BVwG L524 2217735-1

BVwGL524 2217735-18.10.2019

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §34
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2019:L524.2217735.1.00

 

Spruch:

(1.) L524 2217734-1/4E

(2.) L524 2217735-1/4E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Veronika SANGLHUBER LL.B. über die Beschwerden von (1.) XXXX alias XXXX , geb. XXXX , StA Türkei und (2.) mj XXXX alias XXXX , geb. XXXX , StA Türkei, beide vertreten durch RA Edward W. DAIGNEAULT, Lerchenfelder Gürtel 45/11, 1160 Wien, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.03.2019, (1.) Zl. 1169096005/171304340 und (2.) ZI. 1174443804/171304307, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG und dem FPG, zu Recht:

A) Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter des minderjährigen Zweitbeschwerdeführers. Sie sind türkische Staatsangehörige und reisten am 30.10.2017 legal mit einem Visum C für die Schengen-Staaten über den Flughafen Wien in Österreich ein.

Die Erstbeschwerdeführerin stellte am 20.11.2017 Anträge auf internationalen Schutz für sich und den mj. Zweitbeschwerdeführer. Bei der am 21.11.2017 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes brachte die Erstbeschwerdeführerin vor, dass sie Kurdin und sunnitische Muslimin sei. Sie stamme aus XXXX in XXXX . Sie habe vier Jahre die Grund- und vier Jahre die Hauptschule besucht. In der Türkei würde noch ihr Vater leben, ihre Mutter sei bereits verstorben. In Österreich würden drei Schwestern und ein Bruder leben.

Hinsichtlich ihres Fluchtgrundes gab sie an (Schreibfehler im Original): "In meiner Heimat ist das Leben für mich sehr schwer, weil ich einen unehelich geborenen Sohn habe. Deshalb hat mein Vater mich verstoßen und auch die anderen Dorfbewohner meiden mich, wo es nur geht. Zudem werde ich immer wieder von anderen Männern belästigt, die nachts versuchen, in mein Haus einzubrechen und mich zu vergewaltigen. Ich habe daraufhin auch schon bei der Polizei in meiner Heimat Anzeige erstattet - aber auch dort wurde ich nicht ernst genommen und auch die Polizisten wollten sich mir unsittlich nähern. Alles zusammen hat dazu beigetragen, dass das Leben in der Türkei für mich nicht mehr erträglich war und ich auch um mich bzw. meine Sohn gefürchtet habe. Aus diesem Grunde hatte ich keine andere Wahl, als meine Heimat zu verlassen, damit für meinen Sohn und mich Sicherheit besteht. Auch mein Sohn wird in der Schule regelmäßig belästigt, weil er offiziell keinen Vater hat. Der leibliche Vater meines Sohnes hat mich noch während meiner Schwangerschaft verlassen. ... Ich habe hiermit ALLE meine Fluchtgründe angegeben - ich habe keine weiteren Gründe für eine Asylantragstellung."

2. Bei der ersten Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) am 26.02.2018 brachte die Erstbeschwerdeführerin im Wesentlichen vor, dass Kurden diskriminiert würden. Sie selbst sei nicht diskriminiert worden. In Österreich lebe sie bei ihrer Schwester, von der sie und der Zweitbeschwerdeführer versorgt werden würden. Sie spreche kein Deutsch und besuche keinen Deutschkurs. Sie sei auch kein Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation. Sie sei den ganzen Tag zu Hause und habe keine sozialen Kontakte zu österreichischen Staatsbürgern.

Zu ihrem Fluchtgrund gab die Erstbeschwerdeführerin an (Schreibfehler im Original):

"LA: Aus welchem Grund verließen Sie Ihr Heimatland? Schildern Sie dies bitte möglichst lebensnah, d.h. mit sämtlichen Details und Informationen, sodass die Behörde Ihr Vorbringen nachvollziehen kann! Nehmen Sie sich dafür ruhig Zeit!

VP: Ich bin aus der Türkei nicht geflüchtet. Ich bin mit einem Visum nach Österreich gekommen, weil der Sohn von meiner Schwester XXXX geheiratet hat. Nachgefragt heíßt ihr Sohn XXXX .

LA: Warum haben Sie dann einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt?

VP: Ich möchte hier arbeiten und auf eigenen Beinen stehen. Wie lange wird man mich noch unterstützen? Es ist mir bewusst, dass es in Österreich Frauenrechte und viel mehr Möglichkeiten für eine Frau gibt, zu arbeiten. Ich möchte hier in Östereich gemeinsam mit meinem Sohn ein Leben aufbauen.

LA: Das sind alle Ihre Fluchtgründe?

VP: Ja.

LA: Das heißt, Sie haben eigentlich keinen Fluchtgrund.

VP: Ich bin aber eine alleinstehende Frau. Ich möchte eine Arbeitsbewilligung.

...

LA: Haben Ihr mj. Sohn eigene Fluchtgründe bzw. bestehen für Ihren Sohn eigene Rückkehrbefürchtungen?

VP: Er möchte hier leben und nicht in unserem Heimatland. Er geht jetzt hier in die Schule und würde gerne seine Ausbildung hier weiterführen."

Der mj. Zweitbeschwerdeführer gab bei seiner Einvernahme vor dem BFA am 26.02.2018 an, dass Kurden in der Türkei diskriminiert würden. Man habe sich über ihn und seine Mutter lustig gemacht. Ansonsten sei nichts passiert.

3. Am 07.03.2019 erfolgte eine weitere Einvernahme der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers. Dabei bestätigte die Erstbeschwerdeführerin zunächst ihre bisherigen Angaben. Die letzten beiden Jahre vor der Ausreise habe sie im Haus ihrer Schwester in XXXX gelebt. Zuvor habe sie bei ihrem Vater gelebt. Sie sei seit 15 Jahren mit dem Vater ihres Sohns traditionell verheiratet, dieser habe sie jedoch zunächst verlassen. Ihr Ehegatte lebe in Schweden und wolle die Beschwerdeführer zu sich holen. Sie sei am 29.10.2017 gemeinsam mit ihrem Sohn und der künftigen Schwiegertochter ihrer Schwester legal mittels Visum nach Österreich gereist um die Hochzeit ihres Neffen zu besuchen. Sie lebe inzwischen bei ihrem Bruder in Tirol.

Zu weiteren Fluchtgründen gab die Erstbeschwerdeführerin an (Schreibfehler im Original):

"LA: Gibt es irgendwelche Gründe, warum Sie Ihr Heimatland verlassen haben, die Sie in Ihrer Einvernahme vor dem BFA in Niederösterreich nicht angeführt haben? Möchten Sie Ihre damaligen Angaben ergänzen?

VP: Nein, ich möchte nichts ergänzen, ich habe alles gesagt. Ich möchte aber unbedingt anführen, dass ich nicht mehr in die Türkei zurück will. Sollte ich meinen Reisepass zurück bekommen, dann würde ich mit meinem Sohn zu meinem Mann nach Schweden gehen.

LA: Was würde Sie im Falle einer Rückkehr in die Türkei erwarten?

VP: Gar nichts. Ich bin nicht im Kriegsgebiet und mir drohen keine Gefahren, aber ich habe keine Zukunft dort, ebenso wenig wie mein Sohn. Es gibt in der Türkei keine Menschenrechte. Würde ich mit meinem Sohn zurückkehren, dann könnte er dort höchstens Schafhirte werden, er hätte kein Leben."

Der Zweitbeschwerdeführer gab zu seinem Fluchtgrund an (Schreibfehler im Original):

"LA: Haben Sie eigene Fluchtgründe oder berufen Sie sich auf die Fluchtgründe Ihrer Mutter?

VP: Ich verweise auf die Aussagen meiner Mutter, ich habe keine eigenen Gründe. Ich möchte anmerken, dass die Ausbildung in Österreich viel besser ist als in der Türkei.

LA: Was war Ihrer Meinung nach der fluchtauslösende Moment, das Sie die Türkei verlassen haben?

VP: Wir waren in einem sehr schlechten Zustand in der Türkei, einerseits finanziell und auch sonst. Meine Mutter hatte keine Arbeit, hier geht sie als Aushilfe arbeiten und wir verhungern hier nicht.

LA: Haben Sie noch weitere Fluchtgründe die Türkei betreffend?

VP: Nachdem die ganze Familie meiner Mutter hier ist sind wir auch hierher gegangen. Wir hatten niemanden, der uns versorgt hatte, meine Mutter hat sich auch mit meinem Großvater zerstritten."

4. Mit Bescheiden des BFA vom 18.03.2019, (1.) ZI. 1169096005/171304340 und (2.) ZI. 1174443804/171304307, wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

Das Vorbringen wurde als nicht glaubhaft und nicht asylrelevant erachtet. Es könne nicht festgestellt werden, dass den Beschwerdeführern bei deren Rückkehr eine Gefährdung durch die Polizei oder andere staatliche Organe und Behörden oder von Privaten drohe. Es ergebe sich auch kein Hinweis darauf, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Türkei eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde. Nach Abwägung aller Interessen ergebe sich, dass eine Rückkehrentscheidung zulässig sei.

