einer großen Zahl von Afghanen, die unter der Herrschaft der Taliban leben, hat sich die Politik der militanten Gruppe in Bezug auf die Bildung von Mädchen seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht geändert (RFE/RL 13.4.2021). In einigen von den Taliban kontrollierten Gebieten sind Schulen für Mädchen komplett verboten (RFE/RL 13.4.2021; vgl. BBC 15.4.2021). In anderen Regionen gibt es Beschränkungen. Die Gruppe deutete auch an, dass sie die kürzlich gewonnenen Freiheiten der Frauen beschneiden will, die ihrer Meinung nach „Unmoral“ und „Unanständigkeit“ fördern (RFE/RL 13.4.2021). Angesichts ihres anhaltenden dominierenden Verhaltens, ihrer Intoleranz gegenüber politisch Andersdenkenden und ihrer Unterdrückung (insbesondere von Mädchen und Frauen) in den von ihnen kontrollierten Gebieten besteht die berechtigte Sorge, dass sie zu den Praktiken von vor dem Herbst 2001 zurückkehren könnten, wenn der politische Druck nach einem eventuellen Friedensabkommen und einem Truppenabzug nachlässt. Die Veränderungen in der Rhetorik und den Positionen der Taliban werfen jedoch ein Licht auf das, was sie in einer politischen Ordnung nach dem Friedensschluss in Afghanistan, in der sie sich mit anderen afghanischen Machtgruppen und Interessen zu einem Modus Vivendi zusammenfinden müssen, möglicherweise zu akzeptieren bereit sind. Ob einige Änderungen in der Herangehensweise aufrechterhalten werden, hängt von der Fähigkeit der afghanischen Gemeinschaft und politischen Gruppen ab, den Druck auf die Taliban aufrechtzuerhalten. Dies wiederum hängt von der anhaltenden internationalen Aufmerksamkeit gegenüber Afghanistan ab, insbesondere wenn es zu einer politischen Einigung und einer Machtteilung kommt und nachdem die ausländischen Soldaten abgezogen sind (Ruttig 3.2021) (LIB, S. 246).
Die Taliban glauben, dass der Sieg ihnen gehört. Die Entscheidung von US-Präsident Joe Biden, den Abzug der verbleibenden US-Truppen auf September zu verschieben, was bedeutet, dass sie über den im letzten Jahr vereinbarten Termin 1.5.2021 hinaus im Land bleiben werden, hat eine scharfe Reaktion der politischen Führung der Taliban ausgelöst. Nichtsdestotrotz scheint das Momentum auf Seiten der Militanten zu sein. Im vergangenen Jahr gab es einen offensichtlichen Widerspruch im „Jihad“ der Taliban. Nach der Unterzeichnung eines Abkommens mit den USA stellten sie Angriffe auf internationale Truppen ein, kämpften aber weiter gegen die afghanische Regierung. Ein Taliban-Sprecher besteht jedoch darauf, dass es keinen Widerspruch gibt (BBC 15.4.2021; vgl. VIDC 26.4.2021). Für die Taliban ist die Errichtung einer „islamischen Struktur“ eine Priorität. Die Taliban sind noch nicht ins Detail gegangen, wie diese aussehen würde. Ähnliche Bedenken werden im Hinblick auf die Auslegung der Scharia und die Rechte der Frauen geäußert (VIDC 26.4.2021). Die Luftwaffe, vor allem die der Amerikaner, hat in den vergangenen Jahren entscheidend dazu beigetragen, den Vormarsch der Taliban aufzuhalten. Die USA haben ihre Militäroperationen bereits drastisch zurückgefahren, nachdem sie im vergangenen Jahr ein Abkommen mit den Taliban unterzeichnet hatten, und viele befürchten, dass die Taliban nach ihrem Abzug in der Lage sein werden, eine militärische Übernahme des Landes zu starten (BBC 15.4.2021; vgl. VIDC 26.4.2021). Im Jahr 2020 verursachten die Taliban weiterhin die meisten zivilen Opfer von allen Parteien des bewaffneten Konflikts (UNAMA 2.2021a). Nach Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) gingen die durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 40 % zurück (AIHRC 28.1.2021; vgl. ACCORD 6.5.2021) - nach Angaben der UNAMA war es ein Rückgang um 19 % (UNAMA 2.2021a). Der Hauptgrund für diesen Rückgang könnte ein Mangel an komplexen und Selbstmordattentaten in den großen Städten des Landes sein. Im Jahr 2020 wurden in Afghanistan insgesamt 4.567 Zivilisten durch Taliban-Angriffe getötet oder verletzt, während im gleichen Zeitraum 2019 die Gesamtzahl der durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer bei 7.727 lag (AIHRC 28.1.2021; vgl ACCORD 6.5.2021). UNAMA schrieb den Taliban 3.960 zivile Opfer (1.470 Tote und 2.490 Verletzte) zu. Dieser Rückgang bezieht sich jedoch nur auf die verletzten Zivilisten, da Anstieg von getöteten Zivilisten um 13 % dokumentiert wurde (UNAMA 2.2021a). Selbstmord- und Nicht-Selbstmord-IEDs verursachten mehr als die Hälfte der den Taliban zugeschriebenen zivilen Opfer, wobei Nicht-Selbstmord-IEDs fünfmal mehr zivile Opfer verursachten als Selbstmord-IEDs. Bodenkämpfe, einschließlich des Einsatzes von Mörsern und Raketen, waren für fast ein Viertel der von den Taliban verursachten zivilen Opfer verantwortlich. (UNAMA 2.2021a). UNAMA schrieb den Taliban 6 % mehr getötete Zivilisten aus Bodenkämpfen und 15 % weniger verletzte Zivilisten im Vergleich zu 2019 zu. Dieser Rückgang war hauptsächlich auf das Ausbleiben wahlbezogener Gewalt im Jahr 2020 zurückzuführen, wurde jedoch teilweise durch eine höhere Zahl von zivilen Opfern aufgrund der anhaltend hohen Zahl von Bodenkämpfen mit zivilen Opfern während des gesamten Jahres ausgeglichen (UNAMA 2.2021a). Die UNAMA verzeichnete außerdem einen Anstieg der Zahl der durch gezielte Tötungen der Taliban, zu denen auch „Attentate“ gehören, die bewusst auf Zivilisten abzielen, getöteten und verletzten Zivilisten um 22 % und einen Anstieg der zivilen Opfer bei Entführungen von Zivilisten durch die Taliban um 169% (UNAMA 2.2021a) (LIB, S. 245).
Islamischer Staat
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Der IS in Afghanistan bezeichnet sich selbst als Khorasan-Zweig des IS (ISKP). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019) bzw. 4.000 und 5.000 Kämpfern (EASO 8.2020c). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (VOA 21.5.2019). Der ISKP geriet in dessen Hochburgen in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.3.2020; vgl. RA KBL 12.10.2020), da sich jahrelang die Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese konzentrierten. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in dieser Region (SIGAR 30.1.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen (DW 26.2.2020; vgl. MT 27.2.2020). Im November 2019 ist die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen (NYT 2.12.2019; vgl. SIGAR 30.1.2020) wobei über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020, UNGASC 17.3.2020). Der islamische Staat soll jedoch weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein (UNGASC 17.3.2020). Die landesweite Mannstärke des ISKP hat sich seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf zwischen 200 (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020) und 300 Kämpfer reduziert (NYT 2.12.2019). Angriffe des ISKP gingen zurück, aber die Gruppe war für mehrere tödliche Bombenanschläge verantwortlich (HRW 13.1.2021). 49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 8.11.2019-6.2.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert (UNGASC 17.3.2020). Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen (BBC 25.3.2020). Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (NYT 2.12.2019) (LIB, S. 248 f).
Der ISKP verurteilt die Taliban als „Abtrünnige“, die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.2.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.8.2019; vgl. AP 19.8.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.8.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.8.2019). In Gebieten unter Kontrolle des IS wird Druck auf die Gemeinden ausgeübt, den IS voll zu unterstützen (EASO 6.2018). Angesichts der Aufnahme von Gesprächen der Taliban mit den USA predigte der ISKP seine Mission weiterhin als eine reinere Form des Dschihad im Gegensatz zur Öffnung der Taliban für US-Gespräche (EASO 8.2020c; vgl. SaS 10.2.2020). Nach Angaben der UNO zielt ISKP darauf ab, von den Taliban und Al-Qaida abtrünnige Rekruten zu gewinnen, insbesondere solche, die sich jeglichen Vereinbarungsgesprächen mit den US-amerikanischen oder afghanischen Regierungen widersetzen (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Am 4.4.2020 verhaftete die Nationale Sicherheitsdirektion Afghanistans (NDS) den IS-Führer in Afghanistan (AnA 30.4.2020; vgl. HRW 6.4.2020). Die Gruppe ist jedoch immer noch aktiv und führt weiterhin Angriffe durch (DW 3.8.2020; vgl. AVA 1.11.2020). Nach Erkenntnissen von AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission), ist die Zahl der zivilen Opfer aufgrund von ISKP-Angriffen im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 21 Prozent gesunken. Die Gesamtzahl der durch ISKP-Angriffe in Afghanistan im Jahr 2020 getöteten oder verletzten Zivilisten beträgt 403; während die Gesamtzahl der durch ISKP in Afghanistan im Jahr 2019 getöteten oder verletzten Zivilisten 515 betrug (AIHRC 28.1.2021; cf. ACCORD 6.5.2021). Vom 1.1.2020 bis 31.12.2020 schrieb UNAMA 673 zivile Opfer (213 Tote und 460 Verletzte) dem ISKP zu. 80% der zivilen Opfer, die dem ISKP zugeschrieben werden, wurden durch Angriffe verursacht, die bewusst auf Zivilisten abzielten (UNAMA 2.2021a). Lokale Ältere, die in den Grenzprovinzen Kunar und Nangarhar leben, berichteten von ISKP-Kräften, die nach wie vor die Bewohner in Dörfern unter ihrer Kontrolle terrorisieren und Buben zwangsrekrutieren, sowie Mädchen vom Schulbesuch abhalten (WP 20.8.2019; vgl. TST 21.8.2019). Aus Kunar wurde berichtet, dass auch Männer zwangsrekrutiert und jene getötet wurden, die dies verweigert hätten (TST 22.8.2019). Die Zahl der Angriffe, zu denen sich der ISKP bekannte oder die der Gruppe zugeschrieben wurden, nahm Ende 2020 und Anfang 2021 zu. Während sich viele Vorfälle in den östlichen Provinzen Laghman, Kunar und Nangarhar ereigneten, griff der ISKP auch weiterhin Zivilisten in städtischen Gebieten mit asymmetrischen Taktiken an. Der ISKP bekannte sich zu zwei Raketenangriffen auf die Stadt Kabul, zuerst am 21.11.2020, als 23 Raketen in bewohnten Gebieten einschlugen, und dann am 12.12.2020, als 4 Raketen Berichten zufolge den internationalen Flughafen Hamid Karzai trafen. Die Gruppe bekannte sich auch zu Angriffen auf eine Journalistin in der Stadt Jalalabad bzw. auf medizinisches Personal und Regierungsbeamte in Kabul im Dezember 2020 (UNGASC 12.3.2021). Afghanische Medien berichteten am 22.03.21, dass sich der ISKP zu über 30 Morden in Kabul und Nangarhar vom 11.3. bis zum 17.3.21 bekannt habe. Dabei seien 20 Zivilisten und 13 Sicherheitskräfte getötet worden. Die afghanische Regierung behauptet hingegen, die Taliban seien verantwortlich gewesen (BAMF 29.3.2021) (LIB, S. 249 f).
Allgemeine Menschenrechtslage
Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen engagiert sich politisch, kulturell und sozial und verleiht der Zivilgesellschaft eine starke Stimme. Diese Fortschritte erreichen aber nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Gerichten sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Afghanistan wurde 2017 erstmals zum Mitglied des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen für den Zeitraum 1.1.2018 - 31.12.2020 gewählt (AA 16.7.2020). Die Menschenrechte haben in Afghanistan eine klare gesetzliche Grundlage. Die 2004 verabschiedete afghanische Verfassung enthält einen umfassenden Grundrechtekatalog (AA 16.7.2020; vgl. CoA 26.1.2004). Darüber hinaus hat Afghanistan die meisten der einschlägigen völkerrechtlichen Verträge - zum Teil mit Vorbehalten - unterzeichnet und/oder ratifiziert. Die afghanische Regierung ist jedoch nicht in der Lage, die Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (AA 16.7.2020) (LIB, S. 278).
Internet und Mobiltelefonie
Es gibt Mobiltelefone in 90% der afghanischen Haushalte, wobei sich oft mehrere Personen eines teilen (DFJP/SEM 30.6.2020).
Schiiten
Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 19.5.2021; vgl. USDOS 12.5.2021, AA 16.7.2020). Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 0,3% der Bevölkerung aus (CIA 19.5.2021, USDOS 12.5.2021). Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (USDOS 12.5.2021; vgl. FH 4.3.2020) (LIB, S. 292). Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsalierung gegenüber religiösen Minderheiten und reformerischen Muslimen behindert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 12.5.2021) (LIB, S. 293). Gemäß Vertretern der Religionsgemeinschaft sind die Schiiten Afghanistans mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara (USDOS 12.5.2021) (LIB, S. 295).
Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten (AA 16.7.2020). Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Gemäß Zahlen von UNAMA gab es im Jahr 2019 10 Fälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten, die 485 zivile Opfer forderten (117 Tote und 368 Verletzte), was einem Rückgang von 35 % gegenüber 2018 entspricht, als es 19 Fälle gab, die 747 zivile Opfer forderten (233 Tote und 524 Verletzte). Der Islamische Staat Khorasan Provinz (ISKP) bekannte sich zu sieben der zehn Vorfälle und gab an, dass diese auf die religiöse Minderheit der schiitischen Muslime ausgerichtet waren (USDOS 10.6.2020). In den Jahren 2016, 2017 und 2018 wurden durch den Islamischen Staat (IS) und die Taliban 51 terroristischen Angriffe auf Glaubensstätten und religiöse Anführer der Schiiten bzw. Hazara durchgeführt (FH 4.2.2019; vgl. USDOS 21.6.2019, CRS 1.5.2019). Nach einer Reihe tödlicher Angriffe des ISKP im März 2020, die sich gegen Sikhs richteten und 25 Personen töteten, verließen etwa 200 Mitglieder der Sikh-Gemeinschaft das Land in Richtung Indien und gaben an, dass sie wegen der mangelnden Sicherheit und des unzureichenden Schutzes durch die Regierung ausgereist seien (USDOS 12.5.2021). Vertreter der überwiegend schiitischen Hazara-Gemeinschaft sagen weiterhin, dass die Sicherheitsvorkehrungen der Regierung in den von Schiiten dominierten Gebieten unzureichend sind. Vertreter der Schiiten sagen, dass sie keine Erhöhung des Schutzes durch die Afghanischen Nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) festgestellt haben; sie sagen jedoch, dass die Regierung vor großen schiitischen Versammlungen direkt Waffen an die schiitische Gemeinschaft verteilt hat (USDOS 12.5.2021). Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen (FH 4.3.2020). Einige Schiiten haben weiterhin hochrangige Positionen in der Regierung inne, darunter der zweite Vizepräsident Sarwar Danish und eine eihe von stellvertretenden Ministern, Gouverneuren und ein Mitglied des Obersten Gerichtshofs, abervanders als in den Vorjahren keine Positionen auf Kabinettsebene. Schiitische Führer erklären weiterhin, dass der Anteil der von Schiiten besetzten offiziellen Positionen nicht ihrer Einschätzung der Demographie des Landes entspreche, was sie auf die Marginalisierung von Minderheitengruppen durch die Regierung und das Fehlen eines unterstützenden sozialen Umfelds zurückführen. Sunnitische Mitglieder des Ulema-Rates erklären jedoch weiterhin, dass Schiiten in der Regierung überrepräsentiert seien, basierend auf sunnitischen Schätzungen des Anteils der Schiiten an der Bevölkerung. Drei ismailitische Muslime waren Mitglieder des Parlaments, einer weniger als 2019, und der Staatsminister für Frieden, Sadat Mansoor Naderi, ist ebenfalls ein ismailitischer Muslim. Führer der ismailitischen Gemeinschaft berichten weiterhin von Bedenken über den, wie sie es nennen, Ausschluss von Ismailis aus anderen Positionen der politischen Autorität (USDOS 12.5.2021). Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25 bis 30% (AB 8.9.2020; vgl. USIP 14.6.2018, AA 2.9.2019). Des Weiteren tagen regelmäßig rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (USDOS 12.5.2021) (LIB, S. 295 f).
Ethnische Gruppen/Hazara
In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen (NSIA 6.2020; vgl. CIA 16.2.2021). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016; vgl. CIA 16.2.2021). Schätzungen zufolge sind: 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen (GIZ 4.2019; vgl. CIA 2012, AA 16.7.2020) (LIB, S. 302).
Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Artikel 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri (AA 2.9.2019). Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen zu haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (USDOS 30.3.2021) (LIB, S. 303).
Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert (AA 16.7.2020). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 30.3.2021) (LIB, S. 303).
Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus (GIZ 4.2019; vgl. MRG o.D.c.). Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben (STDOK 7.2016). Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt Kabul (AAN 19.3.2019). Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild (STDOK 7.2016). Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c), auch bekannt als Jafari Schiiten (USDOS 12.5.2021). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradjat lebt, ist ismailitisch (STDOK 7.2016). Ismailitische Muslime, die vor allem, aber nicht ausschließlich, Hazara sind (GS 21.8.2012), leben hauptsächlich in Kabul sowie den zentralen und nördlichen Provinzen Afghanistans (USDOS 12.5.2021) (LIB, S. 306).
Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert (AA 16.7.2020; vgl. FH 4.3.2020) und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert (AA 16.7.2020). Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung (USDOS 30.3.2021). Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (FH 4.3.2020; vgl. WP 21.3.2018). Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c). Sollte der dem Haushalt vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist (MRG o.D.c). Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen (STDOK 7.2016) (LIB S. 306).
Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht (WP 21.3.2018). Berichten zufolge halten Angriffe durch den ISKP (Islamischer Staat Khorasan Provinz) und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen - inklusive der schiitischen Hazara - an (USDOS 12.5.2021). Während des gesamten Jahres 2020 setzte der ISKP seine Angriffe auf schiitische Gemeinschaften, vorwiegend Hazara, fort. Am 6.3.2021 griffen Bewaffnete eine Zeremonie in Kabul an, an der hauptsächlich schiitische Hazara teilnahmen, und töteten 32 Personen. Am 24.10.2021 tötete ein Selbstmordattentäter in einem Bildungszentrum in einem Hazara-Viertel von Kabul 40 Personen und verwundete 72 weitere. Der ISKP bekannte sich dazu. Viele der Opfer waren zwischen 15 und 26 Jahre alt (USDOS 30.3.2021). Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen. Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart. Nach Angaben der schiitischen Gemeinschaft gab es trotz der Pläne keine Aufstockung der ANDSF-Kräfte; sie sagten jedoch, dass die Regierung Waffen direkt an die Wächter der schiitischen Moscheen in Gebieten verteilte (USDOS 12.5.2021). Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt (MEI 10.2018; vgl. WP 21.3.2018). Im Mai 2021 explodierte eine Autobombe vor einer Mädchenschule in Dasht-e Barchi, wobei 58 Personen, darunter Schülerinnen, getötet und mehr als 100 verletzt wurden (AJ 9.5.2021; vgl. RFE/RL 9.5.2021, BBC 9.5.2021, NYT 9.5.2021, TN 8.5.2021). In Randgebieten des Hazaradjat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara (AREU 1.2018). Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (BI 29.9.2017). NGOs berichten, dass Polizeibeamte, die der Hazara-Gemeinschaft angehören, öfter als andere Ethnien in unsicheren Gebieten eingesetzt werden oder im Innenministerium an symbolische Positionen ohne Kompetenzen befördert werden (USDOS 30.3.2021) (LIB, S. 307).
Risikogruppen
Personen, die einem oder mehreren der nachstehend aufgeführten Risikoprofile entsprechen, können, jeweils abhängig von den persönlichen Umständen ihres Falles, internationalen Schutz benötigen (UNHCR, Kapitel III. A):
(1) Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft einschließlich der internationalen Streitkräfte verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen
(2) Journalisten und in der Medienbranche tätige Personen
(3) Männer im wehrfähigen Alter und Kinder im Kontext von Minderjährigen- und Zwangsrekrutierung
(4) Zivilisten, die verdächtigt werden, regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) zu unterstützen
(5) Angehörige religiöser Minderheiten und Personen, bei denen vermutet wird, dass sie gegen die Scharia verstoßen
(6) Personen, bei denen vermutet wird, dass sie gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte gemäß der Auslegung durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) verstoßen
(7) Frauen mit spezifischen Profilen oder Frauen, die unter bestimmten Bedingungen leben
(8) Frauen und Männer, die vermeintlich gegen soziale Sitten verstoßen
(9) Personen mit Behinderung, insbesondere geistiger Behinderung oder Personen mit psychischer Erkrankung
Für Personen, die mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft, einschließlich der internationalen Streitkräfte, verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen kann – abhängig von den jeweiligen Umständen des Falles – ein Bedarf an internationalem Schutz aufgrund einer begründeten Furcht vor Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure wegen ihrer (ihnen zugeschriebenen) politischen Überzeugung oder aus anderen relevanten Konventionsgründen, in Verbindung mit der allgemeinen Unfähigkeit des Staates, Schutz vor dieser Verfolgung zu bieten, bestehen.
Zu diesen Personen gehören:
a) Regierungsbeamte und Staatsbedienstete
b) Mitglieder der afghanischen nationalen Polizei und der afghanischen lokalen Polizei sowie ehemalige Mitglieder der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF)
c) Zivilisten, die mit den ANDSF/regierungsnahen Kräften verbunden sind oder diese vermeintlich unterstützen
d) Zivilisten, die mit den internationalen Streitkräften verbunden sind oder diese vermeintlich unterstützen e) Mitarbeiter von humanitären Hilfs- und Entwicklungsorganisationen
f) Menschenrechtsaktivisten
g) Andere Zivilisten, die vermeintlich die Regierung oder die internationale Gemeinschaft unterstützen
h) Stammesälteste und religiöse Führer
i) Frauen im öffentlichen Leben
j) Als „verwestlicht“ wahrgenommene Personen
k) Familienangehörige von Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen (UNHCR, Kapitel III. A).
Auf eine (vermeintliche) Verbindung kann zum Beispiel durch ein bestehendes oder früheres Beschäftigungsverhältnis oder durch familiäre Bindungen geschlossen werden (UNHCR, Kapitel III. A).
Sexueller Missbrauch von Kindern und Bacha Bazi
In weiten Teilen Afghanistals bleibt der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ein großes Problem. Das Thema ist gesellschaftlich tabuisiert und wird gewöhnlich unter dem Deckmantel kultureller Gepflogenheiten verschwiegen oder verharmlost. Es wird von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen, da die Mehrheit der Vorfälle nicht angezeigt wird. UNAMA konnte in den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 aufgrund der mit dem Thema verbundenen gesellschaftlichen Befindlichkeiten lediglich vier Fälle von sexueller Gewalt gegen Minderjährige überprüfen und dokumentieren. Ein Großteil der Täter hat keinerlei Unrechtsbewusstsein. Geschlechtsverkehr mit Minderjährigen ist durch das afghanische Gesetz unter Strafe gestellt, die strafrechtliche Verfolgung scheint nur in Einzelfällen stattzufinden (AA 16.7.2020; vgl. UNAMA 24.2.2019) (LIB, S. 343).
Berichten zufolge kam zu Fällen von Misshandlung und sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch die Polizei. Minderjährige, welche sich in Missbrauchsfällen an die Polizei wandten, berichteten von weiterer Belästigung und Missbrauch durch Exekutivbeamte, insbesondere bei Fällen von Bacha Bazi, was Opfer davon abhielt, Vergehen zu melden (USDOS 30.3.2021). Es wird von sexuellen Übergriffen durch die Streitkräfte, der Afghan Local Police (ALP) und Afghan National Police (ANP) berichtet (HRC 28.1.2019; vgl. UNSC 29.3.2019; SIGAR 18.1.2018) (LIB, S. 343).