5. Gegen diese Bescheide erhoben die Beschwerdeführer über ihren rechtsfreundlichen Vertreter fristgerecht Beschwerde.

II. Feststellungen:

Die Beschwerdeführer sind türkische Staatsangehörige, Kurden und sunnitische Moslems. Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter des mj. Zweitbeschwerdeführers. Sie stammen aus dem Dorf XXXX in der Provinz Konya. Die Erstbeschwerdeführerin besuchte in ihrem Heimatort fünf Jahre die Grundschule und drei Jahre die Hauptschule. Der mj. Zweitbeschwerdeführer besuchte in XXXX fünf Jahre die Grundschule und zwei Jahre die Hauptschule. Er befand sich im dritten Jahr der Hauptschule, als die Beschwerdeführer die Türkei verließen.

Die Beschwerdeführer lebten zuerst im Haus des Vaters der Erstbeschwerdeführerin. Die letzten beiden Jahre vor der Ausreise aus der Türkei lebten sie im Haus der Schwester der Erstbeschwerdeführerin. Die Beschwerdeführer wurden von den in Österreich lebenden Geschwistern der Erstbeschwerdeführerin finanziell unterstützt.

Die Erstbeschwerdeführerin ist seit Juli 2002 traditionell und seit 07.11.2018 standesamtlich mit dem Vater des Zweitbeschwerdeführers verheiratet. Der Ehemann bzw. Vater ist türkischer Staatsangehöriger und verfügt über einen Aufenthaltstitel für Schweden. Er lebt auch in Schweden.

In Konya leben noch der Vater der Erstbeschwerdeführerin sowie mehrere Verwandte. Die Erstbeschwerdeführerin hat Kontakt mit ihren in der Türkei lebenden Verwandten.

Die Beschwerdeführer verließen legal die Türkei und reisten am 30.10.2017 mit einem von 28.10.2017 bis 21.11.2017 gültigem Visum C legal auf dem Luftweg in das österreichische Bundesgebiet ein. Die Erstbeschwerdeführerin stellte am 20.11.2017 für sich und den mj. Zweitbeschwerdeführer jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der Vater der Erstbeschwerdeführerin ist Pensionist und hat im Zuge des Visumverfahrens eine Verpflichtungserklärung, die Hin- und Rückreisekosten für die Beschwerdeführer zu übernehmen, abgegeben.

In Österreich leben ein Bruder und drei Schwestern der Erstbeschwerdeführerin. Die drei Schwestern sind österreichische Staatsangehörige. Eine weitere Schwester der Erstbeschwerdeführerin lebt in Frankreich.

Die Beschwerdeführer leben beim Bruder der Erstbeschwerdeführerin und werden von diesem finanziell unterstützt. Der Bruder der Erstbeschwerdeführerin ist türkischer Staatsangehöriger und verfügt über eine Rot-Weiß-Rot-Karte Plus.

Die Beschwerdeführer beziehen keine Leistungen der staatlichen Grundversorgung und sind nicht erwerbstätig. Die Erstbeschwerdeführerin verbringt den ganzen Tag zu Hause. Sie hat ansonsten keine sozialen Kontakte. Der Zweitbeschwerdeführer besuchte von 07.09.2018 bis 05.07.2019 eine Neue Mittelschule. Nicht festgestellt werden kann, dass die Erstbeschwerdeführerin einen Deutschkurs besucht hat. Die Beschwerdeführer sind gesund und strafrechtlich unbescholten.

Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer verließen die Türkei, um sich in Österreich ein Leben aufzubauen und einer Arbeit nachzugehen bzw. die Schule zu besuchen. Nicht festgestellt werden kann, dass die Erstbeschwerdeführerin oder der Zweitbeschwerdeführer wegen ihrer Volksgruppenzugehörigkeit in der Türkei verfolgt wurden. Die von der Erstbeschwerdeführerin vorgebrachten Fluchtgründe, wonach sie von unbekannten Privaten bzw. von Polizisten in der Türkei sexuell belästigt worden sei bzw. versucht worden sei, sie zu vergewaltigen, werden der Entscheidung mangels Glaubhaftigkeit nicht zugrunde gelegt.

Zur Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen getroffen:

KI vom 14.3.2019, Resolution des Europäischen Parlaments zur Menschenrechtslage

Infolge schwerer politischer und demokratischer Rückschritte in den letzten Jahren empfahl das Europäische Parlament (EP) am 13.3.2019 in einer Resolution die offizielle Aussetzung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei (EP 13.3.2019a).

Das EP begrüßte zwar den Beschluss vom 19. Juli 2018 zur Aufhebung des Ausnahmezustands, bedauerte jedoch, dass im Juli 2018 neue Rechtsvorschriften verabschiedet wurden, insbesondere das Gesetz Nr.7145, mit denen viele der dem Präsidenten und der Exekutive im Rahmen des Ausnahmezustandes verliehenen Machtbefugnisse beibehalten wurden, und Präsident und Exekutive praktisch weiter wie bisher mittels der entsprechenden Einschränkungen der Freiheiten und grundlegender Menschenrechte handeln können. Laut EP hat der lang andauernde Ausnahmezustand zu einer Erosion der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte geführt. Darüber hinaus würden viele der während des Ausnahmezustands geltenden Befugnisse von der Polizei und den lokalen Verwaltungen nach wie vor angewendet. Das EP zeigte sich beunruhigt angesichts der gravierenden Rückschritte in den Bereichen des Rechts auf freie Meinungsäußerung, der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie der Verfahrens- und Eigentumsrechte. Dazu zählen auch Verhaftungen legitimer oppositioneller Stimmen, darunter Menschenrechtsverteidiger, Journalisten und Oppositionelle, nebst der Tatsache, dass sich über 50.000 Personen zumeist ohne schlüssige Beweise weiterhin in Haft befinden. Von den 152.000 Staatsbediensteten, die aufgrund der Notstandsdekrete entlassen wurden, haben 125.000 Einspruch bei der Sonderkommission erhoben. 81.000 Beschwerden sind dort noch immer anhängig, wobei die positiven Bescheide im Sinne einer Wiedereinstellung nur sieben Prozent ausmachen.

Das EP zeigte sich zutiefst besorgt wegen der von mehreren Menschenrechtsorganisationen und dem Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte geäußerten Vorwürfe, dass Gefangene misshandelt und gefoltert würden. Das EP sieht die Antiterrormaßnahmen als Missbrauch zur Legitimation der Verstöße gegen die Menschenrechte und fordert die Türkei nachdrücklich auf, bei ihren Antiterrormaßnahmen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und ihre Rechtsvorschriften zur Terrorbekämpfung an die internationalen Menschenrechtsnormen anzupassen.

Das EP verurteilte die verstärkte Kontrolle der Arbeit von Richtern und Staatsanwälten durch die Exekutive und den politischen Druck, dem sie ausgesetzt sind. Besorgnis herrschte angesichts der mangelnden Achtung der Religionsfreiheit, der fortgesetzten Diskriminierung religiöser Minderheiten und der aus religiösen Gründen verübten Gewalttaten. Besorgniserregend seien auch die Lage im Südosten der Türkei und die schwerwiegenden Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen, übermäßiger Gewaltanwendung, Folter und der massiven Beschneidung des Rechts auf Meinungsfreiheit und politische Teilhabe (EP 13.3.2019b)

Das türkische Außenministerium verlautbarte, dass es der Resolution keinen Wert beimesse, da sie einseitig, voreingenommen und unfair sei. Es sei u.a. bedenklich, dass der extreme rechte und linke Flügel, die das Europäische Parlament zu dominieren begännen, die Resolution in einen ausgrenzenden, diskriminierenden und populistischen Text verwandelt hätten, der nicht der Realität entspräche (TFM 13.3.2019).