Mit einer Ergänzung zum Strafgesetz, die am 14.2.2018 in Kraft trat, wurde die Bacha-Bazi-Praxis erstmalig explizit unter Strafe gestellt (AA 16.7.2020). Das Anheuern von Bacha Bazi wird nun durch das revidierte Strafgesetzbuch als Straftat definiert und im Artikel 653 mit Strafe bedroht (MoJ 15.5.2017). Aber auch hier verläuft die Durchsetzung des Gesetzes nur schleppend und Straflosigkeit der Täter ist weiterhin verbreitet. Missbrauchte Jungen und ihre Familien werden oft von ihrer sozialen Umgebung ausgeschlossen und stigmatisiert; eine polizeiliche Aufklärung findet nicht statt (AA 16.7.2020). Üblicherweise sind die Buben zwischen zehn und 18 Jahren alt (SBS 20.12.2016); viele von ihnen werden weggegeben, sobald sie erste Anzeichen eines Bartes haben (SBS 21.12.2016). Viele der Buben wurden entführt, manchmal werden sie auch von ihren Familien aufgrund von Armut an die Täter verkauft (SBS 20.12.2016; vgl. AA 16.7.2020). Im Jahr 2020 wurden fünf Fälle von Bacha Bazi im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt dokumentiert (UNSC 30.3.2021) (LIB, S. 344).
Bewegungsfreiheit
Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Die Regierung respektierte diese Rechte im Allgemeinen (USDOS 30.3.2021). Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen. Als zentrale Hürde für die Bewegungsfreiheit werden Sicherheitsbedenken genannt. Besonders betroffen ist das Reisen auf dem Landweg (AA 16.7.2020). Dazu beigetragen hat ein Anstieg von illegalen Kontrollpunkten und Überfällen auf Überlandstraßen (AA 16.7.2020; vgl. USDOS 30.3.2021, FH 4.2.2019). In bestimmten Gebieten machen Gewalt durch Aufständische, Landminen und improvisierte Sprengfallen (IEDs) das Reisen besonders gefährlich, speziell in der Nacht (FH 4.2.2019). Auch schränken gesellschaftliche Sitten die Bewegungsfreiheit von Frauen ohne männliche Begleitung ein (USDOS 30.3.2021; vgl. STDOK 6.2020) (LIB, S. 350).
Es gibt internationale Flughäfen in Kabul, Herat, Kandahar und Mazar-e Sharif, bedeutende Flughäfen, für den Inlandsverkehr außerdem in Ghazni, Nangarhar, Khost, Kunduz und Helmand sowie eine Vielzahl an regionalen und lokalen Flugplätzen. Es gibt keinen öffentlichen Schienenpersonenverkehr (AA 2.9.2019) (LIB, S. 350).
Die Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen hängen maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab. Die sozialen Netzwerke vor Ort und deren Auffangmöglichkeiten spielen eine zentrale Rolle für den Aufbau einer Existenz und die Sicherheit am neuen Aufenthaltsort. Für eine Unterstützung seitens der Familie kommt es auch darauf an, welche politische und religiöse Überzeugung den jeweiligen Heimatort dominiert. Für Frauen ist es kaum möglich, ohne familiäre Einbindung in andere Regionen auszuweichen. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (AA 16.7.2020). Die Stadt Kabul ist in den letzten Jahrzehnten rasant gewachsen und ethnisch gesehen vielfältig. Neuankömmlinge aus den Provinzen tendieren dazu, sich in Gegenden niederzulassen, wo sie ein gewisses Maß an Unterstützung ihrer Gemeinschaft erwarten können (sofern sie solche Kontakte haben) oder sich in jenem Stadtteil niederzulassen, der für sie am praktischsten sie ist, da viele von ihnen - zumindest anfangs - regelmäßig zurück in ihre Heimatprovinzen pendeln. Die Auswirkungen neuer Bewohner auf die Stadt sind schwer zu evaluieren. Bewohner der zentralen Stadtbereiche neigen zu öfteren Wohnortwechseln, um näher bei ihrer Arbeitsstätte zu wohnen oder um wirtschaftlichen Möglichkeiten und sicherheitsrelevanten Trends zu folgen. Diese ständigen Wohnortwechsel haben einen störenden Effekt auf soziale Netzwerke, was sich oftmals in der Beschwerde bemerkbar macht „man kenne seine Nachbarn nicht mehr“ (AAN 19.3.2019). Auch in größeren Städten erfolgt in der Regel eine Ansiedlung innerhalb von ethnisch geprägten Netzwerken und Wohnbezirken. Die Absorptionsfähigkeit der genutzten Ausweichmöglichkeiten, vor allem im Umfeld größerer Städte, ist durch die hohe Zahl der Binnenvertriebenen und der Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan bereits stark in Anspruch genommen. Dies schlägt sich sowohl in einem Anstieg der Lebenshaltungskosten als auch in einem erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt nieder (AA 16.7.2020) (LIB, S. 350 f).
Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021) (LIB, S. 20).
Grundversorgung und Wirtschaft
Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig (AF 2018; vgl. WB 7.2019). Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt (ILO 5.2012; vgl. ACCORD 7.12.2018). Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (FAO 23.11.2018; vgl. Haider/Kumar 2018), wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hatte (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%; WB 7.2019). 45% aller Beschäftigen arbeiten im Agrarsektor, 20% sind im Dienstleistungsbereich tätig (STDOK 10.2020; vgl. CSO 2018). Afghanistan erlebte von 2007 bis 2012 ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Während die Gewinne dieses Wachstums stark konzentriert waren, kam es in diesem Zeitraum zu Fortschritten in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Seit 2014 verzeichnet die afghanische Wirtschaft ein langsames Wachstum (im Zeitraum 2014-2017 durchschnittlich 2,3%, 2003-2013: 9%) was mit dem Rückzug der internationalen Sicherheitskräfte, der damit einhergehenden Kürzung der internationalen Zuschüsse und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Verbindung gebracht wird (WB 8.2018; vgl. STDOK 10.2020). Im Jahr 2018 betrug die Wachstumsrate 1,8%. Das langsame Wachstum wird auf zwei Faktoren zurückgeführt: einerseits hatte die schwere Dürre im Jahr 2018 negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft, andererseits verringerte sich das Vertrauen der Unternehmer und Investoren. Das Wirtschaftswachstum konnte sich zuletzt aufgrund der besseren Witterungsbedingungen für die Landwirtschaft erholen und lag 2019 laut Weltbank-Schätzungen bei 2,9%. Für 2020 geht die Weltbank COVID-19-bedingt von einer Rezession (bis zu -8% BIP) aus (AA 16.7.2020; vgl. WB 4.2020). Eine Reihe von U.S.- Wirtschafts- und Sozialentwicklungsprogrammen haben ihre Ziele für das Jahr 2020, aufgrund COVID-19-bedingter Einschränkungen nicht erreicht (SIGAR 30.1.2021) (LIB, S. 356 f).
Während der Wintersaat von Dezember 2017 bis Februar 2018 gab es in Afghanistan eine ausgedehnte Zeit der Trockenheit. Diese hatte primär Auswirkungen auf den Agrarsektor mit Verlusten bei Viehbeständen (STDOK 10.2020; vgl. STDOK 21.7.2020, STDOK 13.6.2019, ACCORD 26.5.2020) und verschlechterte die Situation für die von Lebensmittelunsicherheit geprägte Bevölkerung weiter. Auch folgten schwerwiegende Auswirkungen auf die wirtschaftlichen Existenzgrundlagen, was wiederum zu Binnenflucht führte und es den Binnenvertriebenen mittelfristig erschwert, sich wirtschaftlich zu erholen sowie die Grundbedürfnisse selbständig zu decken (FAO 23.11.2018; vgl. AJ 12.8.2018). Im März 2019 fanden in Afghanistan Überschwemmungen statt, welche Schätzungen zufolge Auswirkungen auf mehr als 120.000 Personen in 14 Provinzen hatten. Sturzfluten Ende März 2019 hatten insbesondere für die Bevölkerung in den Provinzen Balkh und Herat schlimme Auswirkungen (WHO 3.2019; vgl. STDOK 21.7.2020). Unter anderem waren von den Überschwemmungen auch Menschen betroffen, die zuvor von der Dürre vertrieben worden waren (GN 6.3.2019). Günstige Wetterbedingungen während der Aussaat 2020 lassen eine weitere Erholung der Weizenproduktion von der Dürre 2018 erwarten. COVID-19-bedingte Sperrmaßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion, da sie in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt werden konnten (IOM 23.9.2020). Starke Regenfälle haben im Mai 2021 mehrere Provinzen Afghanistans, insbesondere Herat, heimgesucht und Sturzfluten und Überschwemmungen verursacht, die zu Todesopfern und Schäden führten. Die am stärksten betroffenen Provinzen sind Herat, Ghor, Maidan Wardak, Baghlan, Samangan, Khost, Bamyan, Daikundi und Badakhshan. Medienberichten zufolge sind in der Provinz Herat bis zu 37 Menschen ums Leben gekommen, Hunderte wurden vertrieben und mehr als 150 Häuser wurden zerstört (ECHO 5.5.2021; vgl. UNOCHA 11.5.2021). 405 Familien wurden landesweit aus ihren Häusern vertrieben (BAMF 10.5.2021) (LIB, S. 357).
Armut und Lebensmittelunsicherheit
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt (AA 16.7.2020; AF 2018). Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Es wird erwartet, dass 2021 bis zu 18,4 Millionen Menschen (2020: 14 Mio Menschen) auf humanitäre Hilfe angewiesen sein werden (UNGASC 9.12.2020). In humanitären Geberkreisen wird von einer Armutsrate von 80% in Afghanistan ausgegangen. Auch die Weltbank prognostiziert einen weiteren Anstieg, da das Wirtschaftswachstum durch die hohen Geburtenraten absorbiert wird. Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte gibt es vielerorts nur unzureichende Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport (AA 16.7.2020). Während in ländlichen Gebieten bis zu 60% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben (STDOK 10.2020; vgl. CSO 2018), sind es in urbanen Gebieten rund 41,6% (NSIA 2019) (LIB, S. 359).
Laut einer IPC-Analyse vom April 2021 hatten für den Zeitraum März bis Mai 2021 fast 11 Millionen Menschen in Afghanistan aufgrund von Konflikten, COVID-19, hohen Lebensmittelpreisen und grassierender Arbeitslosigkeit ein hohes Maß an akuter Ernährungsunsicherheit (IPC-Phase 3 oder höher) zu erwarten. Zwischen Juni und November 2021 (Ernte- und Nacherntesaison) wird eine leichte Verbesserung der Ernährungssicherheit erwartet, wobei die Anzahl der Menschen in IPC-Phase 3 oder höher auf 9,5 Millionen sinkt, wobei 6,7 Millionen in IPC-Phase 3 (Krise) und 2,7 Millionen in der IPC-Phase 4 (Notfall) sein werden (IPC 22.4.2021). Die COVID-19-Krise führte kurzfristig zu einem deutlichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit (USAID 12.1.2021; vgl. IPC 10.2020) und einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise (IPC 10.2020; vgl. IOM 18.3.2021). Die Preise scheinen seit April 2020, nach Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, Durchsetzung von Anti-Preismanipulations-Regelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Lebensmittelimporte, wieder gesunken zu sein (IOM 18.3.2021). Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht lagen die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 weiterhin über dem Durchschnitt, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel auf den Quellmärkten zurückzuführen ist, insbesondere für Weizen in Kasachstan. Auf nationaler Ebene waren die Preise für Weizenmehl in Afghanistan von November bis Dezember 2020 stabil, allerdings auf einem Niveau, das 11% über dem des letzten Jahres und 27% über dem Dreijahresdurchschnitt lag (FEWS NET 1.2021; vgl. IOM 18.3.2021). Die Preise der meisten Grundnahrungsmittel sind von März bis April 2021 auf den wichtigsten Märkten in Afghanistan leicht gesunken oder stabil geblieben (FEWS NET 5.2021). Die afghanischen Grenzen sind alle offen, was den normalen Handel mit Lebensmitteln erleichtert. Insgesamt werden in den kommenden Monaten zwar keine signifikanten zusätzlichen negativen Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit erwartet, aber die anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Pandemie sind in Afghanistan immer noch sichtbar. Insbesondere wird erwartet, dass die unterdurchschnittliche Anzahl von Wanderarbeitern im Iran zu unterdurchschnittlichen Überweisungen für ländliche und städtische Haushalte beitragen wird (FEWS NET 1.2021; vgl. IOM 18.3.2021). Die Situation der Ernährungssicherheit hat sich im Vergleich zu den letzten drei Jahren und im Vergleich zu den Prognosen aus früheren Analysen relativ verbessert. Die Verbesserung ist auf die geringeren Auswirkungen von COVID-19 als ursprünglich prognostiziert und die Aufstockung der humanitären Nahrungsmittelhilfe als Reaktion auf die COVID-19-Krise zurückzuführen. Eine erhebliche Aufstockung der humanitären Hilfe seit dem letzten Quartal 2020 hat erheblich dazu beigetragen, die akute Ernährungsunsicherheit in der aktuellen Periode zu mildern, insbesondere in Provinzen, die in der vorherigen Analyse für die aktuelle Periode in Phase 4 prognostiziert wurden. Die Situation der Ernährungssicherheit ist jedoch nach wie vor besorgniserregend und wird sich in der mageren Jahreszeit 2021-2022 voraussichtlich weiter verschlechtern (IPC 22.4.2021) (LIB, S. 369 f).
Wohnungsmarkt- und Lebenserhaltungskosten
Die Miete für eine Wohnung im Stadtzentrum von Kabul liegt durchschnittlich zwischen 200 USD und 350 USD im Monat. Für einen angemessenen Lebensstandard muss zudem mit durchschnittlichen Lebenshaltungskosten von bis zu 350 USD pro Monat (Stand 2020) gerechnet werden (IOM 2020). Auch in Mazar-e Sharif stehen zahlreiche Wohnungen zur Miete zur Verfügung. Dies gilt auch für Rückkehrer. Die Höhe des Mietpreises für eine drei-Zimmer-Wohnung in Mazar-e Sharif schwankt unter anderem je nach Lage zwischen 100 USD und 300 USD monatlich (STDOK 21.7.2020). Einer anderen Quelle zufolge liegen die Kosten für eine einfache Wohnung in Afghanistan ohne Heizung oder Komfort, aber mit Zugang zu fließenden Wasser, sporadisch verfügbarer Elektrizität, einer einfachen Toilette und einer Möglichkeit zum Kochen zwischen 80 USD und 100 USD im Monat (Schwörer 30.11.2020). Es existieren auch andere Unterbringungsmöglichkeiten wie Hotels und Teehäuser, die etwa von Tagelöhnern zur Übernachtung genutzt werden (STDOK 21.7.2020). Auch eine Person, welche in Afghanistan über keine Familie oder Netzwerk verfügt, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden - vorausgesetzt die Person verfügt über die notwendigen finanziellen Mittel (Schwörer 30.11.2020; vgl. STDOK 21.7.2020). Private Immobilienunternehmen in den Städten informieren über Mietpreise für Häuser und Wohnungen (IOM 2020). Wohnungszuschüsse für sozial Benachteiligte oder Mittellose existieren in Afghanistan nicht (IOM 2020) (LIB, S. 362).
Allgemein lässt sich sagen, dass die COVID-19-Pandemie keine besonderen Auswirkungen auf die Miet- und Kaufpreise in Kabul hatte. Die Mieten sind nicht gestiegen und aufgrund der momentanen wirtschaftlichen Unsicherheit sind die Kaufpreise von Häusern eher gesunken (Schwörer 30.11.2020). Betriebs- und Nebenkosten wie Wasser und Strom kosten in der Regel nicht mehr als 40 USD pro Monat. Abhängig vom Verbrauch können die Kosten allerdings höher liegen. Die Kosten in der Innenstadt Kabuls sind höher. In ländlichen Gebieten kann man mit mind. 50 % weniger Kosten für die Miete und den Lebensunterhalt rechnen (IOM 2020) (LIB, S. 363).
Rückkehrende können bis zu zwei Wochen im IOM Empfangszentrum Spinzar Hotel unterkommen. Die Kosten dafür betragen 1.425 AFN pro Nacht (IOM 2020). Viele Rückkehrer wohnen nach ihrer Ankunft übergangsweise in Teehäusern. Diese waren während des Lockdowns in Afghanistan im März 2020 vorübergehend geschlossen, sind jedoch aktuell wieder geöffnet (Schwörer 30.11.2020) (LIB, S. 363). Bei Teehäusern handelt es sich um einfache, große Zimmer, wo Tee und einfaches, billiges Essen aufgetischt wird. Um wenig Geld kann man hier auch übernachten. Nach Quellen von Landinfo beträgt der Preis zwischen 30 und 100 Afghani (in etwa USD 0,4 bis 1,4) pro Nacht. In Kabul und den anderen großen Städten gibt es viele solcher Teehäuser und wenn ein derartiges Haus voll ist, lässt sich Kost und Logis leicht anderswo finden. Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Netzwerke Kapitel 4.2.). Die Mehrheit der städtischen Bevölkerung Afghanistans lebt in Slums oder in nichtadäquaten Wohnungen (EASO 2020, Kapitel 5).
Arbeitsmarkt
Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Herausforderung für Afghanistan (AA 16.7.2020; vgl. STDOK 10.2020). Der Arbeitsmarkt ist durch eine niedrige Erwerbsquote, hohe Arbeitslosigkeit sowie Unterbeschäftigung und prekäre Arbeitsverhältnisse charakterisiert (STDOK 10.2020; vgl. Ahmend 2018; CSO 2018). 80% der afghanischen Arbeitskräfte befinden sich in „prekären Beschäftigungsverhältnissen“, mit hoher Arbeitsplatzunsicherheit und schlechten Arbeitsbedingungen (AAN 3.12.2020; vgl.: CSO 2018). Schätzungsweise 16% der prekär Beschäftigten sind Tagelöhner, von denen sich eine unbestimmte Zahl an belebten Straßenkreuzungen der Stadt versammelt und nach Arbeit sucht, die, wenn sie gefunden wird, ihren Familien nur ein Leben von der Hand in den Mund ermöglicht (AAN 3.12.2020). Nach Angaben der Weltbank ist die Arbeitslosenquote innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung in den letzten Jahren zwar gesunken, bleibt aber auf hohem Niveau und dürfte wegen der COVID-19-Pandemie wieder steigen (AA 16.7.2020; vgl. IOM 18.3.2021) ebenso wie die Anzahl der prekär beschäftigten (AAN 3.12.2020), auch wenn es keine offiziellen Regierungsstatistiken über die Auswirkungen der Pandemie auf den Arbeitsmarkt gibt (IOM 23.9.2020) (LIB, S. 363 f).
Schätzungen zufolge sind rund 67% der Bevölkerung unter 25 Jahren alt (NSIA 1.6.2020; vgl STDOK 10.2020). Am Arbeitsmarkt müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt integrieren zu können (STDOK 4.2018). Somit treten jedes Jahr sehr viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, während die Beschäftigungsmöglichkeiten aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten können (WB 8.2018; vgl. STDOK 10.2020, CSO 2018). In Anbetracht von fehlendem Wirtschaftswachstum und eingeschränktem Budget für öffentliche Ausgaben stellt dies eine gewaltige Herausforderung dar. Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos - Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich (STDOK 4.2018; vgl. CSO 2018) (LIB, S. 364).
Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Es gibt einen großen Anteil an Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen, was auf das hohe Maß an Informalität des Arbeitsmarktes hinweist, welches mit der Bedeutung des Agrarsektors in der Wirtschaft einhergeht (CSO 8.6.2017). Im Rahmen einer Befragung an 15.012 Personen gaben rund 36% der befragten Erwerbstätigen an, in der Landwirtschaft tätig zu sein (AF 2018) (LIB, S. 364).
Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke ist die Arbeitssuche schwierig (STDOK 21.7.2020; vgl. STDOK 13.6.2019, STDOK 4.2018). Bei Ausschreibung einer Stelle in einem Unternehmen gibt es in der Regel eine sehr hohe Anzahl an Bewerbungen und durch persönliche Kontakte und Empfehlungen wird mitunter Einfluss und Druck auf den Arbeitgeber ausgeübt (STDOK 13.6.2019). Eine im Jahr 2012 von der ILO durchgeführte Studie über die Beschäftigungsverhältnisse in Afghanistan bestätigt, dass Arbeitgeber persönliche Beziehungen und Netzwerke höher bewerten als formelle Qualifikationen. Analysen der norwegischen COI-Einheit Landinfo zufolge gibt es keine Hinweise, dass sich die Situation seit 2012 geändert hätte (STDOK 4.2018) (LIB, S. 364).
In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (CSO 2018; vgl. IOM 18.3.2021). Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang - als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft. Für das Anmeldeverfahren sind das Ministerium für Arbeit und Soziale Belange und die NGO ACBAR zuständig; Rückkehrende sollten ihren Lebenslauf an eine der Organisationen weiterleiten, woraufhin sie informiert werden, inwiefern Arbeitsmöglichkeiten zum Bewerbungszeitpunkt zur Verfügung stehen. Unter Leitung des Bildungsministeriums bieten staatliche Schulen und private Berufsschulen Ausbildungen an (STDOK 4.2018) (LIB, S. 364 f).
Laut dem Afghanistan National Peace and Development Framework (ANPDF) hat die Regierung geplant, sich auf mehrere Sektoren zu konzentrieren, um Arbeitsplätze zu schaffen. Insbesondere konzentriert sie sich auf umfassende Programme zur Entwicklung der Landwirtschaft und des Privatsektors. Laut ANPDF steigt und fällt das afghanische BIP mit der Leistung der Landwirtschaft, die für mindestens 40% der Bevölkerung Arbeitsplätze schafft und einen bedeutenden Anteil der aktuellen Exporte ausmacht (IOM 18.3.2021; vgl. GoIRA 2021). Neben einer mangelnden Arbeitsplatzqualität ist auch die große Anzahl an Personen im wirtschaftlich abhängigen Alter (insbesondere Kinder) ein wesentlicher Armutsfaktor (CSO 2018; vgl. Haider/Kumar 2018): Die Notwendigkeit, das Einkommen von Erwerbstätigen mit einer großen Anzahl von Haushaltsmitgliedern zu teilen, führt oft dazu, dass die Armutsgrenze unterschritten wird, selbst wenn Arbeitsplätze eine angemessene Bezahlung bieten würden. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind (CSO 2018) (LIB, S. 365).
Während Frauen am afghanischen Arbeitsmarkt eine nur untergeordnete Rolle spielen, stellen sie jedoch im Agrasektor 33% und im Textilbereich 65% der Arbeitskräfte (STDOK 10.2020; vgl. CSO 2018). Ungelernte Arbeiter erwirtschaften ihr Einkommen als Tagelöhner, Straßenverkäufer oder durch das Betreiben kleiner Geschäfte. Der Durchschnittslohn für einen ungelernten Arbeiter ist unterschiedlich, für einen Tagelöhner beträgt er etwa 5 USD pro Tag (IOM 18.3.2021). Während der COVID-19-Pandemie ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftszweige durch die Sperr- und Restriktionsmaßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ beeinflusst wurden. Kleine und große Unternehmen boten in der Regel direkte Arbeitsmöglichkeiten für Tagelöhner (IOM 18.3.2021) (LIB, S. 365).
Wirtschaft und Versorgungslage in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e-Sharif
Kabul
Die Wirtschaft der Provinz Kabul hat einen weitgehend städtischen Charakter, wobei die wirtschaftlich aktive Bevölkerung in Beschäftigungsfeldern, wie dem Handel, Dienstleistungen oder einfachen Berufen tätig ist (CSO 8.6.2017). Kabul-Stadt hat einen hohen Anteil an Lohnarbeitern, während Selbstständigkeit im Vergleich zu den ländlichen Gebieten Afghanistans weniger verbreitet ist (USIP 10.4.2017). Zu den wichtigsten Arbeitgebern in Kabul gehört der Dienstleistungssektor, darunter auch die öffentliche Verwaltung (CSO 8.6.2017). Die Gehälter sind in Kabul im Allgemeinen höher als in anderen Provinzen, insbesondere für diejenigen, welche für ausländische Organisationen arbeiten. Kabul ist das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans und hat ein größeres Einzugsgebiet in den Provinzen Parwan, Logar und Wardak. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um landwirtschaftliche Produkte zu handeln oder als Wachen, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten (USIP 10.4.2017) (LIB, S. 366).
Ergebnisse einer Studie ergaben, dass Kabul unter den untersuchten Provinzen den geringsten Anteil an Arbeitsplätzen im Agrarsektor hat, dafür eine dynamischere Wirtschaft mit einem geringeren Anteil an Arbeitssuchenden, Selbständigen und Familienarbeitern. Die besten (Arbeits-) Möglichkeiten für Junge existieren in Kabul. Trotz der niedrigeren Erwerbsquoten ist der Frauenanteil in hoch qualifizierten Berufen in Kabul am größten (49,6 Prozent) (CSO 8.6.2019) (LIB, S. 367).