Quellen:

* EP - Europäisches Parlament (Presseraum) (13.3.2019a): Parlament will EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aussetzen, http://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20190307IPR30746/parlament-will-eu-beitrittsverhandlungen-mit-der-turkei-aussetzen , Zugriff 14.3.2019

* EP - European Parliament (13.3.2019b): 2018 Report on Turkey - European Parliament resolution of 13March 2019 on the 2018 Commission Report on Turkey (2018/2150(INI)), http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML TA P8-TA-2019-0200 0 DOC PDF V0//EN, Zugriff 14.3.2019

* TFM - Turkish Foreign Ministry (13.3.2019): No: 52, 13 March 2019, Press Release Regarding the European Parliament's Resolution Regarding 2018 Report on Turkey, http://www.mfa.gov.tr/no_52_-avrupa-parlamentosu-2018-turkiye-raporu-hk.en.mfa , 14.3.2019

KI vom 28.1.2019, Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) zur Menschenrechtslage und der Situation der Opposition

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) hat am 24.1.2019 eine Resolution [Nr.2260] zur weiterhin besorgniserregenden Lage der Demokratie, sowie zur Verschlechterung der Situation der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte verabschiedet. Mit Sorge sieht PACE die Aufhebung der Immunität von über 154 Parlamentariern, wovon die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) unverhältnismäßig stark betroffen ist; die Auswirkungen der, während des Ausnahmezustandes zwischen Juli 2016 und Juli 2018 erlassenen Notstandsdekrete auf die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die Medien und die lokale Demokratie;

die Verfassungsreformen von 2017; die übereilte Durchführung der vorgezogenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Juni 2018 und die, diesen unmittelbar vorausgegangene, Wahlrechtsreform. Die Meinungsfreiheit steht laut PACE vor dauerhaften Herausforderungen, insbesondere durch das Anti-Terror-Gesetz und dessen breite Auslegung sowie durch die Artikel 299 und 301 des Strafgesetzbuches.

In diesem Zusammenhang bringt die Versammlung ihre Besorgnis über die Inhaftierung von oppositionellen Parlamentariern, einschließlich des ehemaligen Co-Vorsitzenden der HDP Selahattin Demirtas, zum Ausdruck. Laut PACE diente die wiederholte Haftverlängerung für Demirtas, gerade während der entscheidenden Kampagnen zum Verfassungsreferendum und den Präsidentschaftswahlen, dem Zweck den Pluralismus zu unterdrücken und die Freiheit der politischen Debatte einzuschränken. Enttäuschend und besorgniserregend ist hierbei die Behauptung von Staatspräsident Erdogan, wonach die Türkei trotz der Verpflichtung, Gerichtsurteile gemäß Artikel 46 der Europäischen Menschenrechtskonvention umzusetzen, im Fall von Herrn Demirtas nicht an das Kammerurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebunden sei, das dessen sofortige Freilassung eingemahnt hat. PACE ist daher der Ansicht, dass diese Entwicklungen in Summe die Fähigkeit der Oppositionspolitiker, ihre Rechte auszuüben und ihre demokratischen Rollen innerhalb und außerhalb des Parlaments zu erfüllen, zunehmend verringern, behindern oder untergraben. Zudem sind gemäß PACE die Rechte von Oppositionspolitikern auf lokaler Ebene eingeschränkt, insbesondere im Zusammenhang mit der Kurdenfrage, nämlich infolge des Austauschs von über 90 gewählten Bürgermeistern der HDP oder ihrer Schwesterpartei durch von der Regierung ernannte Treuhänder, unter Verstoß gegen die Europäische Charta der lokalen Selbstverwaltung. Dies habe das Funktionieren der lokalen Demokratie, insbesondere im Südosten der Türkei, ernsthaft beeinträchtigt. Die Situation der Oppositionspolitiker hat sich in einem Kontext verschlechtert, der durch kontinuierliche restriktive Maßnahmen der Behörden gekennzeichnet ist, um insbesondere Journalisten, Richter, Staatsanwälte, Anwälte, Wissenschaftler und andere abweichende Stimmen zum Schweigen zu bringen (PACE 24.1.2018).

Quellen:

* PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe (24.1.2019): The worsening situation of opposition politicians in Turkey: what can be done to protect their fundamental rights in a Council of Europe member State? [Resolution 2260 (2019)], http://assembly.coe.int/nw/xml/Xref/Xref-XML2HTML-EN.asp?fileid=25425&lang=en , Zugriff 28.1.2019

Politische Lage

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems (9.7.2018) der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 3.8.2018).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, I der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Es gilt eine 10%-Hürde für Parteien bzw. Wahlkoalitionen, die höchste unter den Staaten der OSZE und des Europarates. Die Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die den demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates beschränkt und der Gesetzgebung diesbezügliche unangemessene Einschränkungen erlaubt. Im Rahmen der Verfassungsänderungen 2017 wurde die Zahl der Sitze von 550 auf 600 erhöht und die Amtszeit des Parlaments von vier auf fünf Jahre verlängert (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Am 16.4.2017 stimmten bei einer Beteiligung von 85,43% der türkischen Wählerschaft 51,41% für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsah (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Der Staat hat nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017). Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, dass 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet worden seien. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen (AM 18.7.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen (FAZ 19.4.2017).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter dem Namen "Volksbündnis", verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative Iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen; den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen; das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft; das Regierungsbudget aufzustellen; Vetogesetze zu erlassen; und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte und zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z. B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann (EC 17.4.2018).

Unter dem Ausnahmezustand wurde die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber eingeschränkt, da die Regierung auf Verordnungen mit "Rechtskraft" zurückgriff, um Fragen zu regeln, die nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren hätten behandelt werden müssen. Das Parlament erörterte nur eine Handvoll wichtiger Rechtsakte, insbesondere das Gesetz zur Änderung der Verfassung und umstrittene Änderungen seiner Geschäftsordnung. Nach den sich verschärfenden politischen Spannungen im Land wurde der Raum für den Dialog zwischen den politischen Parteien im Parlament weiter eingeschränkt. Die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) wurde besonders an den Rand gedrängt, da viele HDP-ParlamentarierInnen wegen angeblicher Unterstützung terroristischer Aktivitäten verhaftet und zehn von ihnen ihres Mandates enthoben wurden (EC 17.4.2018). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage lang den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Grundsätzlich darf es wie im Ausnahmezustand nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können sie Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen". Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Außerdem will die Regierung wie während des Ausnahmezustandes die Pässe derer, die wegen Terrorverdachts aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert werden, ungültig machen. Auch die Pässe ihrer Ehepartner können weiterhin annulliert werden (ZO 25.7.2018). Auf der Plus-Seite der gesetzlichen Regelungen steht die weitere Verkürzung der Zeit in Polizeigewahrsam ohne richterliche Anordnung von zuletzt sieben auf nun maximal vier Tage. Innerhalb von 48 Stunden nach der Festnahme sind Verdächtige an den Ort des nächstgelegenen Gerichts zu bringen. In den ersten Monaten nach dem Putsch konnten Bürger offiziell bis zu 30 Tage in Zellen verschwinden, ohne einen Richter zu sehen (NZZ 18.7.2018).

Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden über 150.000 Personen in Gewahrsam genommen, 78.000 verhaftet und über 110.000 Beamte entlassen, während nach Angaben der Behörden etwa 40.000 wieder eingestellt wurden, etwa 3.600 von ihnen per Dekret (EC 17.4.2018). Justizminister Abdulhamit Gül verkündete am 10.2.2017, dass rund 38.500 Mitglieder der Gülen-Bewegung, 10.000 der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und rund 1.350 Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei in Untersuchungshaft genommen oder verurteilt wurden. 2017 wurden von Staatsanwälten mehr als vier Millionen Untersuchungen eingeleitet. Laut Gül verhandelten die Obersten Strafgerichte 2017 mehr als sechs Millionen neue Fälle (HDN 12.2.2017). Die türkische Regierung hat Ermittlungen gegen insgesamt 612.347 Personen in der gesamten Türkei eingeleitet, weil sie in den letzten zwei Jahren angeblich "bewaffneten terroristischen Organisationen" angehört haben. Das Justizministerium gibt an, dass allein 2017 Ermittlungen gegen 457.425 Personen eingeleitet wurden, die im Sinne von Artikel 314 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) als Gründer, Führungskader oder Mitglieder bewaffneter Organisationen gelten (TP 10.9.2018, vgl. SCF 7.9.2018). Mit Stand 29.8.2018 waren rund 170.400 Personen entlassen und 81.400 Personen in Gefängnissen inhaftiert (TP 29.8.2018). [siehe auch: 4. Rechtsschutz/Justizwesen, 5.Sicherheitsbhörden und 3.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung]

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei

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- AM - Al Monitor (18.4.2017): Calls for referendum annulment rise in Turkey, http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/04/turkey-referendum-fraud.html , Zugriff 19.9.2018

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Sicherheitslage

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage. In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen. Im Südosten des Landes sind die Spannungen besonders groß, und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen. Der nach dem Putschversuch vom 15.7.2016 ausgerufene Notstand wurde am 18.7.2018 aufgehoben. Allerdings wurden Teile der Terrorismusabwehr, welche Einschränkungen gewisser Grundrechte vorsehen, ins ordentliche Gesetz überführt. Die Sicherheitskräfte verfügen weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen. Trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen besteht das Risiko von Terroranschlägen jederzeit im ganzen Land. Im Südosten und Osten des Landes, aber auch in Ankara und Istanbul haben Attentate wiederholt zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert, darunter Sicherheitskräfte, Bus-Passagiere, Demonstranten und Touristen (EDA 19.9.2018). Im Juli 2015 flammte der Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK wieder militärisch auf, der Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Intensität des Konflikts innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 3.8.2018).

Mehr als 80% der Provinzen im Südosten des Landes waren zwischen 2015 und 2016 von Attentaten der PKK, der TAK und des sogenannten IS, sowie Vergeltungsoperationen der Regierung und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften betroffen (SFH 25.8.2016). Ein hohes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 3 des BMEIA) gilt in den Provinzen Agri, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbakir, Gaziantep, Hakkari, Kilis, Mardin, Sanliurfa, Siirt, Sirnak, Tunceli und Van - ausgenommen in den Grenzregionen zu Syrien und dem Irak. Gebiete in den Provinzen Diyarbakir, Elazig, Hakkari, Siirt und Sirnak können von den türkischen Behörden und Sicherheitskräften befristet zu Sicherheitszonen erklärt werden. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 2) gilt im Rest des Landes (BMEIA 9.10.2018).

1,6 Millionen Menschen in den städtischen Zentren waren während der Kämpfe 2015-2016 von Ausgangssperren betroffen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben in manchen Fällen schwere Waffen eingesetzt. Mehre Städte in den südöstlichen Landesteilen wurden zum Teil schwer zerstört (CoE-CommDH 2.12.2016). Im Jänner 2018 veröffentlichte Schätzungen für die Zahl der seit Dezember 2015 aufgrund von Sicherheitsoperationen im überwiegend kurdischen Südosten der Türkei Vertriebenen, liegen zwischen 355.000 und 500.000 (MMP 1.2018).

Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK bzw. ihrer Ableger, des sogenannten Islamischen Staates sowie - in sehr viel geringerem Ausmaß - auch linksextremistischer Gruppierungen wie der Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) ausgesetzt (AA 3.8.2018). Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Mitgliedern bewaffneter Gruppen wurden weiterhin im gesamten Südosten gemeldet. Nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums wurden vom 2. bis 3. Juli 2015 und 11. Juni 2017 im Rahmen von Sicherheitsoperationen 10.657 Terroristen "neutralisiert" (OHCHR 3.2018). Die Sicherheitslage im Südosten ist weiterhin angespannt, wobei 2017 weniger die urbanen denn die ländlichen Gebiete betroffen waren (EC 17.4.2018).

Es ist weiterhin von einem erhöhten Festnahmerisiko auszugehen. Behörden berufen sich bei Festnahmen auf die Mitgliedschaft in Organisationen, die auch in der EU als terroristische Vereinigung eingestuft sind (IS, PKK), aber auch auf Mitgliedschaft in der so genannten "Gülen-Bewegung", die nur in der Türkei unter der Bezeichnung "FETÖ" als terroristische Vereinigung eingestuft ist. Auch geringfügige, den Betroffenen unter Umständen gar nicht bewusste oder lediglich von Dritten behauptete Berührungspunkte mit dieser Bewegung oder mit ihr verbundenen Personen oder Unternehmen können für eine Festnahme ausreichen. Öffentliche Äußerungen gegen den türkischen Staat, Sympathiebekundungen mit von der Türkei als terroristisch eingestuften Organisationen und auch die Beleidigung oder Verunglimpfung von staatlichen Institutionen und hochrangigen Persönlichkeiten sind verboten, worunter auch regierungskritische Äußerungen im Internet und in den sozialen Medien fallen (AA 10.10.2018a).

Quellen:

* AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei

* AA - Auswärtiges Amt (10.10.2018a): Reise- und Sicherheitshinweise, http://www.auswaertiges-amt.de/sid_28DF483ED70F2027DBF64AC902264C1D/DE/Laenderinformationen/00-SiHi/Nodes/TuerkeiSicherheit_node.html , Zugriff 9.10.2018

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* CoE-CommDH - Council of Europe - Commissioner for Human Rights (2.12.2016): Memorandum on the Human Rights Implications of Anti-Terrorism Operations in South-Eastern [CommDH (2016)39], https://www.ecoi.net/en/file/local/1268258/1226_1481027159_commdh-2016-39-en.pdf , Zugriff 19.9.2018

* EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf , Zugriff 18.9.2018

* EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.9.2018): Reisehinweise Türkei, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/tuerkei/reisehinweise-fuerdietuerkei.html , Zugriff 19.9.2018

* MMP - Mixed Migration Platform (1.2018): Mixed Migration Monthly Summery, http://www.mixedmigration.org/wp-content/uploads/2018/05/ms-me-1801.pdf , Zugriff 20.9.2018

* OHCHR - UN Office of the High Commissioner for Human Rights (3.2018): Report on the impact of the state of emergency on human rights in Turkey, including an update on the South-East; January - December 2017, März 2018, https://www.ecoi.net/en/file/local/1428849/1930_1523344025_2018-03-19-second-ohchr-turkey-report.pdf , Zugriff 20.9.2018

* SFH - Schweizerische Flüchtlingshilfe (25.8.2016): Türkei: Situation im Südosten - Stand August 2016, https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/europa/tuerkei/160825-tur-sicherheitslage-suedosten.pdf , Zugriff 24.1.2017

Rechtsschutz/Justizwesen

Die Gewaltenteilung wird in der Verfassung festgelegt. Laut Art. 9 erfolgt die Rechtsprechung durch unabhängige Gerichte. Die in Art. 138 der Verfassung geregelte Unabhängigkeit der Richter ist durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK, bis 2017 "Hoher Rat der Richter und Staatsanwälte", HSYK) in Frage gestellt. Der Rat ist u. a. für Ernennungen, Versetzungen und Beförderungen zuständig. Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen. Im Februar 2014 wurden im Nachgang zu den Korruptionsermittlungen gegen Mitglieder der Regierung Erdogan Änderungen im Gesetz zur Reform des HSK vorgenommen. Sie führten zur Einschränkung der Unabhängigkeit der Justiz mit Übertragung von mehr Kompetenzen an den Justizminister, der gleichzeitig auch Vorsitzender des Rates ist. Durch die Kontrollmöglichkeit des Justizministers ist der Einfluss der Exekutive im HSK deutlich gestiegen. Seitdem kam es zu Hunderten von Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten. Im ersten Halbjahr 2015 wurde auch gegen Richter und Staatsanwälte ermittelt, die als mutmaßliche Gülen-Anhänger illegale Abhörmaßnahmen angeordnet haben sollen. Nach dem Putschversuch von Mitte Juli 2016 wurden fünf Richter und Staatsanwälte des HSK verhaftet. Tausende von Richtern und Staatsanwälten wurden aus dem Dienst entlassen. Seit Inkrafttreten der im April 2017 verabschiedeten Verfassungsänderungen wird der HSK zur Hälfte von Staatspräsident und Parlament ernannt, ohne dass es bei den Ernennungen einer Mitwirkung eines anderen Verfassungsorgans bedürfte. Die Zahl der Mitglieder des HSK wurde von 22 auf 13 reduziert (AA 3.8.2018).

Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: Der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte), und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum im April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung der Verfassungsgerichtshof (Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Danistay), der Kassationshof (Yargitay) und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyusmazlik Mahkemesi). Die Staatssicherheitsgerichte (Devlet Güvenlik Mahkemeleri-DGM) wurden im Zuge der Reformen für die EU-Beitrittsverhandlungen 2004 abgeschafft und die laufenden Fälle an die Großen Strafkammern (Agir Ceza Mahkemeleri) abgegeben (ÖB 10.2017).

Es gab einen schweren Rückschritt hinsichtlich der Funktionsfähigkeit des Justizwesens. Die Unabhängigkeit der türkischen Justiz wurde ernsthaft untergraben, unter anderem durch die Entlassung und Zwangsversetzung von 30% der türkischen Richter und Staatsanwälte nach dem Putschversuch 2016. Diese Entlassungen hatten eine abschreckende Wirkung auf die gesamte Justiz und bergen die Gefahr einer weitreichenden Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten in sich (EC 17.4.2018, vgl. AI 22.2.2018).

Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, welche die Unabhängigkeit der Justiz gewährleisten. Im Gegenteil, Verfassungsänderungen in Bezug auf den Rat der Richter und Staatsanwälte haben dessen Unabhängigkeit von der Exekutive weiter untergraben. Es wurden keine Maßnahmen ergriffen, um den Bedenken hinsichtlich des Fehlens objektiver, leistungsbezogener, einheitlicher und im Voraus festgelegter Kriterien für die Ernennung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten Rechnung zu tragen (EC 17.4.2018).