Es wird geschätzt, dass 32 % der Bevölkerung Kabuls Zugang zu fließendem Wasser haben, und nur 10 % der Einwohner erhalten trinkbares Wasser. Das unzureichende Wassersystem der Stadt zwang die Menschen, die es sich nicht leisten konnten, eigene Brunnen zu bohren. Viele arme Bewohner Kabuls sind auf öffentliche Wasserhähne angewiesen, die oft weit von ihren Häusern entfernt sind (EASO 2020, Kapitel 5).
Das Rahman Mina Hospital im Kabuler Bezirk Kart-e-Naw wurde renoviert. Das Krankenhaus versorgt rund 130.000 Personen in seiner Umgebung und verfügt über 30 Betten. Pro Tag wird es von rund 900 Patienten besucht. Das staatliche Jamhoriat Hospital in Kabul verfügt über eine Kapazität von 350 Betten (RA KBL 20.10.2020) Der größte Teil der Notfallmedizin in Kabul wird von der italienischen NGO Emergency angeboten. Emergency führt spezialisierte Notfallbehandlungen durch, welche die staatlichen allgemeinmedizinischen Einrichtungen nicht anbieten können und behandelt sowohl die lokale Bevölkerung, als auch Patienten, welche von außerhalb Kabuls kommen (Emergency o.D.; vgl. WHO 4.2018). Mit 20.10.2020 ist die NGO immer noch aktiv (RA KBL 20.10.2020) (LIB, S. 386).
Herat
Der Einschätzung einer in Afghanistan tätigen internationalen NGO zufolge gehört Herat zu den „bessergestellten“ und „sichereren Provinzen“ Afghanistans und weist historisch im Vergleich mit anderen Teilen des Landes wirtschaftlich und sicherheitstechnisch relativ gute Bedingungen auf (STDOK 13.6.2019). Aufgrund der sehr jungen Bevölkerung ist der Anteil der Personen im erwerbsfähigen Alter in Herat - wie auch in anderen afghanischen Städten - vergleichsweise klein. Erwerbstätige müssen also eine große Anzahl an von ihnen abhängigen Personen versorgen. Hinzu kommt, dass Herat als Hotspot für Tagelöhner gilt (AAN 3.12.2020) - die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung in Herat sind Tagelöhner, welche Schwankungen auf dem Arbeitsmarkt in besonderem Ausmaß ausgesetzt sind (USIP 2.4.2015). Die Verbreitung von Tagelohnarbeit ist zum Teil eine Folge der massiven Bevölkerungsbewegungen - insbesondere des Zustroms von Zehntausenden von Menschen, die vor allem durch den Konflikt zwischen 2012 und 2019 vertrieben wurden. Diese Bevölkerungsbewegungen, insbesondere von Binnenflüchtlingen, haben die Provinz Herat, vor allem ihre Hauptstadt Herat-Stadt, zu einem zunehmend schwierigen Lebens- und Arbeitsraum gemacht (AAN 3.12.2020) (LIB, S. 367).
Die Herater Wirtschaft bietet seit langem Arbeitsmöglichkeiten im Handel, darunter den Import und Export von Waren mit dem benachbarten Iran (GoIRA 2015; vgl. EASO 4.2019, WB/NSIA 9.2018), wie auch Bergbau und Produktion (EASO 4.2019). Die Industrie der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMUs) ist insbesondere im Handwerksbereich und in der Seiden- und Teppichproduktion gut entwickelt (GoIRA 2015; vgl. EASO 4.2019). Manche alten Handwerksberufe (Teppichknüpfereien, Glasbläsereien, die Herstellung von Stickereien) haben es geschafft zu überleben, während sich auch bestimmte moderne Industrien entwickelt haben (z.B. Lebensmittelverarbeitung und Verpackung). Die Arbeitsplätze sind allerdings von der volatilen Sicherheitslage bedroht (insbesondere Entführungen von Geschäftsleuten oder deren Angehörigen durch kriminelle Netzwerke, im stillen Einverständnis mit der Polizei). Als weitere Probleme werden Stromknappheit bzw. -ausfälle, Schwierigkeiten, mit iranischen oder anderen ausländischen Importen zu konkurrieren und eine steigende Arbeitslosigkeit genannt (EASO 4.2019) (LIB, S. 367).
Die Unterkunftssituation stellt sich in Herat, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Herat besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten. Von der Bevölkerung in Herat-Stadt haben 81 % Zugang zu verbesserten Wasserquellen, 90,7 % nutzen Strom als Lichtquelle und 92 % verfügen über verbesserte sanitäre Anlagen. Die Mehrheit der Einwohner in Herat-Stadt bezieht ihr Trinkwasser aus Leitungen oder Brunnen (EASO, Kapitel 5).
Das Jebrael-Gesundheitszentrum im Nordwesten der Stadt Herat bietet für rund 60.000 Menschen im dicht besiedelten Gebiet mit durchschnittlich 300 Besuchern pro Tag grundlegende Gesundheitsdienste an, von denen die meisten die Impf- und allgemeinen ambulanten Einheiten aufsuchen (WB 1.11.2016). Laut dem Provinzdirektor für Gesundheit in Herat verfügte die Stadt im April 2017 über 65 private Gesundheitskliniken (TN 7.4.2017), unter anderem das staatliche Herat Regional Hospital (RA KBL 20.10.2020). Die Anwohner von Herat beklagen jedoch, dass „viele private Gesundheitszentren die Gesundheitsversorgung in ein Unternehmen umgewandelt haben“. Auch wird die geringe Qualität der Medikamente, fehlende Behandlungsmöglichkeiten und die Fähigkeit der Ärzte, Krankheiten richtig zu diagnostizieren, kritisiert. Infolgedessen entscheidet sich eine Reihe von Heratis für eine Behandlung im Ausland (TN 7.4.2017) (LIB, S. 387).
Mazar-e Sharif
Mazar-e Sharif und die Provinz Balkh sind historisch betrachtet das wirtschaftliche und politische Zentrum der Nordregion Afghanistans. Mazar-e Sharif profitierte dabei von seiner geografischen Lage, einer vergleichsweise effektiven Verwaltung und einer relativ guten Sicherheitslage (STDOK 21.7.2020; vgl. GoIRA 2015). Mazar-e Sharif gilt als Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen, welche Kunsthandwerk und Teppiche anbieten (GoIRA 2015). Balkh ist landwirtschaftlich eine der produktivsten Regionen Afghanistans wobei Landwirtschaft und Viehzucht die Distrikte der Provinz dominieren (STDOK 21.7.2020; vgl. MIC 2018). Die Arbeitsmarktsituation ist auch in Mazar-e Sharif eine der größten Herausforderungen. Auf Stellenausschreibungen melden sich innerhalb einer kurzen Zeitspanne sehr viele Bewerber und ohne Kontakte ist es schwer, einen Arbeitsplatz zu finden. In den Distrikten ist die Anzahl der Arbeitslosen hoch. Die meisten Arbeitssuchenden begeben sich nach Mazar-e Sharif, um Arbeit zu finden (STDOK 21.7.2020). In Mazar-e Sharif stehen zahlreiche Wohnungen zur Verfügung. Auch eine Person, die in Mazar-e Sharif keine Familie hat, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden, wenn finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. Des Weiteren gibt es in Mazar-e Sharif eine Anzahl von Hotels sowie Gast- oder Teehäusern, welche unter anderem von Tagelöhnern zur Übernachtung benutzt werden (STDOK 21.7.2020) (LIB, S. 367 f).
Die meisten Menschen in Mazar-e Sharif haben Zugang zu verbesserten Trinkwasserquellen (76 %), in der Regel über Leitungen oder aus Brunnen. Rund 92 % der Haushalte verfügen über verbesserte sanitäre Einrichtungen (EASO 2020, Kapitel 5).
In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es zwischen 10 und 15 Krankenhäuser; dazu zählen sowohl private als auch öffentliche Anstalten. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Private Krankenhäuser sind sehr teuer; jede Nacht ist kostenpflichtig. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken; 20% dieser Gesundheitskliniken finanzieren sich selbst, während 80% öffentlich finanziert sind (STDOK 4.2018). Das Regionalkrankenhaus Balkh ist die tragende Säule medizinischer Dienstleistungen in Nordafghanistan; selbst aus angrenzenden Provinzen werden Patienten in dieses Krankenhaus überwiesen. Anstelle des durch einen Brand zerstörten Hauptgebäude des Regionalkrankenhauses Balkh im Zentrum von Mazar-e Sharif wurde ein neuer Gebäudekomplex mit 360 Betten, 21 Intensivpflegeplätzen, sieben Operationssälen und Einrichtungen für Notaufnahme, Röntgen- und Labordiagnostik sowie telemedizinischer Ausrüstung errichtet. Zusätzlich kommt dem Krankenhaus als akademisches Lehrkrankenhaus mit einer angeschlossenen Krankenpflege und Hebammenschule eine Schlüsselrolle bei der Ausbildung des medizinischen und pflegerischen Nachwuchses zu. Die Universität Freiburg (Deutschland) und die Mashhad Universität (Iran) sind Ausbildungspartner dieses Krankenhauses (STDOK 4.2018; vgl. RA KBL 20.10.2020). Balkh gehörte bei einer Erhebung von 2016/2017 zu den Provinzen mit dem höchsten Anteil an Frauen, welche einen Zugang zu Gesundheitseinrichtungen haben (CSO 2018) (LIB, S. 387).
Sozialbeihilfen, wohlfahrtsstaatliche Leistungen und Versicherungen
Afghanistan ist von einem Wohlfahrtsstaat weit entfernt und Afghanen rechnen in der Regel nicht mit Unterstützung durch öffentliche Behörden. Verschiedene Netzwerke ersetzen und kompensieren den schwachen staatlichen Apparat. Das gilt besonders für ländliche Gebiete, wo die Regierung in einigen Gebieten völlig abwesend ist. So sind zum Beispiel die Netzwerke - und nicht der Staat - von kritischer Bedeutung für die Sicherheit, den Schutz, die Unterstützung und Betreuung schutzbedürftiger Menschen (STDOK 4.2018). Der afghanische Staat gewährt seinen Bürgern kostenfreie Bildung und Gesundheitsleistungen, darüber hinaus sind keine Sozialleistungen vorgesehen (BAMF/IOM 2018; vgl. EC 18.5.2019). Es gibt kein Sozialversicherungs- oder Pensionssystem, von einigen Ausnahmen abgesehen (z.B. Armee und Polizei) (SEM 20.6.2017; vgl. BDA 18.12.2018). Es gibt kein öffentliches Krankenversicherungssystem. Ein eingeschränktes Angebot an privaten Krankenversicherungen existiert, jedoch sind die Gebühren für die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung zu hoch (BDA 18.12.2018). Das afghanische Arbeits- und Sozialministerium (MoLSAMD) bietet ad hoc Maßnahmen wie Lebensmittelhilfe für von Dürre betroffene Personen, jedoch keine groß angelegten Programme zur Bekämpfung von Armut (STDOK 13.6.2019) (LIB, S. 369).
Medizinische Versorgung
Seit 2002 hat sich die medizinische Versorgung in Afghanistan stark verbessert, dennoch bleibt sie im regionalen Vergleich zurück (AA 16.7.2020). Der Konflikt, COVID-19 und unzureichende Investitionen in die Infrastruktur treiben den Gesundheitsbedarf an und verhindern, dass die betroffenen Menschen rechtzeitig sichere, ausreichend ausgestattete Gesundheitseinrichtungen und -dienste erhalten (UNOCHA 19.12.2020; vgl. EASO 8.2020b, Schwörer 30.11.2020). Gleichzeitig haben der aktive Konflikt und gezielte Angriffe der Konfliktparteien auf Gesundheitseinrichtungen und -personal zur periodischen, verlängerten oder dauerhaften Schließung wichtiger Gesundheitseinrichtungen geführt, wovon in den ersten zehn Monaten des Jahres 2020 bis zu 1,2 Millionen Menschen in mindestens 17 Provinzen betroffen waren (UNOCHA 19.12.2020) (LIB, S. 372 f).
Die Lebenserwartung ist in Afghanistan von 50 Jahren im Jahr 1990 auf 64 im Jahr 2018 gestiegen (WB o.D.a.; vgl. WHO 4.2018). Im Jahr 2018 gab es 3.135 funktionierende medizinische Institutionen in ganz Afghanistan und 87% der Bevölkerung wohnten nicht weiter als zwei Stunden von einer solchen Einrichtung entfernt (WHO 12.2018). Vor allem in den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit kam es zu erheblichen Verbesserungen (AA 16.7.2020). Eine weitere Quelle spricht von 641 Krankenhäusern bzw. Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei 181 davon öffentliche und 460 private Krankenhäuser sind. Die genaue Anzahl der Gesundheitseinrichtungen in den einzelnen Provinzen ist nicht bekannt (RA KBL 20.10.2020) (LIB, S. 373).
90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan wird nicht direkt vom Staat erbracht, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die unter Vertrag genommen werden (AA 16.7.2020). Durch dieses Vertragssystem wird die primäre, sekundäre und tertiäre Gesundheitsversorgung bereitgestellt (MedCOI 5.2019). Primärversorgungsleistungen auf Gemeinde- oder Dorfebene, Sekundärversorgungsleistungen auf Distriktebene und Tertiärversorgungsleistungen auf Provinz- und nationaler Ebene (MedCOI 5.2019). Es mangelt jedoch an Investitionen in die medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während es in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken gibt, ist es für viele Afghanen schwierig, in ländlichen Gebieten eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen. Nach Berichten von UNOCHA haben rund 10 Millionen Menschen in Afghanistan nur eingeschränkten oder gar keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung (AA 16.7.2020). Laut einer Studie aus dem Jahr 2017, die den Zustand der öffentlichen Gesundheitseinrichtungen untersuchte, wiesen viele Gesundheitszentren im ganzen Land immer noch große Mängel auf, darunter bauliche und wartungsbedingte Probleme, schlechte Hygiene- und Sanitärbedingungen, wobei ein Viertel der Einrichtungen nicht über Toiletten verfügte, vier von zehn Gesundheitseinrichtungen kein Trinkwassersystem hatten und eine von fünf Einrichtungen keinen Strom hatte. Es gab nicht genügend Krankenwagen und viele Gesundheitseinrichtungen berichteten über einen Mangel an medizinischer Ausrüstung und Material (IWA 8.2017) (LIB, S. 373 f).
Insbesondere die COVID-19-Pandemie offenbarte die Unterfinanzierung und Unterentwicklung des öffentlichen Gesundheitssystems, das akute Defizite in der Prävention (Schutzausrüstung), Diagnose (Tests) und medizinischen Versorgung der Kranken aufweist. Die Verfügbarkeit und Qualität der Basisversorgung ist durch den Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenten (insbesondere Hebammen), den Mangel an Medikamenten, schlechtes Management und schlechte Infrastruktur eingeschränkt. Darüber hinaus herrscht in der Bevölkerung ein starkes Misstrauen gegenüber der staatlich finanzierten medizinischen Versorgung. Die Qualität der Kliniken ist sehr unterschiedlich. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen (AA 16.7.2020; vgl. WHO 8.2020). Neben dem öffentlichen Gesundheitssystem gibt es auch einen weitverbreiteten, aber teuren privaten Sektor. Trotz dieser höheren Kosten wird berichtet, dass über 60% der Afghanen private Gesundheitszentren als Hauptansprechpartner für Gesundheitsdienstleistungen nutzen. Vor allem Afghanen, die außerhalb der großen Städte leben, bevorzugen die private Gesundheitsversorgung wegen ihrer wahrgenommenen Qualität und Sicherheit, auch wenn die dort erhaltene Versorgung möglicherweise nicht von besserer Qualität ist als in öffentlichen Einrichtungen (MedCOI 5.2019). Die Kosten für Diagnose und Behandlung variieren dort sehr stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden (AA 16.7.2020), was den privaten Sektor sehr vielfältig macht mit einer uneinheitlichen Qualität der Leistungen, die oft unzureichend sind oder nicht dem Standard entsprechen (MedCOI 5.2019) (LIB, S. 374).
Die Sicherheitslage hat auch erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheitsdienste (UNAMA 2.2021; vgl. AA 16.7.2020, UNOCHA 7.3.2021, UNOCHA 19.12.2020, IKRK 17.6.2020). Trotz des erhöhten Drucks und Bedarfs an ihren Dienstleistungen werden Gesundheitseinrichtungen und -mitarbeiter weiterhin durch Angriffe sowie Einschüchterungsversuche von Konfliktparteien geschädigt, wodurch die Fähigkeit des Systems, den Bedarf zu decken, untergraben wird. Seit Beginn der Pandemie gab es direkte Angriffe auf Krankenhäuser, Entführungen von Mitarbeitern des Gesundheitswesens, Akte der Einschüchterung, Belästigung und Einmischung, Plünderungen von medizinischen Vorräten sowie indirekte Schäden durch den anhaltenden bewaffneten Konflikt (UNAMA 2.2021a; vgl. UNOCHA 19.12.2020; vgl. IKRK 17.6.2020). Das direkte Anvisieren von Gesundheitseinrichtungen und Personal führt nicht nur zu unmittelbaren Todesfällen und Verletzungen, sondern zwingt viele Krankenhäuser dazu, lebenswichtige medizinische Leistungen auszusetzen oder ganz zu schließen (MSF 3.2020; vgl. UNOCHA 7.3.2021). Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen bzw. Beschränkungen des Zugangs zu Gesundheitseinrichtungen setzen sich im Jahr 2021 fort (UNOCHA 7.3.2021). UNAMA verifizierte zwischen 1.1.2020 und 31.12.2020 90 Angriffe, welche die Gesundhietsversorgung beeinträchtigten. Ein Anstieg um 20% im Vergleich zu 2019. Diese Vorfälle umfassen sowohl direkte Angriffe oder Drohungen gegen Gesundheitseinrichtungen und Personal, als auch wahllose Angriffe, die zu zufälligen Schäden an Gesundheitseinrichtungen und geschütztem Personal führen. Ein Trend aus dem Jahr 2019 setzte sich 2020 fort, indem die Taliban eine Reihe von Gesundheitszentren bedrohten und medizinisches Personal entführten, um sie zu verschiedenen Handlungen zu zwingen, wie z. B. sich mit ihnen zu koordinieren, ihre Kämpfer medizinisch zu versorgen, Medikamente und Einrichtungen zu übergeben, Sondersteuern zu zahlen oder ihre Dienste an einen anderen Ort zu verlagern. Die Taliban bedrohten das Jahr 2020 hindurch Gesundheitszentren. So erzwangen die Taliban beispielsweise am 11.11.2020 in der Provinz Badakhshan die Schließung von 17 Gesundheitszentren in sechs Distrikten (UNAMA 2.2021a). In der Provinz Samangan sind seit dem 4.11.2020 22 Gesundheitseinrichtungen geschlossen geblieben, was die Bereitstellung von Gesundheits- und Ernährungsdiensten in der Provinz behindert (UNOCHA 7.3.2021) (LIB, S. 375).
Die COVID-19-Pandemie hat sich negativ auf die Bereitstellung und Nutzung grundlegender Gesundheitsdienste in Afghanistan ausgewirkt, und zwar aufgrund von COVID-19-bedingten Bewegungseinschränkungen, dem Mangel an medizinischem Material und persönlicher Schutzausrüstung sowie der Abneigung der Gemeinschaft, Gesundheitseinrichtungen aufzusuchen. Die Zahl der Krankenhauseinweisungen und Überweisungen ging von April bis Juni 2020 im Vergleich zum gleichen Zeitraum 2019 um fast 25 Prozent zurück, während die Zahl der chirurgischen Eingriffe laut WHO um etwa 33 Prozent sank. Darüber hinaus ging die Rate der Routineimpfungen für Frauen und Kinder unter zwei Jahren im Laufe des Jahres zurück. Infolgedessen geht die WHO davon aus, dass die Sterblichkeit durch behandelbare und durch Impfung vermeidbare Gesundheitszustände im Jahr 2021 ansteigen könnte (USAID 12.1.2021). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten mit Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan seit März 2020 Anzeichen und Symptome von COVID-19 (IOM 23.9.2020). Die Infektionen steigen weiter an und bis zum 17.3.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.3.2021; WHO 17.3.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.3.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.3.2021). Einige der Regional- und Provinzkrankenhäuser in den Großstädten wurden im Hinblick auf COVID-19 mit Test- und Quarantäneeinrichtungen ausgestattet. Menschen mit Anzeichen von COVID-19 werden getestet und die schwer Erkrankten im Krankenhaus in Behandlung genommen. Die Kapazität solcher Krankenhäuser ist jedoch aufgrund fehlender Ausrüstung begrenzt. In den anderen Provinzen schicken die Gesundheitszentren, die nicht über entsprechende Einrichtungen verfügen, die Testproben in die Hauptstadt und geben die Ergebnisse nach sechs bis zehn Tagen bekannt. Im Großteil der Krankenhäuser werden nur grundlegende Anweisungen und Maßnahmen empfohlen, es gibt keine zwingenden Vorschriften, und selbst die Infizierten erfahren nur grundlegende und normale Behandlung (RA KBL 20.10.2020) (LIB, S. 375 f).
Laut Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) waren 2020 bis zu drei Millionen Menschen durch die Schließung von Gesundheitseinrichtungen durch Konfliktparteien, vom Zugang zu grundlegenden Gesundheitsdienstleistungen abgeschnitten, oft in den am stärksten gefährdeten, konfliktbetroffenen Gebieten. Dies auch im Zusammenhang mit der COVID-19- Pandemie in Afghanistan, wo die in konfliktbetroffenen Gebieten lebende Bevölkerung eine geringere Wahrscheinlichkeit hatte, Tests und kritische, lebensrettende medizinische Behandlungen zu erhalten. Es ist damit zu rechnen, dass der Verlust von medizinischem Personal und die beschädigte medizinische Infrastruktur lang anhaltende Folgen für das Gesundheitssystem haben werden (UNAMA 2.2021a) (LIB, S. 378).
Eine begrenzte Anzahl von staatlichen Krankenhäusern in Afghanistan bietet kostenlose medizinische Versorgung an. Voraussetzung für die kostenlose Behandlung ist der Nachweis der afghanischen Staatsbürgerschaft durch einen Personalausweis oder eine Tazkira. Alle Bürger haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten (STDOK 4.2018). Allerdings gibt es manchmal einen Mangel an Medikamenten. Daher werden die Patienten an private Apotheken verwiesen, um verschiedene Medikamente selbst zu kaufen (IOM 2018), oder sie werden gebeten, für medizinische Leistungen, Labortests und stationäre Behandlungen zu zahlen. Medikamente können auf jedem afghanischen Markt gekauft werden, und die Preise variieren je nach Marke und Qualität des Produkts. Die Kosten für Medikamente in staatlichen Krankenhäusern unterscheiden sich von den lokalen Marktpreisen. Private Krankenhäuser befinden sich meist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar (STDOK 4.2018; vgl. AA 16.7.2020) und die medizinische Ausstattung ist oft veraltet oder nicht vorhanden. Es wird von schlechten hygienischen Bedingungen in öffentlichen Krankenhäusern berichtet (MedoCOI 5.2019) und von Ärzten, die nur wenige Stunden im Krankenhaus anwesend sind, weil sie ihre eigenen privaten Praxen haben (MedCOI 5.2019). Nach Daten aus dem Jahr 2017 waren 76 % der in Afghanistan getätigten Gesundheitsausgaben sogenannte „out-of-pocket“- Zahlungen der Patienten (WB n.d.b). Die Qualität und Kosten der Kliniken variiert stark, es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen. Eine Unterbringung von Patienten ist nur möglich, wenn sie durch Familienangehörige oder Bekannte mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln versorgt werden. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf (AA 16.7.2020). In den großen Städten und auf Provinzebene ist die medizinische Versorgung gewährleistet, aber auf Distrikt- und Dorfebene sind die Einrichtungen oft weniger gut ausgestattet und es kann schwierig sein, Spezialisten zu finden. In vielen Fällen arbeiten Krankenschwestern anstelle von Ärzten, um die Grundversorgung zu gewährleisten und komplizierte Fälle an Krankenhäuser in der Provinz zu überweisen. Operationen können in der Regel nur auf Provinzebene oder höher durchgeführt werden; auf Distriktebene sind nur Erste Hilfe und kleinere Operationen möglich. Dies gilt nicht für das ganze Land, allerdings können Distrikte mit guter Sicherheitslage meist mehr und bessere Leistungen anbieten als in unsicheren Gebieten (IOM 2018; vgl. BDA 18.12.2018). Die Haupthindernisse für den Zugang zur Gesundheitsversorgung in Afghanistan sind demnach die hohen Behandlungskosten, der Mangel an Ärztinnen, die großen Entfernungen zu den Gesundheitseinrichtungen und eine unzureichende Anzahl an medizinischem Personal in den ländlichen Gebieten, Korruption und Abwesenheit des Gesundheitspersonals, sowie Sicherheitsgründe (MedCOI 5.2019; vgl. EASO). In privaten Krankenhäusern ist die Ausstattung besser, es gibt mehr medizinisches Personal und die Ärzte sind erfahrener als in öffentlichen Einrichtungen, wobei das Hauptproblem die mangelnde Zugänglichkeit für den armen Teil der Bevölkerung ist (MedCOI 5.2019). Viele Staatsangehörige - die es sich leisten können - gehen zur medizinischen Behandlung ins Ausland nach Pakistan oder in die Türkei - auch für kleinere Eingriffe (AJ 25.5.2019; vgl. GeoTV o.J., MedCOI 5.2019, BDA 18.12.2018). In Pakistan zum Beispiel ist dies zumindest für die Mittelschicht vergleichsweise einfach und erschwinglich (BDA 18.12.2018) (LIB, S. 379 f).