Obwohl Richter immer noch gelegentlich gegen die Interessen der Regierung entscheiden, hat die Ernennung Tausender neuer, der Regierung gegenüber loyaler Richter, die bei einem Urteil gegen die Exekutive in bedeutenden Gerichtsfällen mit potenziellen beruflichen Konsequenzen zu rechnen haben, die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei stark geschwächt. Gleiches gilt für die Auswirkungen der laufenden Säuberung insgesamt. Diese Entwicklung setzte zwar schon weit vor dem Putschversuch im Juli 2016 ein, verstärkte sich aber bis Ende 2017 angesichts der Massenentlassungen von Richtern und Staatsanwälten. In hochkarätigen Fällen werden Richter und Gerichtsverfahren transferiert, so dass das Gericht der Position der Regierung wohlgesonnen ist. Eine langfristige Erosion der Garantie für ordnungsgemäße Verfahren hat sich im Ausnahmezustand beschleunigt. Antiterroranschuldigungen, die seit dem Putschversuch erhoben werden, beruhen oft auf sehr schwachen Indizienbeweisen, geheimen Zeugenaussagen oder einer sich ständig erweiternden Schuldvermutung durch die Festlegung neuer Verbindungspunkte. In vielen Fällen wurden Rechtsanwälte, die die Angeklagten wegen Terrorismusdelikten verteidigen, selbst verhaftet. Längere Untersuchungshaft ist zur Routine geworden (FH 1.2018).

Insgesamt wurden seit dem Putschversuch über 4.000 Richter und Staatsanwälte aus ihren Ämtern entlassen, von denen 454 später vom HSK wieder in ihre Ämter eingesetzt wurden. Gegenwärtig gibt es über 4.000 Richter und Staatsanwälte, gegen die rechtliche Schritte eingeleitet wurden (Entlassung oder Suspendierung). Richter und Staatsanwälte, die sich in Untersuchungshaft befanden, blieben im Durchschnitt mehr als ein Jahr lang ohne Anklage inhaftiert (EC 17.4.2018).

Die Vereinigung der Richter und Staatsanwälte (YARSAV), eine unabhängige Vereinigung der Mitglieder der Justiz in der Türkei, wurde nach dem Putschversuch aufgelöst und ihr Vorsitzender, Murat Arslan, sowie andere Mitglieder inhaftiert (PACE 15.12.2016, vgl. AM 9.11.2016). YARSAV gehörte zu den ersten, die auf internationaler Ebene über die Bedrohungen der Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei sprachen, und alsbald als einzige türkische Organisation der Internationalen Richtervereinigung sowie den "Europäischen Richtern für Demokratie und Freiheitsrechte" (MEDEL) beitrat. Obwohl YARSAV sich einst vehement gegen die Aufnahme von Gülen-Mitgliedern in die Justiz ausgesprochen hatte, wurde die Schließung von YARSAV mit der Nähe zur Gülen-Bewegung begründet (AM 9.11.2016).

Das Verfassungsgericht prüft die Vereinbarkeit von einfachem Recht mit der Verfassung. Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof. Nach dem Putschversuch wurden zwei Richter des Verfassungsgerichts verhaftet und mit Beschluss des Plenums des Gerichts entlassen. Im Januar 2018 entschied das Verfassungsgericht im Fall von zwei Journalisten, dass sie durch ihre Untersuchungshaft in ihren Grundrechten verletzt seien und aus der Haft zu entlassen seien. Die mit dem Fall befassten ordentlichen Gerichte weigerten sich jedoch, diese verbindliche Entscheidung umzusetzen (AA 3.8.2018).

Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Mängel gibt es beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen für Beschuldigte und Rechtsanwälte. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der PKK oder ihrem zivilen Arm KCK werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Anwälte werden vereinzelt daran gehindert bei Befragungen ihrer Mandanten anwesend zu sein. Dies gilt insbesondere in Fällen mit dem Verdacht auf terroristische Aktivitäten (AA 3.8.2018).

Die maximale Untersuchungshaftdauer beträgt bei herkömmlichen Delikten je nach Schwere bis zu drei Jahre. Bei terroristischen Straftaten beträgt die maximale Untersuchungshaftdauer sieben Jahre (ÖB 10.2017).

Während des Ausnahmezustandes hat der Ministerrat mehr als 30 Dekrete erlassen, die nach der Verfassung "rechtskräftig" sind. Diese Notverordnungen betrafen die Einschränkung bestimmter bürgerlicher und politischer Rechte, der Ausweitung der Polizeibefugnisse und der Befugnisse der Staatsanwälte für Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen, die massiven Entlassungen von Beamten und die Schließung von Körperschaften sowie die Liquidation ihres Vermögens durch den Staat. Sie betreffen zudem Schlüsselrechte im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention, wie das Recht auf ein faires Verfahren, das Recht auf einen wirksamen Rechtsbeistand und das Recht auf Schutz des Eigentums. Sie enthalten Änderungen für andere wichtige Rechtsmaterien, die auch nach dem Ausnahmezustand Wirkung zeigen werden, insbesondere in Bezug auf Eigentumsrechte, lokale Behörden, öffentliche Verwaltung und Telekommunikation. Die Dekrete werfen ernsthafte Fragen die Verhältnismäßigkeit der getroffenen Maßnahmen betreffend auf. Sie wurden vom Parlament nicht sorgfältig und wirksam geprüft und zudem verspätet verabschiedet. Folglich standen die Dekrete lange Zeit nicht der gerichtlichen Überprüfung offen, da die Verabschiedung durch das Parlament ein notwendiger Schritt vor jeder rechtlichen Anfechtung vor dem Verfassungsgericht ist. Keines der Dekrete war bisher Gegenstand einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes (EC 17.4.2018).

Ein am 9.12.2016 von den Verfassungsrechtsexperten des Europarates - der Venedig-Kommission - verabschiedetes Gutachten kommt zum Schluss, dass die türkischen Behörden zwar "mit einer gefährlichen bewaffneten Verschwörung" konfrontiert waren und "gute Gründe" hatten, den Ausnahmezustand auszurufen, doch dass die von der Regierung ergriffenen Maßnahmen über das hinausgingen, was gemäß der türkischen Verfassung und dem Völkerrecht zulässig ist. Obwohl die Bestimmungen der türkischen Verfassung zur Ausrufung des Ausnahmezustands in Einklang mit den europäischen Normen zu stehen scheinen, übte die Regierung ihre Notstandsbefugnisse mithilfe einer Anlassgesetzgebung aus. Etwa die Massenentlassungen zehntausender Beamter auf der Grundlage von den Notdekreten beigefügten Listen, erwecken stark den Anschein von Willkür. Der Begriff der Verbindung (zur Gülen-Bewegung) ist zu vage definiert, und selbst wenn Mitglieder des Gülen-Netzwerks an dem gescheiterten Staatsstreich beteiligt waren, sollte dieser Umstand nicht dazu verwendet werden, gegen alle Personen vorzugehen, die in der Vergangenheit mit dem Netz irgendwie in Kontakt standen (CoE-VC 9.12.2016).

Die Verfassung sieht das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, obwohl Anwaltsverbände und Rechtsvereinigungen geltend machten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und Maßnahmen der Regierung durch Notstandsbestimmungen dieses Recht gefährdet hätten. Richter können den Zugang von Rechtsanwälten zu den Akten der Angeklagten während der Strafverfolgungsphase einschränken. Zwar haben Angeklagte das Recht, bei der Verhandlung anwesend zu sein und rechtzeitig einen Anwalt hinzuzuziehen, doch stellten Beobachter fest, dass die Gerichte es insbesondere in hochkarätigen Fällen verabsäumen, den Angeklagten diese Rechte auch einzuräumen (USDOS 20.4.2018).

Die Regierung setzte auch ihre groß angelegte Entlassung von Beamten aus dem öffentlichen Dienst fort. Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden insgesamt 115.158 Beamte, Richter und Staatsanwälte entlassen. Das breite Spektrum und der kollektive Charakter dieser Maßnahmen wirft ernsthafte Fragen im Hinblick auf die mangelnde Transparenz der Verwaltungsverfahren, die zur Entlassung aus dem öffentlichen Dienst führen, und die Unklarheit der Kriterien für die Bestimmung angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung und die persönliche Beteiligung am Putschversuch auf. Von den Entlassungen waren vor allem das Innen- und Bildungsministerium betroffen. Tausende von Polizeibeamten, Lehrern, Akademikern, Gesundheitspersonal und Angehörigen der Justiz gehören zu denen, die aus dem Amt entfernt wurden (EC 17.4.2018).

Die Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen, die am 23.1.2017 gegründet wurde, hat am 17.7.2017 begonnen, Einsprüche von aufgrund der Notstandsdekrete entlassenen Personen, Vereinen und Firmen entgegenzunehmen (HDN 8.8.2017). Das Verfassungsgericht hatte zuvor rund 70.800 Individualbeschwerden in Zusammenhang mit Handlungen auf der Basis der Notstandsdekrete zurückgewiesen, da die Beschwerden nicht der Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen vorgelegt, und somit nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft wurden (bianet 7.8.2017, vgl. EC 17.4.2018). Nebst den direkt bei der Kommission eingereichten Beschwerden werden auch jene, die vor der Gründung der Kommission bei den Verwaltungsgerichten und beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht wurden, übernommen. Der EGMR hatte zuvor 24.000 Beschwerden abgelehnt. Negative Bescheide der Kommission können bei den Verwaltungsgerichten beeinsprucht werden (HDN 8.8.2017). Bis zur Einsetzung der Kommission wurden 3.604 Personen per Dekret wieder ins Amt eingesetzt, während weitere 36.000 Wiedereinsetzungen nach einem unklaren und undurchsichtigen Verwaltungsverfahren in verschiedenen Institutionen erfolgten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat auch etwa 28.000 bei ihm eingegangene Beschwerden an die Berufungskommission weitergeleitet. Infolgedessen hat die Beschwerdekommission bis Anfang März 2018 insgesamt rund 107.000 Beschwerdeanträge erhalten. Die Urteilsverkündungen begannen im Dezember 2017. Bis Anfang März 2018 wurden insgesamt 6.400 Fälle untersucht, darunter 1.984 vorläufige Prüfungsentscheidungen zu Personen, die per Dekret wieder eingegliedert wurden. Die Beschwerdekommission hat über 4.400 Prüfungsentscheidungen getroffen. Von diesen waren 100 positiv und 4.316 wurden abgelehnt. Es bedarf laut Europäischer Kommission einer größeren Transparenz der Arbeit der Beschwerdekommission und einer klaren Begründung für ihre Entscheidungen auf der Basis einer individuellen Prüfung jeder Akte nach ihren eigenen Gesichtspunkten (EC 17.4.2018).

Am 24.12.2017 wurde das Notstandsdekret Nr. 696 veröffentlicht, welches u. a. die Straffreiheit von Zivilisten regelt, die während der Putschnacht vom 15. auf den 16.7.2016 Putschisten gewaltsam daran gehindert haben, die Regierung zu stürzen. Hierbei wurde Artikel 121 des Notstandsgesetz vom 11.9.2016 um den Zusatz "Zivilisten" ergänzt, die keinen Beamtenstatus besitzen. Das ältere Notstandsgesetz besagte, dass gegen Beamte die beim Putschversuch und in diesem Zusammenhang in nachfolgenden Terroraufständen Widerstand geleistet haben, juristisch nicht belangt werden können (Turkishpress 25.12.2017). Kritiker befürchten, dass dies in Zukunft einen Freifahrtschein für ungezügelte Gewalt und Misshandlungen gegen Oppositionelle bedeute und den Aktionen paramilitärischer Einheiten Vorschub leiste (FNS 31.12.2017; vgl. OHCHR 3.2018). Der türkische Justizminister bekräftigte, dass das Notstandsdekret keine Blanko-Amnestie sei und sich ausschließlich auf die Umstände während der Putschnacht und der Periode unmittelbar danach bezöge (Turkishpress 25.12.2017, vgl. FNS 31.12.2017).

288 Prozesse wurden landesweit wegen des Putschversuches durchgeführt, bei denen die Gerichte 180 Urteile gefällt haben. 636 Verdächtige erhielten eine erschwerte lebenslange Freiheitsstrafe, während 888 zu lebenslangen und 653 zu Freiheitsstrafen von einem Jahr und zwei Monaten bis zu 20 Jahren verurteilt wurden. In den Prozessen wegen des Putschversuches wurden 1.552 Verdächtige freigesprochen, und in 595 Fällen wurde eine sog. Nichtverfolgungsentscheidung getroffen (SCF 20.6.2018, HDN 7.6.2018). So verhängte ein Gericht in Izmir gegen 104 der 280 Angeklagten wegen "versuchten Umsturzes der Verfassungsordnung" sogenannte "verschärfte" lebenslange Haftstrafen. 21 weitere Angeklagte wurden zu zwanzigjährigen Haftstrafen wegen der versuchten Ermordung von Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan verurteilt. 31 Angeklagte müssen wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" für zehneinhalb Jahre in Haft. Alle Angeklagten seien frühere Angehörige des Militärs gewesen, darunter mehrere Generäle und ranghohe Offiziere (ZO 21.5.2018).

Per Dekret wurde Staatspräsident Erdogan im August 2017 ermächtigt, ausländische Gefangene ohne Einschaltung der Justiz in deren Heimatländer abzuschieben oder gegen türkische Staatsbürger auszutauschen (HB 28.8.2017). Dies geschieht auf Antrag des Außenministers. Somit kann die Türkei festgehaltene Ausländer in diplomatischen Verhandlungen nützen (AM 30.8.2017).

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* FNS - Friedrich Naumann Stiftung (31.12.2017): TÜRKEI BULLETIN 24/17 (Berichtszeitraum: 18. - 31. Dezember 2017), http://shop.freiheit.org/download/P2@727/126939/TB_2017-24.pdf , Zugriff 19.9.2018

* HB - Handelsblatt (28.8.2017): Sieben Jahre Haft - ohne Urteil, http://www.handelsblatt.com/politik/international/neues-dekret-von-erdogan-sieben-jahre-haft-ohne-urteil/20247280.html , Zugriff 18.9.2018

* HDN - Hürriyet Daily News (8.8.2017): Turkish state of emergency commission receives over 38,000 appeals, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-state-of-emergency-commission-receives-over-38000-appeals-.aspx?pageID=238&nID=116469&NewsCatID=338 , Zugriff 18.9.2018

* HDN - Hürriyet Daily News (7.6.2018): Over 2,000 suspects given jail terms in Turkey coup trials: Ankara, http://www.hurriyetdailynews.com/over-2-000-suspects-given-jail-terms-in-turkey-coup-trials-ankara-132964 , 21.9.2018

* PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Ad hoc Sub-Committee on recent developments in Turkey (15.12.2016): Report on the fact-finding visit to Ankara (21-23 November 2016)[ AS/Pol (2016) 18rev], http://website-pace.net/documents/18848/2197130/20161215-Apdoc18.pdf/35656836-5385-4f88-86bd-17dd5b8b9d8f , Zugriff 19.9.2018

* ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei

* OHCHR - UN Office of the High Commissioner for Human Rights (3.2018): Report on the impact of the state of emergency on human rights in Turkey, including an update on the South-East; January - December 2017, https://www.ecoi.net/en/file/local/1428849/1930_1523344025_2018-03-19-second-ohchr-turkey-report.pdf , Zugriff 19.9.2018

* SCF - Stockholm Center for Freedom (20.6.2018): Turkish gov't investigates 203,518 people over links to Gülen movement thus far, https://stockholmcf.org/turkish-govt-investigates-203518-people-over-links-to-gulen-movement-thus-far/ , Zugriff 21.9.2018

* Turkishpress (25.12.2017): Türkei: Streit um Notstandsdekret 696, https://turkishpress.de/news/politik/25-12-2017/tuerkei-streit-um-notstandsdekret-696 , Zugriff 19.9.2018

* USDOS - US Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430322.html , Zugriff 19.9.2018

* ZO - Zeit Online (21.5.2018): Gericht verhängt mehr als 100 lebenslange Haftstrafen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-05/tuerkei-militaerputsch-lebenslange-haft-putschisten , 21.9.2018

Sicherheitsbehörden

Die Polizei übt ihre Tätigkeit in den Städten aus. Die Jandarma ist für die ländlichen Gebiete und Stadtrandgebiete zuständig und untersteht dem Innenminister. Polizei und Jandarma sind zuständig für innere Sicherheit, Strafverfolgung und Grenzschutz.Der Einfluss der Polizei wird seit den Auseinandersetzungen mit der Gülen-Bewegung sukzessive von der AKP zurückgedrängt (massenhafte Versetzungen, Suspendierungen vom Dienst und Strafverfahren). Die politische Bedeutung des Militärs ist in den letzten Jahren stark zurückgegangen. Auch das traditionelle Selbstverständnis der türkischen Armee als Hüterin der von Staatsgründer Kemal Atatürk begründeten Traditionen und Grundsätze, besonders des Laizismus und der Einheit der Nation (v. a. gegen kurdischen Separatismus), ist in Frage gestellt (AA 3.8.2018).

Am 9.7.2018 erließ Staatspräsident Erdogan ein Dekret, das die Kompetenzen der Armee neu ordnet. Der türkische Generalstab wurde dem Verteidigungsministerium unterstellt. Der Oberste Militärrat wurde aufgelöst. Erdogan hat auch den Nationalen Sicherheitsrat und das Sekretariat für nationale Sicherheit der Türkei abgeschafft. Ihre Aufgaben werden vom Komitee für Sicherheit und Außenpolitik (Board of Security and Foreign Policy) übernommen, einem von neun beratenden Gremien, die dem Staatspräsidenten unterstehen. Ebenfalls per Dekret wird der Verteidigungsminister nun zum wichtigsten Entscheidungsträger für die Sicherheit. Landstreitkräfte, Marine- und Luftwaffenkommandos wurden dem Verteidigungsminister unterstellt. Der Präsident kann bei Bedarf direkt mit den Kommandeuren der Streitkräfte verhandeln und Befehle erteilen, die ohne weitere Genehmigung durch ein anderes Büro umgesetzt werden sollen. Hiermit soll die Schwäche der Sicherheitskommando-Kontrolle während des Putschversuchs in Zukunft vermieden werden (AM 17.7.2018).

Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem MIT erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen über terroristische und internationale Straftaten. MIT-Agenten besitzen von nun an eine größere Immunität gegenüber dem Gesetz. Es sieht Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren für Personen vor, die Geheiminformation veröffentlichen (z.B. Journalist Can Dündar). Auch Personen, die dem MIT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft. Die Entscheidung, ob gegen den MIT-Vorsitzenden ermittelt werden darf, bedarf mit der Novelle April 2014 der Zustimmung des Staatspräsidenten. Seit September 2017 untersteht der türkische Nachrichtendienst MIT direkt dem Staatspräsidenten und nicht mehr dem Amt des Premierministers (ÖB 10.2017).

Das türkische Parlament verabschiedete am 27.3.2015 eine Änderung des Sicherheitsgesetzes, das terroristische Aktivitäten unterbinden soll. Dadurch wurden der Polizei weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder Ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen. Zudem werden die von der Regierung ernannten Provinzgouverneure ermächtigt, den Ausnahmezustand zu verhängen und der Polizei Instruktionen zu erteilen (NZZ 27.3.2015, vgl. FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Chefs der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (Anadolu 27.3.2015).

Vor dem Putschversuch im Juli 2016 hatte die Türkei 271.564 Polizisten und 166.002 Gendarmerie-Offiziere (einschließlich Wehrpflichtige). Nach dem Putschversuch wurden mehr als 18.000 Polizei- und Gendarmerieoffiziere suspendiert und mehr als 11.500 entlassen, während mehr als 9.000 inhaftiert blieben (EC 9.11.2016). Anfang Jänner 2017 wurden weitere 2.687 Polizisten entlassen (Independent 7.1.2017). Die Regierung ordnete am 8.7.2018 im letzten Notstandsdekret vor der Aufhebung des Ausnahmezustandes die Entlassung von 18.632 Staatsangestellten an, darunter fast 9.000 Polizisten wegen mutmaßlicher Verbindungen zu Terrororganisationen und Gruppen, die "gegen die nationale Sicherheit vorgehen", 3.077 Armeesoldaten, 1.949 Angehörige der Luftwaffe und 1.126 Angehörige der Seestreitkräfte (HDN 8.7.2018).

Quellen:

* AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei

* AM - Al Monitor (17.7.2018): Erdogan makes major security changes as he starts new term, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2018/07/turkey--revamping-national-security-apparatus.html , Zugriff 18.9.2018

* Anadolu Agency (27.3.2015): Turkey: Parliament approves domestic security package, http://www.aa.com.tr/en/s/484662--turkey-parliament-approves-domestic-security-package , Zugriff 18.9.2018

* EC - European Commission (9.11.2016): Turkey 2016 Report [SWD (2016)366 final], http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/key_documents/2016/20161109_report_turkey.pdf , Zugriff 18.9.2018

* FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (27.3.2015): Die Polizei bekommt mehr Befugnisse, http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/tuerkei/tuerkei-mehr-befugnisse-fuer-polizei-gegen-demonstranten-13509122.html , Zugriff 18.9.2018

* HDN - Hürriyet Daily News (27.3.2015): Turkish main opposition CHP to appeal for the annulment of the security package, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-main-opposition-chp-to-appeal-for-the-annulment-of-the-security-package-.aspx?pageID=238&nID=80261&NewsCatID=338 , Zugriff 18.9.2018

* HDN - Hürriyet Daily News (8.7.2018): Over 18,500 Turkish public workers dismissed with new emergency state decree, http://www.hurriyetdailynews.com/over-18-500-turkish-public-workers-dismissed-with-new-emergency-state-decree-134290 , Zugriff 18.9.2018

* Independent (7.1.2017): Turkey dismisses 6,000 police, civil servants and academics under emergency measures following coup, http://www.independent.co.uk/news/world/middle-east/turkey-sacks-workers-emergency-measures-police-civil-servants-academics-a7514021.html , 18.9.2018

* NZZ - Neue Zürcher Zeitung (27.3.2015): Mehr Befugnisse für die Polizei; Ankara zieht die Schraube an, http://www.nzz.ch/international/europa/ankara-zieht-die-schraube-an-1.18511712 , Zugriff 18.9.2018

* ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei

Nichtregierungsorganisationen (NGOs)

Zivilgesellschaftliche Organisationen stehen im Mittelpunkt des Demokratisierungsprozesses in der Türkei. Seit März 2018 gibt es rund 112.668 Vereine und 5.083 neue Stiftungen sowie zahlreiche informelle Organisationen wie Plattformen, Initiativen und Gruppen. Ihre Arbeitsbereiche konzentrieren sich vor allem auf gesellschaftliche Solidarität, soziale Dienste, Bildung, Gesundheit und verschiedene Rechtsthemen. In den letzten Jahren hat der gemeinnützige Sektor in der Türkei sowohl an Größe als auch an Beteiligung zugenommen und einen wichtigen Beitrag zur Demokratisierung des Landes geleistet. Schon vor dem Putschversuch und den späteren Folgen des Ausnahmezustands im Jahr 2016 war der "schrumpfende zivilgesellschaftliche Raum" ein Thema. Trotz verbesserter Rechtsvorschriften für Vereine und Stiftungen, die während des Beitrittsprozesses zur Europäischen Union entstanden, bestehen weiterhin Herausforderungen und Zwänge, insbesondere hinsichtlich des Sekundärrechts und seiner Umsetzung. Seit den großen Reformpaketen von 2004 und 2008 wurden keine umfassenden Reformen durchgeführt. Ab 2018 ist das rechtlich-politische Umfeld für die Entwicklung der Zivilgesellschaft in der Türkei nicht förderlich. Einschränkungen beschränken weiterhin die Vereinigungs-, Versammlungs- und Redefreiheit. Es gibt noch keine konkrete Definition der Zivilgesellschaft und der zivil-gesellschaftlichen Organisationen in den entsprechenden Rechtsvorschriften und politischen Dokumenten, und es fehlt ein eigener, übergreifender und verbindlicher Rechtsrahmen für die Beziehungen zwischen NGOs und öffentlichen Institutionen (ICNL 22.6.2018).

Menschenrechtsorganisationen können wie andere Vereinigungen gegründet und betrieben werden, unterliegen jedoch wie alle Vereine nach Maßgabe des Vereinsgesetzes der rechtlichen Aufsicht durch das Innenministerium. Ihre Aktivitäten werden von Sicherheitsbehörden und Staatsanwaltschaften beobachtet (AA 3.8.2018).

Schon immer haben sich türkische Interessenvertretungen auch sozialen und gesellschaftlichen Problemen und Projekten gewidmet, dies jedoch meist auf konkrete Vorhaben oder Bedürfnisse bezogen. In diesem Bereich fällt auch das ausgeprägte Stiftungswesen in der Türkei, das religiös oder sozial motiviert, die Teilhabe von Benachteiligten an Bildung, Kultur und Versorgung ermöglicht. Zivilgesellschaftliches Engagement im Sinne der politischen Einflussnahme auf Staat, Gesellschaft und Wirtschaft ist in der Türkei eine neuere Erscheinung und seit den 1990er Jahren spürbar (GIZ 12.2016).

Der anhaltende Ausnahmezustand hat den Druck auf die Opposition erhöht und zu immer mehr Einschränkungen der Grundrechte und -freiheiten geführt. Bis zum 15. Juni 2018 hatte die Regierung 31 Notstandsdekrete herausgegeben, von denen fünf einen direkten Einfluss auf NGOs hatten. Im Rahmen des Ausnahmezustands hat die Regierung von Juli 2016 bis März 2018 1.604 Stiftungen und Vereine per Dekret geschlossen, von denen nur 187 wieder eröffnet wurden. Darüber hinaus wird die Meinungsfreiheit nach wie vor durch willkürliche und restriktive Auslegung von Gesetzen sowie durch Schikanen, Entlassungen und häufige Gerichtsverfahren gegen Aktivisten, Journalisten, Akademiker und Nutzer von sozialen Medien untergraben (ICNL 22.6.2018).

Die Regierung ist seit dem Putschversuch gegen NGOs vorgegangen und hat Stiftungen und Vereine geschlossen und deren Vermögen beschlagnahmt. Die NGOs arbeiten zu Themen wie Folter, häusliche Gewalt und Hilfe für Flüchtlinge und Binnenvertriebene (FH 1.2018).