Sowohl die Quantität als auch die Qualität von essentiellen Medikamenten sind eine große Herausforderung für das afghanische Gesundheitssystem. Da es keine nationale Regulierungsbehörde gibt, sind Medikamente, Impfstoffe, biologische Mittel, Labormittel und medizinische Geräte nicht ordnungsgemäß reguliert, was die Gesetzgebung und die Durchsetzung von Gesetzen fast unmöglich macht. Die Funktion der Regulierungsbehörde ist auf verschiedene Regierungsstellen aufgeteilt, darunter die Generaldirektion für pharmazeutische Angelegenheiten, das Labor für Qualitätskontrolle und die Abteilung für Gesundheitsgesetzgebung. Traditionelle Medizin ist weit verbreitet, da sie weniger teuer und leichter zugänglich ist (WHO 2016). Im Jahr 2017 startete das MoPH eine 12-wöchige Kampagne gegen gefälschte und minderwertige Medizin. Die Lizenzen von mehr als 900 lokalen und ausländischen pharmazeutischen Importunternehmen wurden ausgesetzt, während 100 Tonnen abgelaufene, gefälschte und minderwertige Medikamente in Apotheken beschlagnahmt wurden. Die Sicherheitslage beeinträchtigt die Lieferung und Verfügbarkeit von lebensrettenden Medikamenten zusätzlich durch die Unzugänglichkeit der Straßen (MedCOI 5.2019). Die Essential Medicines List of Afghanistan (EML) (MoPH 2014) enthält Medikamente, die für den Einsatz im BPHS und EPHS empfohlen werden. Laut einem UN-Bericht aus dem Jahr 2017 kann es jedoch aufgrund der unsicheren und unzugänglichen öffentlichen Straßen zu Engpässen bei Medikamenten und medizinischen Geräten kommen. Auf allen Ebenen des Gesundheitssystems kann es zu Engpässen bei lebensrettenden Medikamenten kommen, selbst in Überweisungskrankenhäusern (MedCOI 5.2019). Die Patienten müssen für alle Medikamente bezahlen, außer für Medikamente in der Primärversorgung, die in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen kostenlos sind. Für bestimmte Arten von Medikamenten ist ein Rezept erforderlich. Obwohl es in Afghanistan viele Apotheken gibt, sind Medikamente nur in städtischen Gebieten leicht zugänglich, da es dort viele private Apotheken gibt. In ländlichen Gebieten ist dies weniger der Fall (MedCOI 5.2019). Auf den afghanischen Märkten sind mittlerweile alle Arten von Medikamenten erhältlich, aber die Kosten variieren je nach Qualität, Firmennamen und Hersteller. Die Qualität dieser Medikamente ist oft gering; die Medikamente sind abgelaufen oder wurden unter schlechten Bedingungen transportiert (BAMF 2016) (LIB, S. 380).
Rückkehr
In den letzten zehn Jahren sind Millionen von Migranten und Flüchtlingen nach Afghanistan zurückgekehrt. Während der Großteil der Rückkehrer aus den Nachbarländern Iran und Pakistan kommt, sinken die Anerkennungsquoten für Afghanen im Asylbereich in der Europäischen Union und die Zahl derer die freiwillig, unterstützt und zwangsweise nach Afghanistan zurückkehren, nimmt zu (MMC 1.2019). Die schnelle Ausbreitung des COVID-19 Virus in Afghanistan hat starke Auswirkungen auf die Vulnerablen unter der afghanischen Bevölkerung, einschließlich der Rückkehrer, da sie nur begrenzten Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, insbesondere zur Gesundheitsversorgung, haben und zudem aufgrund der landesweiten Abriegelung Einkommens- und Existenzverluste hinnehmen müssen (IOM 7.5.2020). IOM (Internationale Organisation für Migration) verzeichnete im Jahr 2020 die bisher größte Rückkehr von undokumentierten afghanischen Migranten (MENAFN 15.2.2021). Von den mehr als 865.700 Afghanen, die im Jahr 2020 nach Afghanistan zurückkehrten, kamen etwa 859.000 aus dem Iran und schätzungsweise 6.700 aus Pakistan (USAID 12.1.2021; vgl. NH 26.1.2021). Im gesamten Jahr 2018 kehrten, im Vergleich dazu, aus den beiden Ländern insgesamt 805.850 Personen nach Afghanistan zurück (IOM 5.1.2019, vgl. AA 16.7.2020). Die freiwillige Rückkehr nach Afghanistan ist aktuell (Stand 19.3.2021) über den Luftweg möglich. Es gibt internationale Flüge nach Kabul, Mazar-e Sharif und Kandahar (IOM 18.3.2021; vgl. F 24 19.3.2021). Es sei darauf hingewiesen, dass diese Flugverbindungen unzuverlässig sind - in Zeiten einer Pandemie können Flüge gestrichen oder verschoben werden (IOM 18.3.2021). Seit 12.8.2020 ist der Grenzübergang Spin Boldak an der pakistanischen Grenze sieben Tage in der Woche für Fußgänger und Lastkraftwagen geöffnet (UNHCR 12.9.2020). Der pakistanische Grenzübergang in Torkham ist montags und dienstags für Rückkehrbewegungen nach Afghanistan und zusätzlich am Samstag für undokumentierte Rückkehrer und andere Fußgänger geöffnet (UNHCR 12.9.2020). Die Wiedervereinigung mit der Familie wird meist zu Beginn von Rückkehrern als positiv empfunden und ist von großer Wichtigkeit im Hinblick auf eine erfolgreiche Reintegration (MMC 1.2019; vgl. IOM KBL 30.4.2020, Reach 10.2017). Ohne familiäre Netzwerke kann es sehr schwer sein, sich selbst zu erhalten, da in Afghanistan vieles von sozialen Netzwerken abhängig ist. Eine Person ohne familiäres Netzwerk ist jedoch die Ausnahme und einige wenige Personen verfügen über keine Familienmitglieder in Afghanistan, da diese entweder in den Iran, nach Pakistan oder weiter nach Europa migrierten (IOM KBL 30.4.2020; vgl. Seefar 7.2018). Der Reintegrationsprozess der Rückkehrer ist oft durch einen schlechten psychosozialen Zustand charakterisiert. Viele Rückkehrer sind weniger selbsterhaltungsfähig als die meisten anderen Afghanen. Rückkehrerinnen sind von diesen Problemen im Besonderen betroffen (MMC 1.2019). Aufgrund der Sicherheitslage ist es Rückkehrern nicht immer möglich, in ihre Heimatorte zurückzukehren (VIDC 1.2021) (LIB, S. 390).
„Erfolglosen“ Rückkehrern aus Europa haftet oft das Stigma des „Versagens“ an. Wirtschaftlich befinden sich viele der Rückkehrer in einer schlechteren Situation als vor ihrer Flucht nach Europa (VIDC 1.2021; vgl. SFH 26.3.2021, Seefar 7.2018), was durch die aktuelle Situation im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie noch verschlimmert wird (VIDC 1.2021). Rückkehrer drückten ihr Bedauern und ihre Scham über die Rückkehr aus, die sie als eine vertane Chance betrachteten, bei der Geld und Zeit verschwendet wurden (Seefar 7.2018; vgl. SFH 26.3.2021, VIDC 1.2021, MMC 1.2019). Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer die Unterstützung erhalten, die sie benötigen und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen (STDOK 4.2018; vgl. STDOK 14.7.2020, IOM AUT 23.1.2020, VIDC 1.2021). Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Wegen der hohen Fluktuation im Land und der notwendigen Zeit der Hilfsorganisationen, sich darauf einzustellen, ist Hilfe nicht immer sofort dort verfügbar, wo Rückkehrer sich niederlassen. UNHCR beklagt zudem, dass sich viele Rückkehrer in Gebieten befinden, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind (AA 16.7.2020). Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich (VIDC 1.2021; vgl. IOM KBL 30.4.2020, MMC 1.2019, Reach 10.2017). Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk (STDOK 13.6.2019, IOM KBL 30.4.2020), auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert (STDOK 13.6.2019). Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z. B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kollegen, Mitstudierende etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse - auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind manche Rückkehrer auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (STDOK 4.2018; vgl. VIDC 1.2021) (LIB, S. 391).
Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen (AA 16.7.2020; vgl. SFH 26.3.2021). Dem deutschen Auswärtigen Amt sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden (AA 16.7.2020) und auch IOM Kabul sind keine solchen Vorkommnisse bekannt (IOM KBL 30.4.2020). Andere Quellen geben jedoch an, dass es zu tätlichen Angriffen auf Rückkehrer gekommen sein soll (STDOK 10.2020; vgl. (AA 16.7.2020; vgl. SFH 26.3.2021, Seefar 7.2018), wobei dies auch im Zusammenhang mit einem fehlenden Netzwerk vor Ort gesehen wird (Seefar 7.2018). UNHCR berichtet von Fällen zwangsrückgeführter Personen aus Europa, die von religiösen Extremisten bezichtigt werden, verwestlicht zu sein; viele werden der Spionage verdächtigt. Auch glaubt man, Rückkehrer aus Europa wären reich (STDOK 13.6.2019; vgl. SFH 26.3.2021, VIDC 1.2021) und sie würden die Gastgebergemeinschaft ausnutzen. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (STDOK 13.6.2019). Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder haben sie zusammen mit der gesamten Familie Afghanistan verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren. Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer/innen im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen (VIDC 1.2021; vgl. STDOK 13.6.2019, STDOK 4.2018). Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab (VIDC 1.2021; vgl. AA 16.7.2020, IOM KBL 30.4.2020, STDOK 10.2020). Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Fähigkeit der afghanischen Regierung, vulnerable Personen einschließlich Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran zu unterstützen, bleibt begrenzt und ist weiterhin von der Hilfe der internationalen Gemeinschaft abhängig (USDOS 30.3.2021). Moscheen unterstützen in der Regel nur besonders vulnerable Personen und für eine begrenzte Zeit. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch. Deshalb versuchen sie in der Regel, so bald wie möglich wieder in den Iran zurückzukehren (STDOK 13.6.2019). Viele afghanische Rückkehrer werden de facto IDPs, weil die Konfliktsituation sowie das Fehlen an gemeinschaftlichen Netzwerken sie daran hindert, in ihre Heimatorte zurückzukehren (UNOCHA 12.2018). Trotz offenem Werben der afghanischen Regierung für Rückkehr sind essenzielle Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheit in den grenznahen Provinzen nicht auf einen Massenzuzug vorbereitet (AAN 31.1.2018). Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbst gebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen (UNOCHA 12.2018). Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig (STDOK 4.2018). Rückkehrer/innen erhalten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z. B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Es gibt keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer (STDOK 4.2018; vgl. Asylos 8.2017) (LIB, S. 392 f).
Unterstützung von Rückkehrer/innen durch die afghanische Regierung
Neue politische Rahmenbedingungen für Rückkehrer und IDPs sehen bei der Reintegration unter anderem auch die individuelle finanzielle Unterstützung als einen Ansatz der „whole of community“ vor. Demnach sollen Unterstützungen nicht nur Einzelnen zugutekommen, sondern auch den Gemeinschaften, in denen sie sich niederlassen. Die Rahmenbedingungen sehen eine Grundstücksvergabe vor, jedoch gilt dieses System als anfällig für Korruption und Missmanagement. Es ist nicht bekannt, wie viele Rückkehrer aus Europa Grundstücke von der afghanischen Regierung erhalten haben und zu welchen Bedingungen (STDOK 4.2018). Die Regierung Afghanistans bemüht sich gemeinsam mit internationalen Unterstützern, Land an Rückkehrer zu vergeben. Gemäß dem 2005 verabschiedeten Land Allocation Scheme (LAS) sollten Rückkehrer und IDPs Baugrundstücke erhalten. Die bedürftigsten Fälle sollten prioritär behandelt werden (Kandiwal 9.2018; vgl. UNHCR 3.2020). Jedoch fanden mehrere Studien Probleme bezüglich Korruption und fehlender Transparenz im Vergabeprozess (Kandiwal 9.2018; vgl. UNAMA 3.2015, AAN 29.3.2016, WB/UNHCR 20.9.2017). Um den Prozess der Landzuweisung zu beginnen, müssen die Rückkehrer einen Antrag in ihrer Heimatprovinz stellen. Wenn dort kein staatliches Land zur Vergabe zur Verfügung steht, muss der Antrag in einer Nachbarprovinz gestellt werden. Danach muss bewiesen werden, dass der Antragsteller bzw. die nächste Familie tatsächlich kein Land besitzt. Dies geschieht aufgrund persönlicher Einschätzung eines Verbindungsmannes und nicht aufgrund von Dokumenten. Hier ist Korruption ein Problem. Je einflussreicher ein Antragsteller ist, desto schneller bekommt er Land zugewiesen (Kandiwal 9.2018). Des Weiteren wurde ein fehlender Zugang zu Infrastruktur und Dienstleistungen, wie auch eine weite Entfernung der Parzellen von Erwerbsmöglichkeiten kritisiert. IDPs und Rückkehrer ohne Dokumente sind von der Vergabe von Land ausgeschlossen (IDMC/NRC 2.2014; vgl. Kandiwal 9.2018). Laut einem Bericht von Medico International und der Afghanistan Human Rights and Democracy Organization (AHRDO) vom November 2019 hat die afghanische Regierung nichts unternommen, um die Missstände der aus Europa nach Afghanistan rückgeführten Personen zu beseitigen. Es wird berichtet, dass Beamte einige der Rückgeführten am Flughafen schikaniert hätten (SFH 26.3.2021; vgl. AHRDO 11.2019) oder die Ausstellung einer Tazkira verweigert wurde, was mit dem Aufenthalt in Europa begründet wurde (SFH 26.3.2021). Berichten zufolge gibt es sehr wenig Sympathie für Rückkehrer. Dies äussere sich oft in Unhöflichkeit und Beleidigungen seitens der Behörden, aber auch in der mangelnden Bereitschaft, auf die Ansprüche oder Anliegen der Rückkehrenden einzugehen (SFH 26.3.2021; vgl. Asylos 8.2017). Die afghanische Regierung hat 2017 mit der Umsetzung des Aktionsplans für Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge begonnen. Ein neues, transparenteres Verfahren zur Landvergabe an Rückkehrer läuft als Pilotvorhaben an, kann aber noch nicht flächendeckend umgesetzt werden. Erste Landstücke wurden identifiziert, die Registrierung von Begünstigten hat begonnen (AA 16.7.2020). (LIB, S. 393).
Die wechselseitige Verpflichtung, einander innerhalb der Großfamilie zu helfen und zu unterstützen, ist stark, und die Traditionen, Verantwortung für Menschen innerhalb der Gruppe zu übernehmen, sind tief verwurzelt. Je enger die Verwandtschaft, desto stärker ist die Pflicht zu helfen und zu unterstützen. Mehrere Menschen, mit denen Landinfo in Kabul sprach, äußerten die Ansicht, dass es unmöglich sei, Menschen aus dem engsten Umfeld wie Brüder, die Kinder des Bruders des Vaters etc. zurückzuweisen, es sei denn, es besteht ein schwerwiegender Konflikt innerhalb der Familie. Man könne sich unmöglich vorstellen, dass ein Afghane kein Dach über dem Kopf anbietet, wenn die Alternative wäre, dass ein enges Familienmitglied auf der Straße stünde. Es ist kulturell inakzeptabel, eine Person, die um Zuflucht ersucht, abzuweisen, und das gilt insbesondere für enge Verwandte. Die Dauer des Aufenthaltes ist von den Mitteln der Familie abhängig. Die Pflichten gegenüber der Großfamilie gelten für alle Afghanen ungeachtet der ethnischen Zugehörigkeit, unter Paschtunen sind sie aber wahrscheinlich am stärksten ausgeprägt (EASO Netzwerke Kapitel 1.1.1.).
Nach Einschätzung von Landinfo verliert der Faktor geografische Nähe durch technologische Entwicklungen an Wichtigkeit für den Zugriff auf Netzwerke. Wie schon erwähnt, ist der Besitz von Mobiltelefonen "universell" geworden und digitale Kommunikation wird eine zunehmende Selbstverständlichkeit, vor allem in den Städten (EASO Netzwerke, Kapitel 4.3.).
Der Finanzsektor in Afghanistan entwickelt sich und es gibt mittlerweile mehrere Banken. Auch ist es relativ einfach, ein Bankkonto zu eröffnen. Außerdem kann über das sogenannte Hawala-System Geld einfach und kostengünstig weltweit transferiert werden (LIB, S. 371 f).
Unterstützung durch IOM
Die internationale Organisation für Migration (IOM - International Organization for Migration) unterstützt mit diversen Projekten die freiwillige Rückkehr und Reintegration von Rückkehrern nach Afghanistan. In Bezug auf die Art und Höhe der Unterstützungsleistung muss zwischen unterstützter freiwilliger und zwangsweiser Rückkehr unterschieden werden (STDOK 14.7.2020; vgl. IOM AUT 23.1.2020, STDOK 13.6.2019, STDOK 4.2018). Im Rahmen der unterstützten freiwilligen Rückkehr kann Unterstützung entweder nur für die Rückkehr (Reise) oder nach erfolgreicher Aufnahme in ein Reintegrationsprojekt auch bei der Wiedereingliederung geleistet werden (STDOK 14.7.2020; vgl. IOM AUT 23.1.2020) (LIB, S. 398).
IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Informationen von IOM zufolge sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 18.3.2021 auch weiterhin in Afghanistan operativ, können aber aufgrund der COVID-19-Pandemie kurzfristigen Änderungen unterworfen sein (IOM 18.3.2021) (LIB, S. 398).
Mit 1.1.2020 startete das durch den Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) der Europäischen Union und das österreichische Bundesministerium für Inneres kofinanzierte Reintegrationsprojekt RESTART III. Im Unterschied zu den beiden Vorprojekten RESTART und RESTART II steht dieses Projekt ausschließlich Rückkehrern aus Afghanistan zur Verfügung. RESTART III ist wie das Vorgängerprojekt auf drei Jahre, nämlich bis 31.12.2022 ausgerichtet und verfügt über eine Kapazität von 400 Personen. Für alle diese 400 Personen ist neben Beratung und Information - in Österreich sowie in Afghanistan - sowohl die Bargeldunterstützung in der Höhe von 500 Euro wie auch die Unterstützung durch Sachleistungen in der Höhe von 2.800 Euro geplant (STDOK 14.7.2020; vgl. IOM AUT 23.1.2020, VIDC 1.2021). Die Teilnahme am Reintegrationsprojekt von IOM ist an einige (organisatorische) Voraussetzungen gebunden. So stellen Interessenten an einer unterstützten freiwilligen Rückkehr zunächst einen entsprechenden Antrag bei einer der österreichischen Rückkehrberatungseinrichtungen - dem VMÖ (Verein Menschenrechte Österreich) oder der Caritas bzw. in Kärnten auch beim Amt der Kärntner Landesregierung. Die jeweilige Rückkehrberatungsorganisation prüft dann basierend auf einem Kriterienkatalog des Innenministeriums, ob die Anforderungen für die Teilnahme durch die Antragsteller erfüllt werden. Für Reintegrationsprojekte ist durch das Innenministerium festgelegt, dass nur Personen an dem Projekt teilnehmen können, die einen dreimonatigen Aufenthalt in Österreich vorweisen können. Es wird hier jedoch auf mögliche Ausnahmen hingewiesen, wie zum Beispiel bei Personen, die im Rahmen der Dublin-Regelung nach Österreich rücküberstellt werden. Des weiteren sieht die Regelung des Innenministeriums vor, dass nur eine Person pro Kernfamilie die Unterstützungsleistungen erhalten kann (STDOK 14.7.2020; vgl. IOM AUT 23.1.2020). Im Anschluss unterstützt die jeweilige Rückkehrberatungseinrichtung den Interessenten beim Antrag auf Kostenübernahme für die freiwillige Rückkehr. Wenn die Teilnahme an dem Reintegrationsprojekt ebenso gewünscht ist, so ist ein zusätzlicher Antrag auf Bewilligung des Reintegrationsprojektes zu stellen. Kommt es in weiterer Folge zu einer Zustimmung des Antrags seitens des Innenministeriums wird ab diesem Zeitpunkt IOM involviert (STDOK 14.7.2020; vgl. IOM AUT 23.1.2020). Es besteht auch die Möglichkeit, jederzeit einen Antrag auf freiwillige Rückkehr zu stellen, auch ohne Teilnahme an dem Projekt. Eine Mitarbeiterin von IOM Österreich weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es hier keine Trennung zwischen freiwilligen und unterstützten Rückkehrern gibt. Grundsätzlich spricht man von unterstützter freiwilliger Rückkehr und zusätzlich gibt es die Reintegrationsunterstützung bei Projektteilnahme (IOM AUT 23.1.2020; vgl. STDOK 14.7.2020). Neben Beratung und Vorabinformationen ist IOM für die Flugbuchung verantwortlich und unterstützt die Projektteilnehmer auch bei den Abflugmodalitäten. Flüge gehen in der Regel nach Kabul, können auf Wunsch jedoch auch direkt nach Mazar-e Sharif gehen [Anmerkung.: Unter Umgehung von Kabul]. Die Reise nach Herat beispielsweise findet in der Regel auf dem Luftweg über Kabul statt (IOM KBL 26.11.2018). Die österreichischen Mitarbeiter unterstützen die Projektteilnehmer beim Einchecken, der Sicherheitskontrolle, der Passkontrolle und begleiten sie bis zum Abflug-Terminal (STDOK 14.7.2020). Teilnehmer am Reintegrationsprojekt RESTART III von IOM landen in der Regel (zunächst) in der afghanischen Hauptstadt Kabul. Dort werden sie von den örtlichen IOM-Mitarbeitern direkt nach Verlassen des Flugzeuges empfangen und bei den Ein- bzw. Weiterreiseformalitäten unterstützt. An den Flughäfen anderer Städte wie Mazar-e-Sharif, Kandahar oder Herat gibt es keine derartige Ausnahmeregelung (STDOK 14.7.2020; vgl. IOM KBL 26.11.2018; IOM AUT 23.1.2020). RESTART sowie die Folgeprojekte RESTART II und RESTART III unterscheiden sich nur minimal voneinander. So ist beispielsweise die Höhe der Barzahlung und auch die Unterstützung durch Sachleistungen gleich geblieben, wobei im ersten RESTART Projekt und in der ersten Hälfte von RESTART II nur 2.500 Euro in Sachleistung investiert wurden und die restlichen 300 Euro für Wohnbedürfnisse, Kinderbetreuung oder zusätzlich für Bildung zur Verfügung standen. Dies wurde im Verlauf von RESTART II geändert und es ist nun auch in RESTART III der Fall, sodass die gesamte Summe für eine einkommensgenerierende Tätigkeit verwendet werden kann (STDOK 14.7.2020; vgl. IOM AUT 27.3.2020) (LIB, S. 398 f).
Derzeit kann die Unterstützung durch IOM am Flughafen in Kabul, im IOM-Hauptbüro in Kabul sowie in den sieben Unterbüros (einschließlich Herat und Mazar-e Sharif) geleistet werden. Das IOM-Personal befindet sich teilweise im Homeoffice, aber die Rückkehrer können die IOM-Büros aufsuchen. Dies kann sich jedoch je nach Entwicklung von COVID-19 jederzeit ändern. Die Rückkehrer werden immer noch ermutigt, ihre Besuche in den IOM-Büros zu minimieren und stattdessen Beratung über das Telefon oder andere verfügbare Online-Tools zu suchen. Die Unterstützung bei der Reintegration wurde an die bestehenden Einschränkungen angepasst, z.B. wird virtuelle Beratung sowohl in Österreich als auch in Afghanistan angeboten, die Rückerstattung von Sachleistungen ist möglich, die Teilnehmer werden ermutigt, ein Bankkonto zu eröffnen, um Bargeld und Reintegrations-Sachleistungen zu erleichtern (IOM 18.3.2021). Zur raschen Eröffnung eines Bankkontos muss ein gültiges Identitätsdokument (z.B.: Tazkira) vorgelegt und verschiedene Formulare (je nach Bank oder Vertretern der jeweiligen Communities) ausgefüllt und unterzeichnet werden. Überweisungen innerhalb derselben Bank können in wenigen Minuten durchgeführt werden. Bei anderen Banken kann die Überweisung mehrere Tage in Anspruch nehmen. Ein Bankkonto kann von allen Personen, auch jenen, die keine persönlichen Kontakte in Afghanistan haben, eröffnet werden (IOM AUT 10.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden bereits 105 Teilnahmen im Rahmen des Restart III Projektes akzeptiert und 86 Personen sind im Zuge des Projektes freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021). Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmern, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (IOM AUT 18.5.2020). Bis zum 18.3.2021 haben 58 RESTART III-Projektteilnehmer ihre Reintegrationspläne und die dazugehörigen Unterlagen bei IOM eingereicht und 42 Rückkehrer haben zumindest einen Teil ihrer Wiedereingliederungshilfe (die, wie bereits erwähnt, üblicherweise in zwei Tranchen geleistet wird) bereits erhalten (IOM 18.3.2021). Mit Stand 25.5.2021 ist das Projekt Restart III weiter aktiv und Teilnehmer melden sich. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der angekündigte Abzug der internationalen Truppen keinerlei Auswirkungen auf dieses Projekt (IOM 25.5.2021) (LIB, S. 400).
IOM-RADA
IOM hat mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Union das Projekt „RADA“ (Reintegration Assistance and Development in Afghanistan) entwickelt (STDOK 14.7.2020; vgl. IOM 5.11.2019). Innerhalb dieses Projektes gibt es eine kleine Komponente (PARA - Post Arrival Reception Assistance), die sich speziell an zwangsweise rückgeführte Personen wendet. Der Leistungsumfang ist stark limitiert und nicht mit einer Reintegrationsunterstützung vergleichbar. Die Unterstützung umfasst einen kurzen medical check (unmittelbare medizinische Bedürfnisse) und die Auszahlung einer Bargeldunterstützung in der Höhe von 12.500 Afghani (rund 140 EUR) zur Deckung unmittelbarer, dringender Bedürfnisse (temporäre Unterkunft, Weiterreise, etc.). Diese ist jedoch nur für Rückkehrer zugänglich, die über den internationalen Flughafen von Kabul reisen (STDOK 14.7.2020; vgl. IOM AUT 23.1.2020, IOM 18.3.2021) (LIB, S. 400).
Dokumente
Das Personenstands- und Beurkundungswesen in Afghanistan weist gravierende Mängel auf. Von der inhaltlichen Richtigkeit formell echter Urkunden kann nicht in jedem Fall ausgegangen werden. Personenstandsurkunden werden oft erst viele Jahre später, ohne adäquaten Nachweis und sehr häufig auf Basis von Aussagen mitgebrachter Zeugen, nachträglich ausgestellt. Gefälligkeitsbescheinigungen und/oder Gefälligkeitsaussagen kommen sehr häufig vor (AA 16.7.2020). Sämtliche Urkunden in Afghanistan sind problemlos gegen finanzielle Zuwendungen oder aus Gefälligkeit erhältlich (ÖB 28.11.2018; vgl. AG DFAT 27.6.2019) (LIB, S. 401). Des Weiteren kommen verfahrensangepasste Dokumente häufig vor. Im Visumverfahren werden teilweise gefälschte Einladungen oder Arbeitsbescheinigungen vorgelegt. Medienberichten zufolge sollen insbesondere seit den Parlamentswahlen 2018 zahlreiche gefälschte Tazkira (nationale Personalausweise) im Rahmen der Wählerregistrierung in Umlauf sein (AA 16.7.2020). Personenstands- und weitere von Gerichten ausgestellte Urkunden werden zentral vom Afghan State Printing House (SUKUK) ausgestellt (ÖB 28.11.2018) (LIB, S. 401 f).
Auf Grundlage bestimmter Informationen können echte Dokumente ausgestellt werden. Dafür notwendige unterstützende Formen der Dokumentation wie etwa Schul-, Studien- oder Bankunterlagen können leicht gefälscht werden. Dieser Faktor stellt sich besonders problematisch dar, wenn es sich bei dem primären Dokument um eine Tazkira handelt, welches zur Erlangung anderer Formen der Identifizierung verwendet wird. Es besteht ein Risiko, dass echte, aber betrügerisch erworbene Tazkira zur Erlangung von Reisepässen verwendet werden (AG DFAT 27.6.2019). Die Vertretung der Bundesrepublik Deutschland hat das Legalisationsverfahren von öffentlichen Urkunden aus Afghanistan wegen der fehlenden Urkundensicherheit eingestellt (DVA 8.1.2019) (LIB, S. 402).
Tazkira und Reisepass
Eine Tazkira wird nur afghanischen Staatsangehörigen nach Registrierung und dadurch erfolgtem Nachweis der Abstammung von einem Afghanen ausgestellt. In der Regel erfolgt der Nachweis der Abstammung durch die Vorlage der Tazkira eines Verwandten 1. Grades oder durch Zeugenerklärungen in Afghanistan (AA 16.7.2020). Laut einer Quelle können Frauen Tazkira und Pässe für sich und ihre Kinder ohne die Anwesenheit eines männlichen Zeugen beantragen (RA KBL 9.5.2018), allerdings ist dies vor allem in den Distrikten nicht sehr verbreitet und entspricht laut einer anderen Quelle nicht der dominanten Kultur. Vielmehr sollten Frauen bei Behördengängen von einem engen männlichen Verwandten begleitet werden (STDOK 21.7.2020). In einem Bericht der afghanischen Regierung vom April 2019 über die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention findet sich die Information, dass für die Ausstellung einer Tazkira die Zeugenaussagen von zwei Personen nötig sind, die Inhaber von einer Tazkira sein müssen. Darüber hinaus muss die Identität des Antragstellers von lokalen Behörden bestätigt werden (ACCORD 15.6.2020). Eine andere Quelle weist darauf hin, dass man bei Beantragung einer Tazkira eine Geburtsurkunde vorweisen muss, dass allerdings die Mehrheit der Afghanen noch immer nicht im Besitz einer solchen ist. Wenn keine Geburtsurkunde vorgewiesen werden kann, ist es erforderlich, die Tazkira eines männlichen Familienmitglieds väterlicherseits (Vater, Bruder, Onkel oder Cousin) vorzuweisen (LI 22.5.2019; vgl. ACCORD 15.6.2020). Will jemand sich beispielsweise in Kabul eine Tazkira ausstellen lassen und kann seine Identität nicht beweisen, so muss diese Person in das Heimatgebiet ihres Vaters oder Großvaters zurückkehren. Dort kann versucht werden, einen Identitätsnachweis vonseiten des lokalen Dorfvorstehers zu erhalten. Dieser kann dann bei den örtlichen Behörden eingereicht werden, die auf dessen Grundlage eine Tazkira ausstellen (ACCORD 15.6.2020). Kinder unter sieben Jahren sind von der Pflicht befreit, persönlich zu erscheinen, um sich eine Tazkira ausstellen zu lassen. Eine Geburtsurkunde wird als Nachweis akzeptiert. Sollte eine solche nicht vorhanden sein, sind zwei Zeugen erforderlich. Bis das Kind 18 Jahre alt ist, ist für die Ausstellung der Tazkira die Zustimmung des Vaters erforderlich (ACCORD 15.6.2020) (LIB, S. 401 f).
In der Tazkira sind Informationen zu Vater und Großvater, jedoch nicht zur Mutter enthalten. Erst seit ca. 2014 gibt es die Möglichkeit, eine Birth Registration Card zu beantragen, in der ein konkretes Geburtsdatum und die Mutter eines Kindes genannt wird. Diese kann aber auch jederzeit nachträglich für Personen ausgestellt werden, die vor 2014 geboren wurden. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Ausstellung daher ohne weitere Prüfung vorgenommen wird (AA 16.7.2020) (LIB, S. 403).
Das afghanische Bevölkerungsgesetz von 2014 beinhaltet u.a. Regelungen zur Bürgerregistrierung. Gemäß Artikel 9 des Gesetzes sollen Tazkira zum Zwecke des Identitätsnachweises und der Bevölkerungsregistrierung ausgestellt werden (NLB/NA 2014). Eine Tazkira wird benötigt, um sich als Wähler registrieren zu lassen. Erstmals in der Geschichte des Landes wurden für die Parlamentswahlen 2018 wahlberechtigte Bürger für ein bestimmtes Wahllokal registriert. Die Bestätigung der Registrierung als Wähler, die auf der Tazkira angebracht wird, beinhaltet Informationen zum Wohnort (Provinz und Distrikt) sowie zum Wahllokal (AAN 27.5.2018) (LIB, S. 403).
Tazkira können sowohl in der Hauptstadt Kabul als auch dem jeweiligen Geburtsort in Afghanistan, nicht jedoch von afghanischen Auslandsvertretungen ausgestellt werden, sodass es vorkommen kann, dass eine Person mehrere echte Tazkira mit unterschiedlichen Daten besitzt (AA 16.7.2020). Tazkira können zwar nicht von afghanischen Auslandsvertretungen ausgestellt, jedoch über eine afghanische Auslandsvertretung beim afghanischen Innenministerium beantragt werden (AA 16.7.2020; vgl. AFB BER 22.10.2018). Der Antragsteller muss in diesem Fall im nächstgelegenen afghanischen Konsulat einen Termin vereinbaren und eine Kopie der Tazkira von Vater oder Geschwistern, sowie ein ausgefülltes und unterschriebenes Antragsformular vorlegen. Das Konsulat schickt einen Scan des Formulars an die Abteilung für Bevölkerungsentwicklung in Afghanistan. Das Original des Antragsformulars muss vom Antragsteller nach Afghanistan geschickt und von einem Vertreter persönlich bei der Abteilung für Bevölkerungsstatistik eingereicht werden. Nach einem internen Prozess in der Abteilung für Bevölkerungsstatistik wird die Tazkira innerhalb von 1-3 Monaten ausgestellt und dem Vertreter übergeben. Dieser kann die Tazkira dann dem Antragsteller zusenden (RA KBL 12.10.2020a; vgl. AFB BER 22.10.2018) (LIB, S. 403).
In Österreich ist die Beantragung einer Tazkira über das Konsulat der afghanischen Botschaft in Wien möglich. Dort stehen Videoanleitungen in Dari zur Antragstellung zur Verfügung. Auf der Internetseite wird zudem auf Informationsblätter hingewiesen, die im Konsulat aufliegen würden (AFB WIE o.D.; vgl. ACCORD 28.5.2021). Ein Mitarbeiter des Konsulats der afghanischen Botschaft in Wien gab im Mai 2021 an, dass bei der Antragstellung die Tazkira eines männlichen Verwandten aus der väterlichen Linie vorgelegt werden müsse (ACCORD 28.5.2021). Die Internetseiten der afghanischen Botschaften in Berlin, London und Oslo bieten einen englischsprachigen Überblick über die erforderlichen Unterlagen für den Tazkira-Antrag aus dem Ausland. Die Informationen hinsichtlich der Anforderungen zur Beantragung einer Tazkira aus dem Ausland stimmen darin überein, dass zur Beantragung die Tazkira eines nahen Angehörigen vorgelegt werden muss (ACCORD 28.5.2021; vgl. AFB BER o.D.; AFB LON o.D.; AFB OSL o.D.) (LIB, S. 403).
Eintragungen in der Tazkira sind oft ungenau. Geburtsdaten werden häufig lediglich in Form von „Alter im Jahr der Beantragung“, z. B. „17 Jahre im Jahr 20xx“ erfasst, genauere Geburtsdaten werden selten erfasst und wenn, dann meist geschätzt (AA 2.9.2019). Insgesamt sind in Afghanistan sechs Tazkira-Varianten im Umlauf (AAN 22.2.2018). Es gibt keine einheitlichen Druckverfahren oder Sicherheitsmerkmale für die Tazkira in A4-Format. Im Februar 2018 wurde die e-Tazkira (elektronischer Personalausweis) mit der symbolischen Beantragung u.a. durch Präsident Ghani gestartet (AAN 22.2.2018). Seit 3.5.2018 werden e-Tazkira (auch electronic Tazkira) in Form einer Chipkarte ausgestellt, die Einführung läuft jedoch nur sehr schleppend (AA 16.7.2020). Im September 2020 verabschiedete die Regierung ein Gesetz, das die Aufnahme des Namens der Mutter in die Tazkira erlaubt (HRW 13.1.2021; vgl. TN 2.9.2020). Die Vorlage einer Tazkira ist Voraussetzung für die Ausstellung eines Reisepasses. Seit Ausstellung maschinenlesbarer Reisepässe im Jahr 2014 muss bei Passbeantragung ein Familienname bestimmt werden. Die Bestimmung erfolgt ohne rechtliche Grundlage und ohne Dokumentation. Die Angaben, insbesondere Namen und Geburtsdatum, in Tazkira und Reisepass einer Person stimmen daher häufig nicht miteinander überein (AA 16.7.2020). Alle afghanischen Botschaften und Abteilungen der Generalkonsulate Afghanistans sind für die Ausstellung von Reisepässen für alle im Ausland lebenden afghanischen Staatsbürger zuständig. In Österreich werden beispielsweise neben einer afghanische Tazkira, eine gültige Aufenthaltsgenehmigung, eine Aufenthaltsmeldung, vier Passfotos im Format 4x5cm und die Zahlung einer Gebühr zur Ausstellung eines afghanischen Reisepasses benötigt (AFB WIE 22.6.2020) (LIB, S. 404).
Entwicklung der COVID-19-Pandemie in Afghanistan
Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19- Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; vgl. IOM 18.3.2021) (LIB, S. 13).
Die WHO äußerte ihre Besorgnis über die Gefahr der Verbreitung mutierter Viren in Afghanistan. In Pakistan ist bereits ein deutlicher Anstieg der Infektionen mit einer neuen Variante, die potenziell ansteckender ist und die jüngere Bevölkerung trifft, festgestellt worden. Das afghanische Gesundheitsministerium bereite sich auf eine potenzielle dritte Welle vor. Die Überwachung an der Grenze soll ausgeweitet und Tests verbessert werden. Angesichts weiterer Berichte über unzureichende Testkapazitäten im Land bleibt die Wirkung der geplanten Maßnahmen abzuwarten (BAMF 29.3.2021). Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. TG 25.5.2021, DW 21.5.2021, UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Woche nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3,6,2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die (offiziellen) Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Mit Stand 3.6.2021 wurden der WHO offiziell 75.119 Fälle von COVID-19 gemeldet (WHO 3.6.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021) (LIB, S. 13 f).
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021) (LIB, S. 14).
Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021). Auch wenn der Lockdown offiziell nie beendet wurde, endete dieser faktisch mit Juli bzw. August 2020 und wurden in weiterer Folge keine weiteren Ausgangsperren erlassen (ACCORD 25.5.2021). Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten zum Stand März 2021 nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch zum Stand März 2021 keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021). Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a). Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. NachAngaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“ (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 7.4.2021). Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021) (LIB, S. 15).
Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Das Gesundheitsministerium plant 2.200 Einrichtungen im ganzen Land, um Impfstoffe zu verabreichen, und die Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen, die in Taliban-Gebieten arbeiten (NH 7.4.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a). Um dies zu erreichen, müssen sich die Gesundheitsbehörden sowohl auf lokale als auch internationale humanitäre Gruppen verlassen, die dorthin gehen, wo die Regierung nicht hinkommt (NH 7.4.2021). Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021). Wochen nach Beginn der ersten Phase der Einführung des Impfstoffs gegen COVID-19 zeigen sich in einige Distrikten die immensen Schwierigkeiten, die das Gesundheitspersonal, die Regierung und die Hilfsorganisationen überwinden müssen, um das gesamte Land zu erreichen, sobald die Impfstoffe in größerem Umfang verfügbar sind. Hilfsorganisationen sagen, dass 120 von Afghanistans rund 400 Distrikten - mehr als ein Viertel - als „schwer erreichbar“ gelten, weil sie abgelegen sind, ein aktiver Konflikt herrscht oder mehrere bewaffnete Gruppen um die Kontrolle kämpfen. Ob eine Impfkampagne erfolgreich ist oder scheitert, hängt oft von den Beziehungen zu den lokalen Befehlshabern ab, die von Distrikt zu Distrikt sehr unterschiedlich sein können (NH 7.4.2021). Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021) (LIB, S. 15 f).
COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 3.500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021). Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021). Seit Mai 2021 sind 28 Labore in Afghanistan in Betrieb - mit Plänen zur Ausweitung auf mindestens ein Labor pro Provinz. Die nationalen Labore testen 7.500 Proben pro Tag. Die WHO berichtet, dass die Labore die Kapazität haben, bis zu 8.500 Proben zu testen, aber die geringe Nachfrage bedeutet, dass die Techniker derzeit reduzierte Arbeitszeiten haben (UNOCHA 3.6.2021) (LIB, S. 16).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021). Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020) (LIB, S. 17).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020). Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021). Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020). Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020). Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020). Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021). Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021). Nach Erkenntnissen der WHO steht Afghanistan mit März 2021 vor einer schleppenden wirtschaftlichen Erholung inmitten anhaltender politischer Unsicherheiten und einem möglichen Rückgang der internationalen Hilfe. Das solide Wachstum in der Landwirtschaft hat die afghanische Wirtschaft teilweise gestützt, die im Jahr 2020 um etwa zwei Prozent schrumpfte, deutlich weniger als ursprünglich geschätzt. Schwer getroffen wurden aber der Dienstleistungs- und Industriesektor, wodurch sich die Arbeitslosigkeit in den Städten erhöhte. Aufgrund des schnellen Bevölkerungswachstums ist nicht zu erwarten, dass sich das Pro-Kopf-Einkommen bis 2025 wieder auf das Niveau von vor der COVID-19-Pandemie erholt (BAMF 12.4.2021) (LIB, S. 18 f).
2. Beweiswürdigung:
2.1. Die Feststellungen ergeben sich aus den von der belangten Behörde vorgelegten Verwaltungsunterlagen sowie den Aktenbestandteilen des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens. Als Beweismittel insbesondere relevant sind die Niederschriften der Einvernahmen durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes (Erstbefragung; EB) und durch das BFA (EV) sowie die Niederschrift der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (VH), der Beschwerdeschriftsatz, die oben angeführten Länderinformationen mit den darin enthaltenen und dort näher zitierten Berichten sowie die vom BF vorgelegten Dokumente (ÖSD-Zertifikate A1 und A2, diverse Bestätigungen über die Teilnahme an Deutschkursen auf dem Niveau B1 sowie auf dem Niveau A1 und A2 und an Alphabetisierungskursen, Unterstützungsschreiben XXXX vom 12.03.2021, diverse Bestätigungsschreiben von XXXX , Schreiben von XXXX vom 30.03.2019, diverse Bestätigungsschreiben von XXXX , Bewerbungsbogen des BF für eine Arbeit in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Gartenbau, Grünflächenpflege oder Tierzucht vom 11.01.2017, Bestätigung des XXXX vom 06.03.2019, Bestätigungen über die Verrichtung von Tätigkeiten im Bereich der Umweltpflege, Bestätigung der XXXX vom 10.11.2017, Bestätigungsschreiben der XXXX , Bestätigungen über die Teilnahme an Informationsveranstaltungen des ÖIF, Schreiben des Leiters der XXXX vom 15.10.2020, Schreiben einer Nachhilfelehrerin, Bestätigung einer Sprachtrainerin vom 01.12.2017, Fotos, die den BF in militärischer Kleidung und mit Waffe zeigen) und die Strafregisterabfrage vom 09.06.2021.
2.2. Zu folgenden Feststellungen wird näher ausgeführt wie folgt:
2.2.1. Zur Person des BF:
Die Feststellung zur Identität des BF ergibt sich aus seinen Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor dem BFA, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum des BF gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person des BF im Asylverfahren.
Das Bundesverwaltungsgericht erachtet den BF – betreffend weitere Personenmerkmale (Staatsangehörigkeit, ethnische Zugehörigkeit, Herkunftsregion, Sprachkenntnisse, Berufserfahrung, Familienstand, Familienverhältnisse und Gesundheitszustand) für glaubwürdig, weil er im Verfahren im Wesentlichen gleichbleibende Angaben dazu machte. Es gibt keine Gründe, an der Richtigkeit dieser Angaben zu zweifeln und war der BF diesbezüglich auch in der mündlichen VH glaubwürdig.
Die Feststellungen zur Situation des BF in Österreich stützen sich auf die Aktenlage (insbesondere den Auszug aus dem Grundversorgungs-Informationssystem), auf die Angaben des BF in der VH sowie auf die vom BF vorgelegten, unstrittigen Dokumente. Da es keine Gründe gab, an der Richtigkeit der diesbezüglichen Angaben des BF zu zweifeln, konnte auch die Einvernahme des beantragten Zeugen zum Nachweis der Integration des BF und seines schützenswerten Privatlebens unterbleiben.
Die Feststellungen zu den Deutschkenntnissen ergeben sich aus den vorgelegten Dokumenten und konnte sich das Bundesverwaltungsgericht auch in der VH ein Bild von den mäßig vorhandenen Deutschkenntnissen des BF machen. In der VH gab der BF an, ein „bisschen“ Deutsch zu sprechen (VH, S. 8) und fiel es dem BF schwer, einfache Daten auf Deutsch zu schreiben. Einfache Fragen des Gerichts auf Deutsch konnte der BF jedoch verstehen und beantworten (VH, S. 9) und schlussendlich – auch wenn er lange hierfür brauchte – seinen Namen sowie die Namen seiner Eltern und seiner Partnerin schreiben (VH, S. 9 sowie Beilage A).
Die Feststellung zur langjährigen Partnerschaft des BF ergibt sich aus den Angaben des BF. In der EB gab der BF an, verheiratet zu sein und legte vor dem BFA eine Heiratsurkunde vor, aus der sich der 23.04.2014 als Datum der Eheschließung ergibt. In der VH gab der BF jedoch an, „aus Sicht des Islams“ nicht mehr verheiratet zu sein, da er seine Ehefrau länger als 6 Monate nicht mehr gesehen habe (VH, S. 7 und 15) und gab weiters an, dass verheiratet zu sein, heiße, dass er „verlobt“ sei (VH, S. 8). In der VH gab der BF an, Kontakt zu seiner Verlobten zu haben (VH, S. 11). Aufgrund der nicht konsistenten Angaben des BF konnte nicht festgestellt werden, dass der BF verheiratet ist. Aus seinen Angaben ergibt sich jedoch, dass der BF jedenfalls in einer langjährigen Partnerschaft ist.
Die Feststellung zur Ausreise aus Afghanistan und Einreise in Österreich ergibt sich aus den im Verfahren gleichbleibenden Angaben des BF sowie dem Akteninhalt.
Die Feststellung, dass der BF in Afghanistan eine zumindest achtjährige Schulbildung erhielt, gründet auf seinen Angaben im Verfahren. In der EB gab er an, 12 Jahre die Schule besucht zu haben (EB, S. 3). Vor dem BFA gab der BF im Rahmen der EV an, acht Jahre lang in die Schule gegangen zu sein (EV 1, S. 7 und EV 2 S. 4), ebenso wie in der Beschwerde. In der VH gab er an, 10 Jahre lang in die Schule gegangen zu sein (VH, S. 12). Aus einer Zusammenschaut dieser – wenn auch uneinheitlichen Angaben – ergibt sich, dass der BF in Afghanistan zumindest acht Jahre lang die Schule besuchte.
Die Feststellung zu den fehlenden Sorgepflichten des BF ergibt sich daraus, dass betreffend die Familienangehörigen, insbesondere die Partnerin des BF, seit der Ausreise des BF aus Afghanistan keine existenziellen Schwierigkeiten vorgebracht wurden und nach den Angaben des BF in der VH die Partnerin des BF bei ihrer Mutter lebt (VH, S. 11). In der zweiten EV beim BFA gab der BF an, dass seine Partnerin von ihrem Vater versorgt werde und dies – da sie verwandt seien – kein Problem sei (EV 2, S. 3).
Die Feststellungen zum Gesundheitszustand des BF gründen auf den Angaben des BF bei der belangten Behörde und in der VH (VH, S. 5) sowie auf dem Umstand, dass im Verfahren nichts Gegenteiliges hervorgekommen ist.
Die Feststellung, dass sich der BF in Österreich keine Lebenseinstellung angeeignet hat, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt und die ein wesentlicher Bestandteil seiner Persönlichkeit geworden ist, ergibt sich daraus, dass der BF in Afghanistan sozialisiert wurde, zwei Landessprachen spricht und nahezu sein gesamtes Leben in Afghanistan verbrachte. Im Gegensatz hielt sich der BF nur eine verhältnismäßig kurze Zeit in Europa auf und sind im Verfahren keine Umstände hervorgekommen, die darauf schließen lassen, dass der BF seinem Kulturkreis völlig entrückt wäre. Der BF hat dies auch nicht behauptet.
Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit des BF ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister.
2.2.2. Zum Fluchtvorbringen
2.2.2.1. Gemäß der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist es Aufgabe des Asylwerbers, durch ein in sich stimmiges und widerspruchsfreies Vorbringen, allenfalls durch entsprechende Bescheinigungsmittel, einen asylrelevanten Sachverhalt glaubhaft zu machen (VwGH 25.03.1999, 98/20/0559). Der Verwaltungsgerichtshof hat in mehreren Erkenntnissen betont, dass die Aussage des Asylwerbers die zentrale Erkenntnisquelle darstellt und daher der persönliche Eindruck des Asylwerbers für die Bewertung der Glaubwürdigkeit seiner Angaben von Wichtigkeit ist (VwGH 24.06.1999, 98/20/0453; VwGH 25.11.1999, 98/20/0357).
Der BF wurde im Laufe des Verfahrens zwei Mal niederschriftlich zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen. Er hatte somit ausreichend Zeit und Gelegenheit, seine Fluchtgründe umfassend und im Detail darzulegen. Er wurde mehrmals zur umfassenden und detaillierten Schilderung aufgefordert sowie über die Folgen unrichtiger Angaben belehrt. Der erkennende Richter konnte im Zuge der mündlichen Verhandlung zudem einen umfassenden persönlichen Eindruck vom BF gewinnen.
Dem BF ist es nicht gelungen, eine asylrelevante Verfolgung in seinem Herkunftsstaat glaubhaft zu machen.
2.2.2.2. Soweit der BF vorbrachte, ihm drohe Lebensgefahr durch einen Kommandanten, da ihn dieser entführt und vergewaltigt habe und verhindern wolle, dass dies öffentlich werde, kommt seinem Vorbringen aus den nachfolgenden Gründen keine Glaubwürdigkeit zu:
In der EB gab der BF als Fluchtgrund an, dass er für die Sicherheitsgarde in Kabul gearbeitet habe und mehrere Kollegen, die ebenfalls der Volksgruppe der Hazara angehört hätten, von den Taliban getötet worden seien. Er habe Angst um sein Leben gehabt und sei geflüchtet (EB, S. 6).
In der ersten EV am 06.12.2017 gab der BF zusätzlich an, mit einem Freund Schwimmen gegangen zu sein. Ein Kommandant namens XXXX habe ihn entführt, zu Bacha Basi gezwungen und missbraucht. Der BF habe eine Stelle als Leibwächter beim XXXX erhalten, um in Sicherheit zu sein. Nach der Amtszeit des XXXX sei dieser jedoch nicht mehr Vizepräsident gewesen und habe der BF seine Stelle verloren, weshalb er wieder dem Kommandanten ausgesetzt gewesen wäre. Dieser sei böse auf den BF, da er allen von dem Vorfall erzählt habe (EV 1, S. 8 f).
Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist ein gesteigertes Vorbringen nicht als glaubhaft anzusehen. Vielmehr müsse grundsätzlich den ersten Angaben des Asylwerbers ein erhöhter Wahrheitsgehalt zuerkannt werden. Es entspricht der Lebenserfahrung, dass Angaben, die in zeitlich geringerem Abstand zu den darin enthaltenen Ereignissen gemacht werden, der Wahrheit in der Regel am nächsten kommen (VwGH 11.11.1998, 98/01/0261, mwH).
Vor diesem Hintergrund bestehen bereits im Hinblick auf die Steigerung des Vorbringens massive Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Aussagen des BF betreffend die angebliche Bedrohung durch einen Kommandanten.
Das Gericht verkennt bei der Würdigung der Aussagen des BF in der EB nicht, dass gemäß § 19 Abs. 1 AsylG die EB zwar "insbesondere" der Ermittlung der Identität und der Reiseroute eines Fremden dient und sich nicht auf die "näheren" Fluchtgründe zu beziehen hat. Die Beweisergebnisse der EB dürfen nicht unreflektiert übernommen werden (vgl. VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0061). Ein vollständiges Beweisverwertungsverbot normiert § 19 Abs. 1 AsylG jedoch nicht. Im Rahmen beweiswürdigender Überlegungen können Widersprüche und sonstige Ungereimtheiten in den Angaben in der EB zu späteren Angaben – unter Abklärung und in der Begründung vorzunehmender Offenlegung, worauf diese fallbezogen zurückzuführen sind – einbezogen werden (VwGH 26.03.2019, Ra 2018/19/0607 bis 0608-12, VwGH 28.6.2018, Ra 2018/19/0271, mwN).
Der Umstand, dass der BF die von ihm im Zuge der EV bzw. der VH behauptete Entführung und Vergewaltigung durch einen Kommandanten mit keinem einzigen Wort erwähnte, ist auch bei Berücksichtigung, dass es sich hierbei um ein traumatisches Erlebnis handelte, nicht nachvollziehbar, zumal grundsätzlich davon auszugehen ist, dass kein Asylwerber eine Gelegenheit ungenützt ließe, ein zentral entscheidungsrelevantes Vorbringen zu erstatten. Vielmehr ist nach der allgemeinen Lebenserfahrung davon auszugehen, dass ein Asylwerber, der bemüht ist, in einem Land Aufnahme und Schutz zu finden, in der Regel auch bestrebt ist, alles diesem Wunsch Dienliche vorzubringen und zumindest die Kernfluchtgeschichte möglichst umfassend und gleichbleibend zu schildern. Auch wurde berücksichtigt, dass es sich bei dem BF im Zeitpunkt der EB um einen volljährigen Mann handelte, der in der Früh am Tag nach seiner Antragstellung einvernommen wurde. Zu berücksichtigen war zwar, dass die EB von einer Frau durchgeführt wurde (EB, S. 2). Der BF hätte aber diesen Fluchtgrund zumindest in Grundzügen umreißen oder allgemein ausführen können, aufgrund eines Eingriffs in seine sexuelle Integrität nicht über die angeblichen Vorfälle in Afghanistan sprechen zu wollen.
Abgesehen von dieser Steigerung des Fluchtvorbringens geht das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen VH und aufgrund des persönlichen Eindrucks des BF aber auch aus anderen Gründen davon aus, dass dem BF hinsichtlich der behaupteten Bedrohung durch einen Kommandanten keine Glaubwürdigkeit zukommt.
Bereits dem Vorbringen des BF in der ersten EV zur seiner angeblichen Belästigung und Entführung durch den Kommandanten mangelte es an jeglichen Details. So gab der BF an, er sei bei einer Hochzeit dem Kommandanten begegnet und habe ihn dieser „merkwürdig angeschaut und belästigt als Bacha Bazi“ (EV 1, S. 8). Nähere Ausführungen hierzu, etwa wie sich die angebliche Belästigung manifestierte, machte der BF allerdings nicht. In der VH machte der BF diesbezüglich überhaupt keine Angaben mehr (VH, S. 14).
Auch die Geschichte seiner angeblichen Entführung beim Schwimmen schilderte der BF nur sehr knapp und ergaben sich in der VH zudem Widersprüche im Vergleich zum Vorbringen des BF in der ersten EV. Das Gericht verkennt zwar nicht, dass der behauptete Vorfall schon einige Zeit zurückliegt und deshalb Erinnerungslücken einer vollkommen detaillierten Erzählung entgegenstehen können. Dass der BF die Ereignisse jedoch in einer derart vagen und widersprüchlichen Weise schildern würde, wäre allerdings nicht anzunehmen, hätten sich die Ereignisse tatsächlich zugetragen und wären sie von fluchtauslösender Intensität. Die erzählte Geschichte erweckte für das Gericht aber vielmehr den Eindruck, dass es sich bei dieser lediglich um Eckpunkte einer einstudierten Rahmengeschichte handelte, die der BF selbst auf mehrfaches Nachfragen kaum mit Details ergänzen konnte.
In der ersten EV gab der BF an, eines Tages mit einem Freund schwimmen gewesen zu sein. Der Kommandant habe ihn gesehen und hätten ihn zwei seiner Leibwächter nackt in ein Auto gezerrt (EV 1, S. 8). Die Freunde des BF seien weggelaufen. Der BF habe ebenfalls versucht, wegzulaufen, die Leibwächter hätten ihn aber bekommen, da sie von den anderen nichts gewollt hätten (EV 1, S. 12). Diese Schilderung widerspricht den Angaben des BF in der VH. Denn in dieser gab der BF an, dass die Freunde des BF nach dem Schwimmen gegangen seien. Der BF habe seine Unterhose trocknen lassen und dann gehen wollen. Das Auto des Kommandanten sei gekommen und sei er schikaniert worden. Schließlich sei er mit Gewalt in das Auto gesteckt und mitgenommen worden (VH, S. 14). Davon, dass die Freunde des BF weggelaufen seien und nur er verfolgt worden sei, war hingegen in der VH keine Rede mehr und ergaben sich daher Widersprüche in maßgebenden Details.
Betreffend den angeblichen Missbrauch nach der Entführung machte der BF nur völlig vage Angaben. Zwar konkretisierte er in der VH sein Vorbringen zur Vergewaltigung geringfügig (VH, S. 14), gab dann aber an, ohnmächtig geworden zu sein und nicht mehr zu wissen, was passiert sei. Im Wesentlichen blieb der BF jedoch genauso oberflächlich und abstrakt, wie auch bereits in der EV und machte er in der VH insbesondere zu den drei weiteren Tagen, an denen er angeblich in Gefangenschaft gewesen sei, keinerlei Angaben. Er gab nur pauschal an, während dieser Tage habe sich „das wiederholt“, wobei er sich auf seine davor gemachten (vagen) Angaben zur ersten Vergewaltigung bezog (VH, S. 15).
Selbst nachdem die weibliche Schreibkraft auf eigenen Wunsch des BF den Verhandlungssaal verließ, damit er die Geschehnisse besser erzählen könne (VH, S. 16), konkretisierte er seine Angaben nicht, sondern gab er nur an, er habe Angst, dass es noch einmal passieren würde. Auch auf nochmalige Aufforderung durch den Richter und den Hinweis auf die Verpflichtung des BF, am Verfahren mitzuwirken, schilderte er die Ereignisse nicht (VH, S. 16). Stattdessen erstattete er ein Vorbringen, welches in einem Widerspruch zu seinen bisherigen Angaben stand. So gab er an, dass ihn in Afghanistan niemand unterstütze und selbst sein Vater Abstand von ihm nehme, da er der Meinung sei, dass der BF Schande über die Familie gebracht habe (VH, S. 16). Dies widerspricht aber massiv den Angaben des BF in der VH, sein Vater habe ihm die Stelle als Leibwächter (bei einem hochrangigen Politiker) verschafft, um ihm zu helfen (VH, S. 12 und 15).
Bei der Schilderung der Fluchtgeschichte soll der Zuhörer in die Lage versetzt werden können, den Eindruck zu gewinnen, dass der BF all dies selbst höchstpersönlich durchlebt hat. Es kann in diesem Zusammenhang nicht als amtswegige Aufgabe gesehen werden, jede vage und pauschale Abgabe bzw. Andeutung durch mehrmaliges Nachfragen zu konkretisieren. Es obliegt vielmehr dem BF, ein detailliertes und stimmiges Vorbringen zu erstatten, um die nötige persönliche Glaubwürdigkeit zu erlangen. Dem ist der BF aber nicht nachgekommen und vermittelte der BF aufgrund seiner vagen Schilderungen dem erkennenden Gericht nicht den Eindruck, die geschilderte Vergewaltigung tatsächlich durchlebt zu haben. Gerade dies ist aber der Zweck einer mündlichen VH gerade im Bereich des Asylrechts.
Auch der persönliche Eindruck des BF in der mündlichen VH ließ nicht auf ein tatsächliches Erleben der geschilderten Ereignisse schließen, sondern entstand beim Bundesverwaltungsgericht vielmehr der Eindruck, dass es sich um eine einstudierte Fluchtgeschichte handelte, da der BF lediglich grobe Eckpunkte schildern konnte. Bei derart massiven Gewaltakten, welche den BF betroffen haben sollen, kann aber davon ausgegangen werden, dass sich ein – tatsächlich – Betroffener, an Abläufe und Details erinnern und den Sachverhalt mit dementsprechenden Inhalten vorbringen kann.
Insgesamt waren die Aussagen des BF zu der angeblichen Entführung und Vergewaltigung aber – trotz mehrmaliger Nachfrage – ausweichend und vage und ließen erkennen, dass der BF keine Detailkenntnis hat, weshalb das Bundesverwaltungsgericht nicht davon ausgeht, dass sich die Vorfälle tatsächlich zugetragen haben.
Zudem schilderte der BF die Gründe für das Verlassen seines Heimatstaates widerprüchlich und nicht konsistent. So gab er in der EV zunächst an, dass der Politiker, für den er gearbeitet habe, nach der Amtszeit des XXXX nicht mehr Vizepräsident gewesen sei und der BF somit seinen Job verloren habe, weshalb er wieder dem Kommandanten ausgesetzt gewesen wäre (EV 1, S. 8). Auch in der VH bejahte der BF die Frage, ob er arbeitslos geworden sei und dann die Flucht angetreten habe und gab er an, dass es ihm – solange er gearbeitet habe – gut gegangen sei und Arbeitslosigkeit eine „Krankheit“ sei (VH, S. 10).
Dem widersprechend gab der BF in der EV jedoch an, dass er bis zu seiner Ausreise als Leibwächter gearbeitet habe, da der Politiker auch nach dem Ende der Amtszeit des Präsdidenten noch Leibwächter und bewaffnetes Personal gehabt habe (EV 1, S. 7 und S. 10). Auch in der Beschwerde führte der BF aus, dass er auch nach dem Ausscheiden des Politikers aus dem Amt des XXXX im Jahr 2014 weiter für ihn gearbeitet und zunächst noch in einer eigenen Unterkunft für Leibwächter gewohnt habe. Zuletzt habe er diese Unterkunft aber verlassen müssen und sei er somit schutzlos den Männern von XXXX ausgeliefert gewesen. Er legte aber auch in der Beschwerde nicht dar, weshalb er plötzlich – obwohl er zunächst noch weiter für den Politiker auch nach dessen Ausscheiden aus dem Amt des XXXX im Jahr 2014 gearbeitet habe – seine Unterkunft habe verlassen müssen und in der Folge gezwungen gewesen sei, mangels Schutz durch den ehemaligen XXXX Afghanistan (im Jahr 2015, s. VH, S. 14) zu verlassen.
Da der BF seine Flucht im Wesentlichen auf die Begründung stützt, dass aufgrund des Verlusts seiner Stelle als Leibwächter der Schutz durch den Politiker weggefallen sei und er daher wieder ungeschützt dem Kommandanten ausgesetzt gewesen sei, kommt der Tatsache, ob der BF bis zu seiner Ausreise der Beschäftigung nachging, wesentliche Bedeutung zu. Gerade hierzu machte der BF aber keine konsistenten Angaben. Gerade die Gründe für das Verlassen des Herkunftsstaates sollten aber konsistent geschildert werden können und zogen auch die diesbezüglich widersprüchlichen Angaben des BF seine Glaubwürdigkeit in Zweifel.
Auch schilderte der BF keine einzige konkrete Bedrohung durch den Kommandanten und erstattete er kein schlüssiges Vorbringen zu den Gründen, weshalb ihn der Kommandant bei einer Rückkehr des BF nach Afghanistan verfolgen sollte.
So gab der BF in der VH an, der Kommandant sei von dem Politiker, bei welchem der BF als Leibwächter gearbeitet habe, gekündigt worden und würde er den BF hierfür verantwortlich machen. Er würde den BF töten, damit die Vergewaltigung nicht veröffentlicht werde (VH, S. 16). Dies widerspricht aber dem kurz darauf erstatteten Vorbringen des BF, dass er die Vergewaltigung zur Anzeige gebracht habe und bereits am Abend, als er zurückgebracht worden sei, „alle davon erfahren“ hätten (VH, S. 18). Insofern ist es nicht nachvollziehbar, weshalb der Kommandant den BF umbringen sollte, da laut den Angaben des BF die angebliche Vergewaltigung des BF ohnehin bereits vor langer Zeit öffentlich geworden sei. Auch die Behauptung, der Kommandant würde den BF töten, da er den BF für seine Kündigung verantwortlich mache, hat der BF in der VH nicht schlüssig dargelegt. Vielmehr blieb er diesbezüglich völlig vage und gab er hierzu befragt lediglich an, er habe dies dadurch „selber erlebt“, wie er mit dem BF umgegangen sei und es sei „schwierig“, dies darzustellen (VH, S. 18). Auch zur Machtposition des Kommandanten machte der BF widersprüchliche Angaben und gab er in der VH einerseits an, dass die Person, mit der er Probleme habe, „mächtiger“ geworden sei und mehr Leute bei sich habe (VH, S. 9). Auf der anderen Seite gab der BF jedoch an, dass der Kommandant gekündigt worden sei und zudem seitens des Militärs gesucht werde (VH, S. 16 und 18). Inwiefern hieraus ein Machtgewinn resultieren sollte, ist aber nicht nachvollziehbar.
Aber auch andere Angaben des BF außerhalb des unmittelbaren Fluchtvorbringens ließen den BF als persönlich unglaubwürdig erscheinen. So gab er in der EB an, „noch nie“ einen Reisepass besessen zu haben (EB, S. 4). In der EV gab er hingegen an, dass seine Partnerin seinen Reisepass „weggeschmissen“ habe und in der VH, er habe ihn „verloren“ (VH, S. 7). Er machte daher stark divergierende Angaben, die er je nach Befragung zu diesem Thema änderte (so wie auch betreffend seine Angaben zum Verlust seiner Stelle als Leibwächter) und weckte dies Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit.
Der Umstand, dass der BF mehrere Gründe vorbrachte, welche für sich potentiell asylrelevant sein könnten (befürchtete Verfolgung durch die Taliban aufgrund seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit sowie seiner Tätigkeit für einen Politiker, befürchtete Verfolgung durch einen Kommandanten), erweckte zusätzlich den Eindruck, dass der BF bestrebt war, aus welchem Grund auch immer, Asyl zu erhalten.
Letztlich ist eine Verfolgung des BF aber selbst im Falle einer Wahrunterstellung seines Fluchtvorbringens betreffend die Entführung und Vergewaltigung nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Der BF hat Afghanistan nach seinen Angaben in der EB 2015, sohin bereits vor rund fünfeinhalb Jahren verlassen und gab er in der EV auch an, dass weder seine Partnerin noch seine Eltern vom Kommandanten bedroht worden seien (EV 1, S. 11). In der VH gab der BF an, dass es seinen Eltern in Afghanistan, die noch immer in ihrem alten Elternhaus leben würden, gut gehe (VH, S. 11) und antwortete er auf die Frage, ob seine Familienangehörigen kein Problem mit dem Kommandanten habe, nur ausweichend und vage, seine Familie habe keine Chance gegen ihn und dass der Kommandant mächtig sei (VH, S. 11). Eine Bedrohung seiner Familie durch den Kommandanten legte der BF damit aber nicht dar.
In der EV gab der BF diesbezüglich lediglich an, dass der Kommandant nicht wolle, dass sich das gesamte Dorf gegen ihn stelle (EV 1, S. 11). Auch insofern ist aber nicht ersichtlich, weshalb er den BF im Falle einer Rückkehr umbringen sollte, da dies im Dorf wohl ebenso (bzw. nur umso mehr) Unmut erwecken würde.
Selbst im Falle einer Wahrunterstellung des Fluchtvorbringens betreffend die Vergewaltigung ist daher nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass dem BF in Afghanistan eine Verfolgung durch den Kommandanten XXXX droht bzw. der BF so lange nach seiner Ausreise aus Afghanistan noch im Visier des Kommandanten steht.
Aufgrund einer Gesamtschau der Angaben des BF ist es dem BF nicht gelungen, dass ihm Lebensgefahr oder ein Eingriff in seine körperliche Integrität seitens des genannten Kommandanten droht und lassen alle geschilderten Umstände zusammen für das Gericht keine Zweifel übrig, dass es sich hinsichtlich der in Afghanistan angeblich vorgefallenen Umstände um eine Konstruktion handelt.
Insgesamt zeigen die Einvernahmen des BF vielmehr, dass der BF vor allem deshalb flüchtete und in Österreich bleiben will, weil er sich für sich und seine Partnerin, die er gerne nach Österreich holen würde (VH, S. 19) ein besseres Leben wünscht und Afghanistan aus anderen Gründen verließ. Hierauf deutet auch die Aussage des BF in der EV hin, er habe nicht „als Wächter die ganze Nacht vor der Tür stehen“ wollen (EV 1, S. 9).
2.2.2.3. Auch darüber hinaus vermochte der BF eine individuelle und konkrete Betroffenheit von Verfolgung aufgrund seiner Eigenschaft als schiitischer Hazara und seiner Tätigkeit als Leibwächter für einen hochrangigen Politiker durch die Taliban nicht aufzuzeigen:
Der BF hat weder in der EB noch beim BFA oder in der VH konkrete Verfolgungshandlungen durch die Taliban oder andere Personen aufgrund seiner Zugehörigkeit zu den schiitischen Hazara oder aufgrund seiner Tätigkeit für die Regierung vorgebracht. Im Gegenteil gab der BF vor dem BFA an, dass er – als er in Kabul als Leibwächter gearbeitet habe – immer wieder für zwei bis drei Nächte nach Hause gefahren sei und die Busse immer wieder von den Taliban angehalten worden seien. Da der BF aber nicht wirklich wie ein Hazara aussehe, seien die Taliban davon ausgegangen, dass er kein Hazara sei und sei er persönlich nicht als schiitischer Hazara bedroht worden (EV 1, S. 10). Auch in der VH gab der BF nur generell an, dass es „nichts Neues“ sei, dass die Hazaren seit 40 Jahren getötet werden, nicht aber Verfolgungshandlungen gegen ihn selbst (VH, S. 8). Betreffend die in der EB angegebene angebliche Ermordung von Kollegen, die ebenfalls Hazara gewesen seien, machte der BF in der VH keinerlei Angaben mehr. Aber auch dies würde keine konkrete individuelle Bedrohung des BF selbst darstellen.
Es war daher nicht davon auszugehen, dass der BF in Afghanistan individuell und konkret aufgrund seiner ethnisch-religiösen Zugehörigkeit zu den schiitischen Hazara oder aufgrund seiner Tätigkeit für einen hochrangigen afghanischen Politiker verfolgt wurde.
Beim BF liegt auch keine europäische oder „westliche“ Lebenseinstellung seiner Person, die ihn in Afghanistan exponieren würde, vor. Auch lässt sich für Afghanen aus der Berichtslage im Hinblick auf einen längeren Aufenthalt in Europa und einer damit zusammenhängenden „Verwestlichung“ allgemein keine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretende Verfolgungsgefahr bzw. Diskriminierungsgefahr von asylrelevanter Intensität ableiten.
Hinsichtlich einer behaupteten Gruppenverfolgung der Hazara und Schiiten in Afghanistan sowie von Personen mit „westlicher“ Lebenseinstellung wird auf die Ausführungen zur rechtlichen Beurteilung verwiesen.
2.2.3. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat und zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Diese beruhen auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von staatlichen und nichtstaatlichen Stellen und bieten dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche, weshalb im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass besteht, an der Richtigkeit dieser Berichte zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben.
Den zitierten Quellen wurde in der VH überdies nicht entgegengetreten (VH, S. 4 und 9), weshalb für das Bundesverwaltungsgericht auch aus diesem Grund keine Zweifel an deren Richtigkeit bestehen. Das nach der Durchführung der VH am 11.05.2021 aktualisierte Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Version 4, ist der Rechtsvertretung des BF laut telefonischer Auskunft am 11.06.2021 bekannt und gab der BF keine Stellungnahme hierzu ab.
Die Feststellung zum regelmäßigen Kontakt zu Verwandten und zu seiner Partnerin in Afghanistan und dass diese in Maidan Wardak leben, ergibt sich aus den Angaben des BF in der VH (VH, S. 11) sowie in der EV, in der der BF angab, dass seine Partnerin aus Kabul nach Maidan Wardak zurückkehrte, nachdem der BF Afghanistan verließ (EV 2, S. 4).
Die Feststellung zur Unterstützung durch seine Familie in Afghanistan ergibt sich aus den Angaben des BF in der EB, dass er bzw. seine Familie über ein Haus und Grund verfüge und die finanzielle Situation seiner Familie gut sei (EB, S. 3 und 4). In der EV gab der BF an, dass die schlepperunterstützte Reise nach Österreich 4500 bis 5000 Dollar gekostet habe und sein Vater diese bezahlt habe. Sein Vater habe sehr viele Grundstücke und sehr viel Geld und sei er eine bekannte Persönlichkeit in der Ortschaft (EV 1, S. 6 und 7). Auch in der VH gab der BF an, dass es seiner Familie gut gehe (VH, S. 11) und diese auch die Kosten der Flucht übernommen hätte (VH, S. 12). Der BF brachte überdies vor, dass ihm sein Vater die Stelle in der Sicherheitsgarde eines hochrangigen Politikers verschafft habe und sein Vater sehr angesehen sei (VH, S. 15), weshalb auch aus diesem Grund davon auszugehen ist, dass der BF bei einer Rückkehr erneut Unterstützung (etwa bei der Arbeitssuche) von seinem Vater erhalten wird, der offenbar gute und weitreichende Kontakte hat. Den Länderberichten ist zudem zu entnehmen, dass die Großfamilie die zentrale soziale Institution in Afghanistan bildet und zu Schutz, Betreuung und Versorgung ihrer Mitglieder beiträgt sowie eine wirtschaftliche Einheit bildet, in der die Männer der Familie verpflichtet sind, die Mitglieder der Großfamilie zu unterstützen. Es ist daher davon auszugehen, dass der BF im Falle seiner Rückkehr – zumindest anfänglich – finanziell sowie organisatorisch von seiner Familie und auch von seinem Vater unterstützt werden wird. Dies, obwohl der BF angab, dass er keinen Kontakt zu seinem Vater habe (VH, S. 11). Es ist auch nicht ersichtlich, weshalb eine räumliche Trennung die Angehörigen des BF außer Stande setzen sollte, ihn finanziell zu unterstützen.
Die Feststellung zur Rückkehrhilfe ergibt sich aus den Länderberichten.
Die Feststellung zur Anpassungsfähigkeit und Arbeitsfähigkeit des BF ergibt sich daraus, dass er in Österreich aktuell einer ehrenamtlichen Tätigkeit in einem Seniorenheim nachgeht, Arbeiten für die Gemeinde verrichtete und auch in Afghanistan diversen Beschäftigungen nachging. Aus dem vom BF vorgelegten Unterstützungsschreiben des XXXX ergibt sich weiters, dass es für den BF eine große Belastung sei, nicht arbeiten oder Sport treiben zu können. Es ist daher auch davon auszugehen, dass der BF in einer guten körperlichen Verfassung ist. Es sind im Verfahren keine Umstände hervorgekommen, die gegen eine grundsätzliche Anpassungsfähigkeit oder gegen eine Arbeitsfähigkeit des BF sprechen. Der BF hat auch in Österreich – ohne mit der Kultur und Sprache vertraut gewesen zu sein – freundschaftliche Kontakte geknüpft, sodass auch daraus zu schließen ist, dass der BF grundsätzlich in der Lage ist sich schnell zu Recht zu finden und sich an neue Situationen und selbst an Städte anzupassen, in denen er zuvor noch nicht war (Herat und Mazar-e Sharif, VH, S. 19). Der BF lebte auch bereits – auch alleine – drei Jahre in Kabul und pendelte er in dieser Zeit immer wieder nach Maidan Wardak (VH, S. 10). Nach seinen eigenen Angaben lebte seine Partnerin nur einige Monate mit ihm in Kabul (EV 1, S. 5 und EV 2, S. 4) und kehrte nach der Ausreise des BF aus Afghanistan, die 2015 war, nach Maidan Wardak zurück (EV 2, S. 4).
Die Feststellungen zu den Folgen einer Rückkehr des BF in seine Herkunftsprovinz Maidan Wardak ergeben sich aus den oben angeführten Länderberichten, wonach die Provinz Maidan Wardak eine der am heftigsten umkämpften Provinzen Afghanistans ist. Dem BF würde daher – auch ohne eine festgestellte individuelle Bedrohung – bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz die reale Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK drohen.
Die Feststellungen zu den Folgen einer Ansiedlung des BF in den Städten Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif ergeben sich – unter Berücksichtigung der von UNHCR und EASO aufgestellten Kriterien für das Bestehen einer internen Schutzalternative für Afghanistan – aus den in das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht eingeführten Länderberichten und aus den Angaben des BF. Die Feststellung zur Prognose, dass sich der BF in den Städten Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif eine Existenz aufbauen kann, ergibt sich aus folgenden Erwägungen:
Aus den Länderinformationen ergibt sich, dass die Städte Kabul, Mazar-e Sharif und Herat als relativ sicher gelten und unter der Kontrolle der Regierung stehen. Diese sind auch über den Luftweg sicher erreichbar.
Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass die Sicherheitslage in Afghanistan – insbesondere auch aufgrund der aktuellen Entwicklungen und des Abzugs der US-Truppen – volatil und auch die Situation in den Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat angespannt ist. Die in den Länderberichten zum Ausdruck kommenden Befürchtungen, die Taliban könnten zunehmend an Einfluss gewinnen, sind allerdings zum derzeitigen Stand nur vage Prognosen, die nicht mit einer maßgebenden Wahrscheinlichkeit auf eine solche Entwicklung schließen lassen. Zum derzeitigen Stand haben die Taliban nach den Länderberichten keinen maßgebenden Einfluss in Afghanistan erlangt und hat die afghanische Regierung nach wie vor die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten.
Zu berücksichtigen ist auch, dass beim BF zwar grundsätzlich mehrere Risikoprofile der UNHCR-Richtlinien vorliegen, nämlich einerseits seine ehemalige Tätigkeit für einen hochrangigen afghanischen Politiker und andererseits seine Zugehörigkeit zu den (schiitischen) Hazara sowie sein langjähriger Aufenthalt in Europa. Selbst die Erfüllung mehrerer Risikoprofile der UNHCR-Richtlinien führt aber nicht per se zu einer asylrelevanten Verfolgung oder Bedrohung, sondern ist vielmehr eine sorgfältige Prüfung im Einzelfall erforderlich.
Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang einerseits, dass der BF angab, in Afghanistan nie konkreten individuellen Verfolgungshandlungen aufgrund seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit oder aufgrund seiner Tätigkeit in der Sicherheitsgarde für einen Politiker ausgesetzt gewesen zu sein. Er gab auch an, während seiner Arbeit in Kabul immer wieder Maidan Wardak besucht zu haben. Die Busse seien zwar von Taliban angehalten worden, da der BF aber nicht wie ein Hazara aussehe, seien die Taliban davon ausgeganen, dass er kein Hazara sei (EV 1, S. 10). Zu diesem Zeitpunkt arbeitete der BF zudem in der Sicherheitsgarde, was er nun nicht mehr tut. Nach den UNHCR-Richtlinien erfüllen aber auch Personen, die nur vermeintlich mit der Regierung verbunden sind oder diese vermeintlich unterstützen, ein Risikoprofil und kann auf eine (vermeintliche) Verbindung zum Beispiel durch ein früheres Beschäftigungsverhältnis geschlossen werden, so wie es konkret beim BF der Fall ist. Auch wird den Angaben des BF Glauben geschenkt, dass seine Fingerabdrücke als ehemaliges Mitglied der Sicherheitsgarde im System abgespeichert sind.
Da der BF aber in Afghanistan aufgewachsen ist, bereits drei Jahre in Kabul lebte und arbeitete und in dieser Zeit immer wieder nach Maidan Wardak pendelte, verfügt der BF über entsprechende Ortskenntnisse in diesen Gebieten und aufgrund seiner mehrjährigen Tätigkeit in der Sicherheitsgarde auch über Kenntnisse des afghanischen Sicherheitsapparats. Zudem verfügt der BF in Afghanistan über familiäre Anknüpfungspunkte und damit über ein soziales Netzwerk, weshalb der BF im Vergleich zu Rückkehrern ohne familiären Anschluss in einer weit besseren Situation ist. Dies ist auch hinsichtlich der Sicherheitslage zu beachten. Es ist daher davon auszugehen, dass der BF in der Lage sein wird, etwaige Gefahrensituationen, wie etwa Kontrollpunkte der Taliban, zu erkennen und allenfalls zu umgehen. Selbst in dem Fall, dass er – wie auch schon zuvor – in Kontrollen der Taliban geraten sollte, ist nicht mit maßgebender Wahrscheinlichkeit von einer realen Gefährdung des BF auszugehen, da er einer solchen auch bislang nicht ausgesetzt war, obwohl er in der Zeit, in der er immer wieder von Kabul nach Maidan Wardak pendelte, sogar noch aktiv in der Sicherheitsgarde arbeitete. Auch war der Vater des BF Mitglied in einer politischen Partei (EV 1, S. 8) und lebt dieser unbehelligt sogar in der am heftigsten umkämpften Provinz Maidan Wardak (VH, S. 11), weshalb auch aus diesem Grund nicht davon auszugehen ist, dass der BF, nur, weil er einen Bezug zur Regierung hat, bereits einer realen maßgebenden Gefährdung ausgesetzt ist. Abgesehen davon wird der BF nicht in ein Gebiet zurückkehren, welches von den Taliban kontrolliert wird, sondern stehen die Städte Kabul, Herat und Mazar-e Sharif unter der Kontrolle der Regierung.
Zur Versorgungslage in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif ist festzuhalten, dass die Verwirklichung grundlegender sozialer und wirtschaftlicher Bedürfnisse wie etwa der Zugang zu Arbeit, Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung, in Afghanistan zwar häufig nur sehr eingeschränkt möglich ist und zudem die COVID-19-Pandemie zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land beiträgt. Der Zugang zu Grundversorgung, medizinischer Versorgung sowie zum Arbeits- und Wohnungsmarkt ist in den Städten Kabul, Mazar e-Sharif und Herat aber trotz der Ausbreitung des Coronavirus nach den Länderberichten aber grundlegend gesichert. Die Arbeitslosigkeit ist zwar hoch, jedoch ist im Lichte der Berichtslage nicht erkennbar, dass die Grundlage bzw. (Lebens-)Bedingungen für die Existenzsicherung bzw. für das Erreichen und Halten eines – auch der übrigen dortigen Bevölkerung entsprechenden – angemessenen Lebensstandards nicht vorhanden wären. Die Wohnsituation ist angespannt, wobei aber grundsätzlich Wohnraum zur Verfügung steht. Der BF kann auch mit finanzieller und organisatorischer Unterstützung durch seine Familie in Afghanistan rechnen.
Bei einer Ansiedlung in den Städten Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif kann allenfalls auch zumindest zu Beginn Unterkunft in einem „Teehaus“ zu günstigen Bedingungen gefunden werden. Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten (in den Städten) zum Stand März 2021 nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM auch ein Hotel buchen bzw. können Rückkehrende bis zu zwei Wochen im IOM Empfangszentrum Spinzar Hotel unterkommen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch zum Stand März 2021 keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus, und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen.
Zu berücksichtigen ist auch, dass es sich beim BF um einen volljährigen, gesunden und arbeitsfähigen Mann im erwerbsfähigen Alter ohne Sorgepflichten handelt. Der BF ist mit der afghanischen Kultur und den afghanischen Gepflogenheiten sozialisiert, da er nahezu sein gesamtes Leben in Afghanistan verbracht hat und mit seiner afghanischen Familie aufgewachsen ist. Seine sprachliche Sozialisierung fand in Dari statt, daher spricht er eine afghanische Landessprache muttersprachlich und ebenso die Landessprache Paschtu (VH, S. 8). Darüber hinaus verfügt der BF über eine zumindest achtjährige Schulbildung sowie über Berufserfahrung in Afghanistan als Schneider, Automechaniker und Leibwächter für einen ehemaligen XXXX , weshalb davon auszugehen ist, dass er sich von der durchschnittlichen Bevölkerung Afghanistans abhebt und erhöhte Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben dürfte. Weiters hat der BF bereits drei Jahre in Kabul gelebt (VH, S. 10) und er ist anpassungsfähig. Er wird sich daher in den afghanischen Großstädten zurechtfinden, auch wenn er keine Ortskenntnisse in Herat oder Mazar-e Sharif hat.
Zudem ist davon auszugehen, dass der BF bei seiner Rückkehr nach Afghanistan finanzielle und organisatorische Unterstützung von seiner Familie und insbesondere seinem Vater erhalten wird, der gute und weitreichende Kontakte hat und dem BF bereits einmal bei der Arbeitssuche behilflich war und ihm eine Stelle sogar bei einem hochrangigen Politiker verschaffte. Der BF kann auch Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.
Das Bundesverwaltungsgericht geht auf Grund dieser Umstände davon aus, dass sich der BF nach anfänglichen Schwierigkeiten in den Städten Mazar-e Sharif, Herat und konkret auch Kabul niederlassen kann und er in der Lage sein wird, sich durch eigene Tätigkeit ein den dortigen Verhältnissen entsprechendes Einkommen zu erwirtschaften und sich dort eine Existenz ohne unbillige Härte aufbauen kann.
3. Rechtliche Beurteilung:
Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des BFA.
Gemäß § 6 Bundesverwaltungsgerichtsgesetz entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist, was im gegenständlichen Verfahren nicht der Fall ist.
Zu A)
3.1. Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides (Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten)
3.1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz, BGBl. I Nr. 100/2005 (in Folge: AsylG 2005), ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht.
Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.
Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 12.03.2020, Ra 2019/01/0472; 29.01.2020, Ra 2019/18/0228). Abzustellen ist auf den Zeitpunkt der Entscheidung (vgl. etwa VwGH 27.06.2019, Ra 2018/14/0274).
Die Gefahr der Verfolgung kann nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende „Gruppenverfolgung“, hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (VwGH vom 21.02.2017, Ra 2016/18/0171).
3.1.2. Im gegenständlichen Fall hat der BF nicht glaubhaft gemacht, dass er in Afghanistan von einem Kommandanten entführt und vergewaltigt wurde. Da sich der vom BF geschilderte Vorfall nicht ereignet hat, droht dem BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan aus diesem Grund auch keine Gefahr durch einen Kommandanten. Auch eine konkrete individuelle Verfolgungsgefahr des BF aufgrund seiner ethnisch-religiösen Zugehörigkeit zu den schiitischen Hazara, aufgrund seiner Tätigkeit für einen hochrangigen Politiker oder aufgrund seines Aufenthalts in Europa durch die Taliban war zu verneinen.
In Ermangelung von dem BF individuell drohenden Verfolgungshandlungen bleibt zu prüfen, ob er in Afghanistan aufgrund generalisierender Merkmale – etwa wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara, zur Religionsgruppe der Schiiten oder wegen einer „Verwestlichung“ – unabhängig von individuellen Aspekten einer über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehenden "Gruppenverfolgung" ausgesetzt wäre.
Dass ein Angehöriger der ethnischen und religiösen Minderheit der schiitischen Hazara im Falle seiner Einreise nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit befürchten müsste, alleine wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Verfolgung im Sinne eines ungerechtfertigten Eingriffs von erheblicher Intensität ausgesetzt zu sein, kann das Bundesverwaltungsgericht jedoch nicht erkennen:
Die in Afghanistan immer wieder bestehende Diskriminierung der schiitischen Hazara, die gegen Schiiten gerichteten Angriffe und die Übergriffe gegen Hazara erreichen nach den Länderfeststellungen gegenwärtig nicht ein Ausmaß, das die Annahme rechtfertigen würde, dass in Afghanistan schiitische Hazara wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer ethnischen und religiösen Minderheit mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung zu befürchten hätten, zumal die Gefährdung dieser Minderheit angesichts der in den Länderberichten dokumentierten allgemeinen Gefährdungslage in Afghanistan, die in vielen Regionen für alle Bevölkerungsgruppen ein erhebliches Gefahrenpotential mit sich bringt, (derzeit) nicht jenes zusätzliche Ausmaß erreicht, welches notwendig wäre, um eine spezifische Gruppenverfolgung der Hazara oder von Angehörigen der Religionsgemeinschaft der Schiiten anzunehmen, auch wenn sich nach den Länderfeststellungen Anschläge, so sie Zivilisten zum Ziel haben, auch gegen schiitische Hazara richten. Eine Gruppenverfolgung ist auch nicht daraus ableitbar, dass Hazara allenfalls Opfer krimineller Aktivitäten werden oder schwierigen Lebensbedingungen ausgesetzt sind. Es ist auch festzuhalten, dass nach den Länderberichten die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen genießt.
Auch die EASO-Leitlinien vom Dezember 2020 halten hierzu fest, dass allein die Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara im Allgemeinen nicht zu einem Risikolevel führt, welches für sich genommen bereits wohlbegründete Furcht vor Verfolgung begründet. Diese kann sich – vorbehaltlich der konkreten Umstände des Einzelfalles – aber im Zusammentreffen mit anderen Risikoprofilen ergeben, wie etwa der Zugehörigkeit zum schiitisch-muslimischen Glauben oder zu Sicherheitskräften (EASO 2020, S. 86). Wie bereits in der Beweiswürdigung dargelegt, ist dies aber auch unter Berücksichtigung des in einer Gesamtheit gewürdigten Risikoprofils des BF nach den UNHCR-Richtlinien aufgrund seiner Ortskenntnisse, seines sozialen Netzwerks in Afghanistan sowie seiner Kenntnisse betreffend den afghanischen Sicherheitsapparat nicht der Fall.
Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht davon aus, dass die Zugehörigkeit zur Minderheit der Hazara – unbeschadet der schlechten Situation für diese Minderheit – nicht dazu führt, dass im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan eine unmenschliche Behandlung drohen würde (EGMR 05.07.2016, 29.094/09, A.M./Niederlande). Ebenso hat der VwGH bereits mehrfach ausgesprochen, dass auf Basis der maßgeblichen Berichtslage nicht abzuleiten sei, dass Angehörige der Hazara in Afghanistan einer Gruppenverfolgung unterliegen würden (vgl. VwGH 28.01.2020, Ra 2019/20/0404).
Es ist daher eine Gruppenverfolgung – sowohl in Hinblick auf die Religions- als auch die Volksgruppenzugehörigkeit – von Hazara und Schiiten in Afghanistan nicht gegeben.
Beim BF liegt auch keine europäische oder "westliche" Lebenseinstellung seiner Person, die zu einer Gefährdung führen könnte, vor. Insbesondere verneint der Verwaltungsgerichtshof in seiner Judikatur eine Vergleichbarkeit solcher Sachverhalte mit seiner Judikatur zum "selbstbestimmten westlichen Lebensstil" von Frauen (vgl. VwGH 15.12.2016, Ra 2016/18/0329).
Nach den EASO-Leitlinien stellt sich die Situation für Männer im Zusammenhang mit dem Vorwurf der „Verwestlichung“ weit weniger schwerwiegend als für Frauen dar. Sanktionen für unerwünschte Lebensweisen (aufgrund einer „Verwestlichung“) können insbesondere durch das familiale und nachbarschaftliche Umfeld vorkommen, wobei die Gesellschaft in Großstädten grundsätzlich wesentlich liberaler ist als in ruralen Gegenden (EASO, Kapitel 2).
Festzuhalten ist auch, dass aus den verfahrensgegenständlichen Länderberichten nicht ersichtlich ist, dass alleine eine westliche Geisteshaltung bei Männern mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung asylrelevanter Intensität auslösen würde. Aus den Länderberichten ergibt sich zwar, dass Rückkehrer aus Europa von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen werden. Dem deutschen Auswärtigen Amt sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. UNHCR berichtet von Fällen zwangsrückgeführter Personen aus Europa, die von religiösen Extremisten bezichtigt werden, verwestlicht zu sein; viele werden der Spionage verdächtigt. Es mag auch Fälle geben, in denen es zu tätlichen Angriffen auf Rückkehrer kam. Auch glaubt man, Rückkehrer aus Europa wären reich und sie würden die Gastgebergemeinschaft ausnutzen. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann.
Diese Diskriminierungen und Angriffe erreichen jedoch nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts nicht jenes Ausmaß, das erforderlich wäre, um von einer spezifischen Verfolgung aller Rückkehrer aus Europa ausgehen zu können.
Abschließend wird festgehalten, dass aus den amtswegigen Ermittlungen des Bundesverwaltungsgerichts in Form von Einsichtnahmen in die relevanten Länderberichte und dem am Bundesverwaltungsgericht vorhandenen Fachwissen eine asylrelevante Verfolgung auch aus anderen, nicht vom BF vorgebrachten Gründen nicht maßgeblich wahrscheinlich ist.
Da die Glaubhaftmachung ein wesentliches Tatbestandsmerkmal für die Gewährung von Asyl ist, und es dem BF nicht gelungen ist, eine aus einem in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Grund aktuell drohende Verfolgung maßgeblicher Intensität glaubhaft zu machen, liegt somit im Falle des BF weder ein Flucht- noch ein Nachfluchtgrund vor.
Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides war daher als unbegründet abzuweisen.
3.2. Zu Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides (Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten)
3.2.1. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden im Falle der Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist eine Voraussetzung für die Gewährung subsidiären Schutzes das Drohen einer realen Gefahr ("real risk") insbesondere einer gegen Art. 2 oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung (VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137). Um von der realen Gefahr ("real risk") im Falle der Rückkehr ausgehen zu können, reicht es nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nicht aus, wenn eine solche Gefahr bloß möglich ist. Es bedarf vielmehr einer darüberhinausgehenden Wahrscheinlichkeit, dass sich eine solche Gefahr verwirklichen wird.
Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann etwa auch dann eine Verletzung von Art. 3 MRK bedeuten und daher die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten begründen, wenn – wobei eine solche Situation nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen ist – der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also seine Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz nicht gedeckt werden können (vgl. VwGH 18.10.2018, Ra 2017/19/0200; 25.04.2017, Ra 2017/01/0016). Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können (VwGH vom 31.10.2019, Ra 2019/20/0309).
Für die zur Prüfung der Notwendigkeit von subsidiärem Schutz erforderliche Gefahrenprognose ist bei einem nicht landesweiten bewaffneten Konflikt auf den tatsächlichen Zielort des BF bei seiner Rückkehr abzustellen. Dies ist in der Regel seine Herkunftsregion, in die er typischerweise zurückkehren wird (vgl. EuGH 17.02.2009, C-465/07 , Elgafaji; VfGH vom 13.09.2013, U370/2012; VwGH vom 12.11.2014, Ra 2014/20/0029).
3.2.2. Die Herkunftsprovinz des BF (Maidan Wardak) ist nach den aktuellen Länderberichten eine der am heftigsten umkämpften Provinzen Afghanistans und wird zum größten Teil von den Taliban kontrolliert. Aus diesem Grund könnte eine Rückführung des BF in diese Provinz für ihn mit einer ernstzunehmenden Gefahr für Leib und Leben verbunden sein, weshalb ihm eine Rückkehr dorthin nicht möglich ist.
3.2.3. Gemäß § 8 Abs. 3 AsylG sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) offensteht.
Zu prüfen bleibt daher, ob der BF gemäß § 11 Abs. 2 AsylG auf eine andere Region des Landes – nämlich die Städte Mazar-e Sharif, Herat und hier auch Kabul – aufgrund der dortigen allgemeinen Gegebenheiten und seiner persönlichen Umstände verwiesen werden kann (VfGH 11.10.2012, U677/12).
Für die Prüfung einer innerstaatlichen Fluchtalternative sind zwei getrennte und selbständige Voraussetzungen zu prüfen (UNHCR, Kapitel III. C). Zum einen ist zu klären, ob in dem als innerstaatliche Fluchtalternative ins Auge gefassten Gebiet Schutz vor asylrechtlich relevanter Verfolgung und vor Bedingungen, die nach § 8 Abs. 1 AsylG die Gewährung von subsidiären Schutz rechtfertigen würden, gegeben ist. Zudem muss dieses Gebiet sicher und legal zu erreichen sein (VwGH vom 23.01.2018, Ra 2018/18/0001; VwGH vom 08.08.2017, Ra 2017/19/0118). Von dieser Frage ist getrennt zu beurteilen, ob dem Asylwerber der Aufenthalt in diesem Gebiet zugemutet werden kann, bzw. dass vom ihm vernünftigerweise erwartet werden kann, sich in dem betreffenden Gebiet niederzulassen (VwGH vom 23.01.2018, Ra 2018/18/0001).
Bei der Prüfung der Zumutbarkeit ist insbesondere auf die persönlichen Umstände des Betroffenen, die Sicherheit, die Achtung der Menschenrechte und die Aussichten auf wirtschaftliches Überleben abzustellen. Es muss möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute des Asylwerbers führen können. Ein voraussichtlich niedrigerer Lebensstandard oder eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation sind keine ausreichenden Gründe, um ein vorgeschlagenes Gebiet als unzumutbar abzulehnen. Die Verhältnisse in dem Gebiet müssen aber ein für das betreffende Land relativ normales Leben ermöglichen (VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001; 30.01.2018 Ra 2018/18/0001).
Für den vorliegenden Fall ist daher Folgendes festzuhalten:
Trotz der als instabil zu bezeichnenden allgemeinen Sicherheitslage scheint eine Rückkehr nach Afghanistan im Hinblick auf die regional und sogar innerhalb der Provinzen von Distrikt zu Distrikt unterschiedliche Sicherheitslage nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Der BF kann nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes, unter Berücksichtigung der von UNHCR aufgestellten Kriterien für das Bestehen einer internen Schutzalternative für Afghanistan und der EASO-Leitlinien vom Dezember 2020, in zumutbarer Weise auf die Übersiedlung in andere Landesteile Afghanistans, konkret in die Städte Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat, verwiesen werden:
Was die Sicherheitslage betrifft, wird seitens des Bundesverwaltungsgerichts im Hinblick auf die Länderfeststellungen nicht verkannt, dass die Situation (auch) in den Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat angespannt ist. Dennoch ist festzuhalten, dass die afghanische Regierung die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten hat. Auch sind Kabul, Herat und Mazar-e Sharif über den Luftweg sicher erreichbar.
In der Stadt Kabul finden zwar „High-Profile“-Angriffe von regierungsfeindlichen, bewaffneten Gruppierungen in unregelmäßigen Abständen statt. Dennoch erreicht das Ausmaß der willkürlichen Gewalt kein derart hohes Niveau, sodass es nicht geradezu wahrscheinlich erscheint, dass jeder, der dorthin zurückkehrt, tatsächlich Opfer eines Gewaltaktes wird. Davon kann nämlich nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden (VwGH vom 25.04.2017, Ra 2017/01/0016). Diese Einschätzung wird auch von EASO geteilt, das in seinen Leitlinien vom Dezember 2020 zwar festhält, dass in der Stadt Kabul willkürliche Gewalt herrscht, jedoch nicht auf einem hohen Niveau, sodass vermehrte individuelle gefahrenerhöhende Umstände vorliegen müssten, um einen Schutzbedarf zu begründen (EASO 2020, S. 162). Derartige gefahrenerhöhende Umstände liegen beim BF jedoch nicht vor, dies auch deshalb nicht, da er seine vorgebrachten Fluchtgründe nicht glaubhaft machen konnte.
Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass der BF der Volksgruppe der (schiitischen) Hazara angehört und sich auch lange in Europa aufgehalten hat. Der BF lebte und arbeitete aber bereits jahrelang in der Stadt Kabul und ist daher mit den dortigen örtlichen Gegebenheiten vertraut, ebenso wie mit den sozialen, kulturellen und religiösen Gepflogenheiten in Afghanistan sowie aufgrund seiner Tätigkeit in der Sicherheitsgarde auch mit dem afghanischen Sicherheitsapparat. Zudem verfügt er in Afghanistan über ein familiäres Unterstützungsnetzwerk. Insofern ist der BF im Vergleich zu Rückkehrern ohne familiären Anschluss in einer weit besseren Situation, was auch in Betracht auf die Sicherheitslage zu beachten ist. Auch eine Gruppenverfolgung der (schiitischen) Hazara in Afghanistan oder von Rückkehrern aus Europa ist aufgrund der Länderfeststellungen nicht anzunehmen. Die Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit des BF steht daher einer Rückkehr nicht entgegen, selbst wenn sich Anschläge regierungsfeindlicher Gruppen, so sie Zivilisten zum Ziel haben, auch gegen schiitische Hazara richten, was das Bundesverwaltungsgericht nicht verkennt. Insbesondere ist aber auch in Betracht zu ziehen, dass die gesamte Provinz und damit auch die Stadt Kabul von der Regierung kontrolliert wird.
Es wird auch nicht verkannt, dass der UNHCR in seinen Richtlinien vom 30.08.2018 zur Beurteilung gelangt, dass Zivilisten, die in Kabul tagtäglich ihren wirtschaftlichen oder sozialen Aktivitäten nachgehen, Gefahr laufen, Opfer der allgegenwärtigen in der Stadt bestehenden Gefahr zu werden und zum Schluss kommt, dass „angesichts der gegenwärtigen Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage in Kabul eine interne Schutzalternative in der Stadt grundsätzlich nicht verfügbar ist“ (S. 129). Der UNHCR stützt seine Ansicht aber u.a. auf UNAMA-Statistiken des ersten Halbjahres 2018, die mittlerweile nicht mehr aktuell sind, und kommt EASO in seinen aktuellen Leitlinien von Dezember 2020 betreffend die Stadt Kabul zu einer abweichenden Beurteilung bzw. schließt die Stadt Kabul als innerstaatliche Fluchtalternative aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage nicht aus (EASO 2020, S. 162). Dass nach den UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 in Kabul eine interne Schutzalternative in der Stadt „grundsätzlich“ nicht verfügbar sei, schließt auch nicht aus, dass eine solche unter gewissen Umständen – wie im Falle des BF, der insbesondere dort bereits drei Jahre lebte und arbeitete – doch möglich sein kann. Auch das aktuelle Länderinformationsblatt zeigt keine Situation auf, die eine Ansiedelung in der Stadt Kabul alleine aufgrund der Sicherheitslage ausschließen würde. Aufgrund der Aktualität ist daher dem aktuellen Länderinformationsblatt sowie den EASO-Richtlinien zu folgen.
Betreffend die Städte Herat und Mazar-e Sharif ist den Feststellungen zu entnehmen, dass es zwar in beiden Städten zu sicherheitsrelevanten Vorfällen kommt. Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist aber so gering ist, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein.
Sowohl Kabul-Stadt als auch die Städte Mazar-e Sharif und Herat stehen unter staatlicher Kontrolle und sind über den Luftweg sicher und legal erreichbar. Auch der Weg vom Flughafen in die jeweiligen Städte ist nach den Länderfeststellungen ausreichend sicher. Die aktuelle Sicherheitslage steht daher einer Ansiedlung des BF in den Städten Mazar-e Sharif, Herat und konkret auch Kabul nicht entgegen.
Auch die Versorgungslage in diesen Städten begründet keine reale Gefahr der Verletzung von Art. 3 EMRK. Selbst wenn die Verwirklichung grundlegender sozialer und wirtschaftlicher Bedürfnisse, wie etwa der Zugang zu Arbeit, Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung, häufig nur sehr eingeschränkt möglich ist, so ist die Versorgung der afghanischen Bevölkerung in den Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat – trotz der COVID-19-Pandemie – dennoch zumindest grundlegend gesichert. Im Lichte der Berichtslage ist nicht erkennbar, dass die Grundlagen bzw. (Lebens-)Bedingungen für die Existenzsicherung bzw. für das Erreichen und Halten eines – auch der übrigen dortigen Bevölkerung entsprechenden – angemessenen Lebensstandards nicht vorhanden wären.
Auch die aufgrund der Pandemie erschwerten wirtschaftlichen Bedingungen machen eine Rückkehr weder unmöglich noch unzumutbar. Aus den Feststellungen ergibt sich zwar, dass sich die wirtschaftliche Lage weiter verschlechtert hat, es ergibt sich daraus jedoch nicht, dass eine Sicherung der existenziellen Grundbedürfnisse nicht mehr als gegeben anzunehmen wäre. Auch wenn sich die Lebensmittelpreise aufgrund der Pandemie erhöht haben und sich die Versorgungslage allgemein verschärft hat, verfügt der BF über eine Familie in Afghanistan, die ihn finanziell unterstützen kann. Selbst wenn er aufgrund der in Afghanistan gesetzten Maßnahmen, die insbesondere die Tagelöhner betreffen, da diese oft keine Arbeit mehr finden, anfangs arbeitslos sein sollte, ist es ihm durch seine Familie jedenfalls möglich, seinen Lebensunterhalt auch in der Zeit der Einschränkungen zu bestreiten.
Die aktuellen EASO-Richtlinien erachten für alleinstehende, erwerbsfähige Männer eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif selbst ohne dortiges Unterstützungsnetzwerk für zumutbar (EASO 2020, Kapitel 5). Ebenso ist den aktuellen UNHCR-Richtlinien zu entnehmen, dass sich alleinstehende Männer ohne besondere Vulnerabilität selbst ohne familiäre Unterstützung in urbanen oder semi-urbanen Gebieten mit notwendiger Infrastruktur und unter staatlicher Kontrolle niederlassen können. Eine solche Infrastruktur und staatliche Kontrolle ist in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vorhanden. EASO nimmt von seiner Einschätzung nur jene Gruppe von Rückkehrern aus, die entweder außerhalb Afghanistans geboren wurden oder lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben (EASO 2020, Kapitel 5). Hiervon ist der BF aber nicht erfasst, da er in Afghanistan geboren und aufgewachsen ist und sich nur eine verhältnismäßig kurze Zeit in Europa aufgehalten hat.
Auch nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes kann gesunden Asylwerbern im erwerbsfähigen Alter, die eine der Landessprachen Afghanistans beherrschen, mit den kulturellen Gepflogenheiten ihres Herkunftsstaates vertraut sind und die Möglichkeit haben, sich durch Gelegenheitstätigkeiten eine Existenzgrundlage zu sichern, die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in bestimmten Gebieten Afghanistans zugemutet werden, und zwar selbst dann, wenn sie nicht Afghanistan geboren wurden, dort nie gelebt und keine Angehörigen in Afghanistan haben, sondern im Iran aufgewachsen und dort in die Schule gegangen sind (vgl. VwGH 19.5.2020, Ra 2019/14/0599 mwN).
Wie festgestellt wurde, ist der BF gesund, volljährig, arbeitsfähig und hat keine Sorgepflichten. Er verfügt über eine zumindest achtjährige Schulbildung sowie Berufserfahrung in Afghanistan. Er hat auch nahezu sein gesamtes Leben in Afghanistan verbracht, wodurch er mit den dortigen kulturellen Gepflogenheiten vertraut ist. Zudem spricht der BF eine Landessprache auf muttersprachlichem Niveau (Dari) sowie Patschu und somit zwei offizielle Landessprachen Afghanistans. Zudem ist der BF anpassungsfähig. Des Weiteren verfügt der BF nach wie vor über familiäre Anknüpfungspunkte in Afghanistan und kann er zumindest anfänglich mit finanzieller und organisatorischer Unterstützung durch seine Familie rechnen, insbesondere auch durch seinen gut vernetzten Vater. Der BF kann zudem Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.
Es ist daher davon auszugehen, dass es dem BF möglich ist, sich den Städten Mazar-e Sharif oder Herat Unterkunft, Verpflegung und medizinische Betreuung zu verschaffen und sich in diesen Städten zu orientieren, auch wenn er in diesen Städten über keine Ortskenntnisse oder soziale bzw. familiäre Anknüpfungspunkte verfügt. Dies gilt umso mehr für die Stadt Kabul, da er dort bereits jahrelang lebte und arbeitete. Der BF hat auch keine Sorgepflichten, so dass diesbezüglich keine wirtschaftliche Erschwernis für ihn bei einer Rückkehr gegeben ist. Es ist deshalb auch nicht zu befürchten, dass er bereits unmittelbar nach seiner Rückkehr und noch bevor er in der Lage wäre, selbst für seinen Unterhalt zu sorgen, in eine existenzbedrohende bzw. wirtschaftlich ausweglose Lage geraten würde.
Der BF gehört auch keinem Personenkreis an, von dem anzunehmen ist, dass er sich in Bezug auf die individuelle Versorgungslage qualifiziert schutzbedürftiger darstellt als die übrige Bevölkerung, die ebenfalls für ihre Existenzsicherung aufkommen kann.
Was die aktuelle Situation aufgrund der COVID-19 Pandemie anbelangt ist festzuhalten, dass es sich hierbei einerseits um eine Pandemie handelt, welche weltweit eine Bedrohung bedeutet, andererseits es sich bei dem BF um einen jungen Mann mit einem Alter von knapp 29 Jahren handelt, welcher an keinen der für COVID-19 notorischen Vorerkrankungen leidet (vgl. COVID-19 Risikogruppe-Verordnung, BGBl. II Nr. 203/2020: chronische Lungenkrankheiten, Herzerkrankungen, aktive Krebserkrankungen, Erkrankungen mit Immunsuppression behandelt werden, fortgeschrittene Nierenerkrankungen oder Lebererkrankungen, etc.). Der BF zählt somit nicht zu der einschlägigen Risikogruppe; auch erstattete er selbst kein entsprechendes Vorbringen, welches eine maßgeblich wahrscheinliche lebensbedrohliche Situation für ihn im Falle einer Rückkehr indizieren würde.
Unter Berücksichtigung der Länderberichte, der UNHCR-Richtlinien, der EASO-Leitlinien und der persönlichen Situation des BF unter Berücksichtigung seines Risikoprofils ist es diesem daher selbst ohne unmittelbar dort bestehende soziale bzw. familiäre Anknüpfungspunkte möglich und zumutbar, sich in den Städten Mazar-e Sharif, Herat oder konkret auch Kabul – etwa auch durch Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten, wobei ihm seine Schulbildung und Berufserfahrung zu Gute kommt – eine Existenz aufzubauen und diese zu sichern sowie eine (einfache) Unterkunft zu finden. Dafür, dass der BF in Ansehung existentieller Grundbedürfnisse (z.B. Nahrung, Unterkunft) einer lebensbedrohenden Situation ausgesetzt wäre, gibt es keine hinreichenden Anhaltspunkte.
Ein „reales Risiko“ einer gegen Art. 2 oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung bzw. der Todesstrafe kann daher im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht erkannt werden.
Die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides war daher als unbegründet abzuweisen.
3.3. Zu Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides (Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz)
3.3.1. § 57 AsylG 2005 regelt die „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“. Die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG liegen nicht vor, weil der Aufenthalt des BF weder seit mindestens einem Jahr gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG geduldet ist, noch zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig ist noch der BF Opfer von Gewalt iSd § 57 Abs. 1 Z 3 FPG wurde. Weder hat der BF das Vorliegen eines der Gründe des § 57 FPG behauptet, noch kam ein Hinweis auf das Vorliegen eines solchen Sachverhaltes im Ermittlungsverfahren hervor. Auch wurde in der Beschwerde kein entsprechendes Vorbringen erstattet. Die belangte Behörde erteilte somit zu Recht keinen Aufenthaltstitel nach § 57 AsylG 2005.
3.4. Zu Spruchpunkten IV. bis VI. des angefochtenen Bescheides (Rückkehrentscheidung und Ausreisefrist)
3.4.1. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt wird.
Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK sind gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG insbesondere zu berücksichtigen: die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war (Z 1), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (Z 2), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens (Z 3), der Grad der Integration (Z 4), die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden (Z 5), die strafgerichtliche Unbescholtenheit (Z 6), Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts (Z 7), die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (Z 8) und die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (Z 9).
Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen.
3.4.2. Für den BF ergibt sich vor diesem Hintergrund wie folgt:
Der BF ist kein begünstigter Drittstaatsangehöriger und es kommt ihm auch kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu, da mit der erfolgten Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz das Aufenthaltsrecht nach § 13 AsylG mit der Erlassung dieser Entscheidung endet. Gegenteiliges wurde vom BF nicht vorgebracht.
Der BF brachte im Verfahren durchgängig vor, über keine Familienangehörigen im Bundesgebiet zu verfügen, und sind solche auch amtswegig nicht hervorgekommen, sodass ein Eingriff in sein Recht auf Achtung des Familienlebens jedenfalls zu verneinen ist. Die aufenthaltsbeendende Maßnahme könnte daher allenfalls in das Privatleben des BF eingreifen.
Unter dem Privatleben sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. EGMR 16.6.2005, Fall Sisojeva ua, Appl 60.654/00, EuGRZ 2006, 554). In diesem Zusammenhang komme dem Grad der sozialen Integration des Betroffenen eine wichtige Bedeutung zu.
Bei der Beurteilung der Frage, ob der BF in Österreich über ein schützenswertes Privatleben verfügt, spielt die zeitliche Komponente eine zentrale Rolle, da – abseits familiärer Umstände – eine von Art. 8 EMRK geschützte Integration erst nach einigen Jahren im Aufenthaltsstaat anzunehmen ist (vgl. Thym, EuGRZ 2006, 541). Ausgehend davon, dass der Verwaltungsgerichtshof bei einem dreieinhalbjährigen Aufenthalt im Allgemeinen von einer eher kürzeren Aufenthaltsdauer ausgeht (vgl. Chvosta, ÖJZ 2007/74 unter Hinweis auf VwGH 08.03.2005, 2004/18/0354; 27.03.2007, 2005/21/0378), und im Erkenntnis vom 26.06.2007, 2007/10/0479, argumentiert, "dass der Aufenthalt im Bundesgebiet in der Dauer von drei Jahren […] jedenfalls nicht so lange ist, dass daraus eine rechtlich relevante Bindung zum Aufenthaltsstaat abgeleitet werden könnte", und auch der Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die Interessensabwägung zukommt (VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0289), ist im Fall des BF, der sich seit Dezember 2015 – sohin seit rund fünfeinhalb Jahren – in Österreich aufhält, anzunehmen, dass der Aufenthalt im Bundesgebiet zu kurz ist, um ein schützenswertes Privatleben zu begründen (vgl. auch VwGH 15.03.2016, Ra 2016/21/0040; VwGH 30.06.2016, Ra 2016/21/0192; VwGH 14.11.2017, Ra 2017/21/0188).
Der BF reiste illegal nach Österreich ein und durfte sich bislang nur aufgrund seines Antrages auf internationalen Schutz, der zu keinem Zeitpunkt berechtigt war, im Bundesgebiet aufhalten (vgl. VwGH 20.02.2004, 2003/18/0347; 27.04.2004, 2000/18/0257; sowie EGMR 8.4.2008, Fall Nnyanzi, Appl. 21878/06, wonach ein vom Fremden in einem Zeitraum, in dem er sich bloß aufgrund eines Asylantrages im Aufnahmestaat aufhalten darf, begründetes Privatleben per se nicht geeignet ist, die Unverhältnismäßigkeit des Eingriffes zu begründen).
Ein schützenswertes Privatleben iSd Art. 8 EMRK und eine nennenswerte Integration des BF in Österreich können vor dem Hintergrund der getroffenen Feststellungen nicht angenommen werden. Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass eine Bereitschaft des BF besteht, in Österreich Fuß zu fassen und ist dem BF auch sein ehrenamtliches Engagement im Seniorenheim, beim Speisentransport sowie seine Mithilfe in der Nachbarschaft zugute zu halten. Auch verrichtete er gemeinnützige Tätigkeiten und hat der BF in Österreich Freundschaften (auch mit österreichischen Staatsbürgern) geknüpft.
Der BF verfügt jedoch weder über Verwandte noch sonstige enge soziale Bindungen in Österreich und lebt er hier in keiner Lebensgemeinschaft. Er absolviert in Österreich auch keine Ausbildung. Der BF hat auch trotz eines mittlerweile rund fünfeinhalbjährigen Aufenthalts in Österreich erst eine Deutschprüfung auf dem Niveau A2 absolviert und ist dies auch unter Berücksichtigung der COVID-19-bedingten Einschränkungen, die das Ablegen einer Prüfung sicherlich erschwerten, ein niedriges Niveau.
Zum ehrenamtlichen Engagement des BF ist zudem festzuhalten, dass der BF seit Anfang März 2021 wieder ehrenamtlich in einem Seniorenheim tätig ist – dies somit ab einem Zeitpunkt, der auch mit der Anberaumung der VH mit Schriftsatz vom 01.03.2021 für den 11.05.2021 zusammenfiel. Davor arbeitete er nur einige Monate im Jahr 2017 ehrenamtlich in einem Seniorenheim und legte der BF für den dazwischenliegenden Zeitraum – abgesehen von der Bestätigung über die Mithilfe im Speisentransport aus dem Jahr 2020 – keine weiteren Bestätigungen vor.
Es ist auch zu beachten, dass das Privatleben des BF in Österreich zu einem Zeitpunkt begründet wurde, als sich die Zulässigkeit des Aufenthalts alleine auf den unbegründeten Antrag auf internationalen Schutz stützen konnte.
Es ist auch im gesamten Verfahren nicht hervorgekommen, dass sich der BF während seines Aufenthaltes in wirtschaftlicher Hinsicht durch legale Erwerbstätigkeit eine tragfähige Existenz aufgebaut hätte oder er selbsterhaltungsfähig wäre, vielmehr lebt er von der Grundversorgung. Es wird nicht verkannt, dass der BF fallweise kleinere Arbeiten übernahm, gelegentlich Dienstleistungen für Dienstleistungsschecks erbrachte und einen Monat tageweise in einem Museum tätig war. Dies reicht jedoch nicht aus, um von einer Selbsterhaltungsfähigkeit ausgehen zu können.
Im Gegensatz dazu hat der BF enge Bindungen zu seinem Heimatstaat Afghanistan. So hat er nahezu sein gesamtes bisheriges Leben dort verbracht. Er wurde in Afghanistan sozialisiert, ging dort zur Schule, übte verschiedene Berufe aus, spricht zwei Landessprachen (eine davon als Muttersprache) und hat Kontakt zu seinen Verwandten in Afghanistan. Auch seine langjährige Partnerin lebt in Afghanistan. Aufgrund der verhältnismäßig kurzen Ortsabwesenheit kann auch nicht gesagt werden, dass der BF seinem Kulturkreis völlig entrückt wäre, sodass sich der BF in Afghanistan problemlos wieder eingliedern wird können.
Dass der BF strafgerichtlich unbescholten ist, vermag weder sein persönliches Interesse an einem Verbleib in Österreich zu verstärken noch das öffentliche Interesse an der aufenthaltsbeendenden Maßnahme entscheidend abzuschwächen (zB VwGH 19.04.2012, 2011/18/0253).
Den Interessen des BF an einem weiteren Aufenthalt in Österreich stehen die öffentlichen Interessen an einem geordneten Fremdenwesen gegenüber. Der Befolgung der den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften kommt aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung durch geordnete Abwicklung des Fremdenwesens ein hoher Stellenwert zu (VwGH 15.12.2015, Ra 2015/19/0247). Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes überwiegen im Ergebnis die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung, insbesondere das Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, die privaten Interessen des BF am Verbleib im Bundesgebiet (vgl. dazu VfSlg 17.516/2005 sowie ferner VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479).
Es kam kein Sachverhalt hervor, welcher bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen den Schluss zuließe, dass der angefochtene Bescheid einen unverhältnismäßigen Eingriff in das durch Art. 8 EMRK geschützte Privat- und Familienleben darstellt. Die Erlassung der Rückkehrentscheidung durch das BFA war daher im vorliegenden Fall zulässig und im Hinblick auf die Ziele des Art. 8 Abs. 2 EMRK dringend geboten.
3.4.3. Mit der Erlassung der Rückkehrentscheidung ist gemäß § 52 Abs. 9 FPG gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.
Die Abschiebung in einen Staat ist gemäß § 50 Abs. 1 FPG unzulässig, wenn dadurch Art. 2 oder 3 EMRK oder das 6. bzw. 13. ZPEMRK verletzt würden oder für den Betroffenen als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes verbunden wäre. Das entspricht dem Tatbestand des § 8 Abs. 1 AsylG.
Die Abschiebung in einen Staat ist gemäß § 50 Abs. 2 FPG unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort das Leben des Betroffenen oder seine Freiheit aus Gründen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder persönlichen Ansichten bedroht wäre, es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative. Das entspricht dem Tatbestand des § 3 AsylG 2005. Die Abschiebung ist schließlich nach § 50 Abs. 3 FPG unzulässig, solange ihr die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entgegensteht.
Im gegenständlichen Fall ist die Zulässigkeit der Abschiebung des BF nach Afghanistan gegeben, weil nach den die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz tragenden Feststellungen keine Gründe vorliegen, aus denen sich eine Unzulässigkeit der Abschiebung im Sinne des § 50 Abs. 1 und 2 FPG ergeben würde, und auch keine entsprechende Empfehlung des EGMR für Afghanistan besteht.
3.4.4. Gemäß § 55 Abs. 1 FPG wird mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt. Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt nach § 55 Abs. 2 FPG 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen. Im gegenständlichen Fall wurde solches nicht dargetan und liegen keine Anhaltspunkte vor, die in concreto für eine längere Frist sprächen.
Die Beschwerde erweist sich somit auch in Bezug auf die Spruchpunkte IV. bis VI. als unbegründet und war folglich zur Gänze abzuweisen.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung (vgl. die unter Punkt 3. angeführte Judikatur); weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor, zumal der vorliegende Fall vor allem im Bereich der Tatsachenfragen anzusiedeln ist. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten zu Spruchteil A wiedergegeben. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.
Im Übrigen war eine auf die Umstände des Einzelfalls bezogene Prüfung vorzunehmen und waren Fragen der Beweiswürdigung entscheidend.
Es war somit insgesamt spruchgemäß zu entscheiden.
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