Die Vereine sind nach wie vor des Öfteren (Ermittlungs-) Verfahren mit zum Teil fragwürdiger rechtlicher Grundlage ausgesetzt. Nur wenige der Verfahren gegen Menschenrechtsverteidiger enden mit Freisprüchen. Weit häufiger ziehen sich die Verfahren über mehr als ein Jahr hin, und oft bleiben die Beschuldigten zumindest bis zum ersten Verhandlungstag in Untersuchungshaft. Die mittlerweile weit verbreitete strafrechtliche Verfolgung von Menschenrechtsverteidigern bedeutet zwar nicht, dass sich die Mehrzahl der Menschenrechtsverteidiger in Haft befindet. Auffällig ist aber, dass sich gerade besonders prominente Vertreter menschenrechtlich engagierter zivilgesellschaftlicher Institutionen in Haft befinden (AA 3.8.2018).

Die 2012 gegründete Menschenrechts-Institution der Türkei (MRI, Insan Haklari Kurumu) wurde 2016 durch das Institut für Menschenrechte und Gleichstellung (IMRI, Insan Haklari ve Esitlik Kurumu) ersetzt. Die neue Institution geht aus einem Antidiskriminierungsgesetz hervor, das die Türkei am 6.4.2016 zur Erfüllung der Kriterien zur Visaliberalisierung erlassen hatte. Die Institution besteht aus elf Mitgliedern, die vom Ministerrat (8) und Staatspräsidenten (3) bestimmt werden. Dem IMRI-Institut kommt die Rolle des "Nationalen Präventionsmechanismus" OPCAT zu. Menschenrechtsvereine beurteilen die Neueinrichtung sehr skeptisch, da schon die vorherige Institution keine praktische Relevanz hatte und nicht unabhängig gewesen sei. Nun sei aber klar, dass alle Mitglieder von der Exekutive ernannt werden (AA 3.8.2018, ENNHRI 19.12.2017).

In Bezug auf die Zivilgesellschaft gab es ernsthafte Rückschläge, da sie zunehmend unter Druck geriet, insbesondere angesichts einer großen Zahl von Verhaftungen von Aktivisten, einschließlich Menschenrechtsverteidigern, und der wiederholten Anwendung von Demonstrationsverboten und anderen Arten von Versammlungen, die zu einer raschen Schrumpfung des Raums für Grundrechte und -freiheiten führten. Viele Organisationen, die sich mit Rechtsfragen beschäftigten, blieben unter den Maßnahmen des Ausnahmezustands geschlossen. Ihnen wurde kein Rechtsmittel gegen die durchgeführten Beschlagnahmungen gewährt. Trotzdem blieb die Zivilgesellschaft so weit es ging aktiv und am öffentlichen Leben beteiligt. Das Spektrum der NGOs hat sich erheblich verändert, in welchem den regierungsfreundlichen Organisationen eine deutlichere Rolle zukommt. Der Verwaltungsaufwand, auch für internationale NGOs, behindert weiterhin die Aktivitäten der Zivilgesellschaft (EC 17.4.2018).

Quellen:

* AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei

* EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf , Zugriff 21.8.2018

* ENNHRI - European Network of National Human Rights Institutions (19.12.2017): Human Rights and Equality Institution of Turkey, http://ennhri.org/Human-Rights-and-Equality-Institution-of-Turkey , Zugriff 28.9.2018

* FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2018 - Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/1426448.html , 21.8.2018

* GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (6.2018): Türkei, Gesellschaft, http://liportal.giz.de/tuerkei/gesellschaft/ , Zugriff 21.8.2018

* ICNL - The International Center for Not-for-Profit-Law (22.6.2018): Civic Freedom Monitor: Turkey, http://www.icnl.org/research/monitor/turkey.html , Zugriff 21.8.2018

Ombudsmann und die Nationale Institution für Menschenrechte und Gleichstellung

Seit 2012 verfügt die Türkei auch über das Amt eines Ombudsmannes mit etwa 200 Mitarbeitern. Beschwerden können auf Türkisch, Englisch, Arabisch und Kurdisch eingereicht werden (AA 3.8.2018). Die Institution arbeitet unter dem Parlament, aber als unabhängiger Beschwerdemechanismus für Bürger, um Untersuchungen zu Regierungspraktiken und -maßnahmen, insbesondere in Bezug auf Menschenrechtsprobleme und Personalfragen, zu beantragen, obwohl Entlassungen aufgrund von Notstandsdekreten nicht in ihren Zuständigkeitsbereich fallen (USDOS 20.4.2018). Ferner verfügt das Parlament über einen ständigen Ausschuss für Menschenrechte sowie einen Petitionsausschuss, die sich allerdings kaum mit Fragen wie Presse-, Meinungs-, Versammlungs- und Religionsfreiheit befassen (AA 3.8.2018).

Im Jahr 2017 erhielt die Ombudsmannstelle 17.131 neue Anträge, fast dreimal so viele wie im Durchschnitt der letzten vier Jahre. Da der Ombudsmann jedoch nicht befugt ist, Ermittlungen einzuleiten und keine Rechtsmittel zur Intervention besitzt, schwieg er zu bestimmten Menschenrechtsbelangen, insbesondere zu Menschenrechtsverletzungen im Südosten des Landes. Die Nationale Institution für Menschenrechte und Gleichstellung (Türkiye Insan Haklari Kurumu, TIHK) fungiert auch als nationaler Präventionsmechanismus gegen Folter und hat den Auftrag, Misshandlung und Folter auf Antrag oder von Amts wegen zu untersuchen. Sie hat auch die Befugnis, von sich aus Untersuchungen zu möglichen Menschenrechtsverletzungen einzuleiten. Weder die TIHK noch die Ombudsmannstelle sind operativ, strukturell oder finanziell unabhängig. Ihre Mitglieder werden nicht in Übereinstimmung mit den Pariser Grundsätzen ernannt (EC 17.4.2018).

Quellen:

* AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei

* EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf , Zugriff 21.8.2018

* USDOS - US Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430322.html , Zugriff 14.8.2018

Allgemeine Menschenrechtslage

Vor dem Hintergrund des andauernden Ausnahmezustands kam es zu Menschenrechtsverletzungen. Abweichende Meinungen wurden rigoros unterdrückt, davon waren u. a. Journalisten, politische Aktivisten und Menschenrechtsverteidiger betroffen. Es wurden weiterhin Fälle von Folter bekannt, doch in geringerer Zahl als in den Wochen nach dem Putschversuch vom Juli 2016. Die weitverbreitete Straflosigkeit verhindert die wirksame Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen, die von Angehörigen der Behörden verübt wurden. Es kam auch 2017 zu Menschenrechtsverstößen durch bewaffnete Gruppen; im Januar wurden zwei Anschläge verübt. Doch Bombenanschläge gegen die Bevölkerung, die in den Vorjahren regelmäßig stattfanden, gab es im Jahr 2017 nicht. Für die Lage der im Südosten des Landes vertriebenen Menschen wurde keine Lösung gefunden (AI 22.2.2018).

Das Hochkommissariat der Vereinten Nationen (OHCHR) erhielt weiterhin Informationen über zahlreiche Menschenrechtsverletzungen und Missbräuche, die im Berichtszeitraum in der Südosttürkei im Rahmen der Sicherheitsoperationen seitens türkischer Organe begangen wurden. Die NGO "Human Rights Association" veröffentlichte Statistiken über solche Verletzungen, die angeblich im ersten Quartal 2017 in der ost- und südöstlichen Region Anatoliens stattgefunden haben. Demnach belief sich die Gesamtzahl der Verstöße auf 7.907, darunter 263 Vorfälle von Folterungen in Haft, und über 100 Vorfälle von Kriminalisierung von Personen für die Ausübung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung (OHCHR 3.2018).

Die Notverordnungen haben insbesondere bestimmte bürgerliche und politische Rechte, einschließlich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie der Verfahrensrechte eingeschränkt. Die Zivilgesellschaft ist zunehmend unter Druck geraten, insbesondere angesichts einer großen Zahl von Verhaftungen von Aktivisten und der wiederholten Anwendung von Demonstrationsverboten. Auch in den Bereichen Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Verfahrens- und Eigentumsrechte gab es gravierende Rückschläge. Die Situation in Bezug auf die Verhütung von Folter und Misshandlung gibt weiterhin Anlass zu ernster Besorgnis. Seit September 2016 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in 163 (von 168) Fällen festgestellt, die sich hauptsächlich auf das Recht auf ein faires Verfahren, die Meinungsfreiheit, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Freiheit und Sicherheit bezogen (EC 17.4.2018).

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) stimmte mit großer Mehrheit im April 2018 dafür, ein Verfahren gegen die Türkei zu eröffnen und das Land unter Beobachtung zu stellen. Die Wiederaufnahme des sogenannten Monitorings bedeutet, dass zwei Berichterstatter regelmäßig in die Türkei fahren, um die Einhaltung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit in dem Land zu überprüfen (Zeit 25.4.2017). Die Versammlung beschloss das Monitoring solange durchzuführen, bis der ernsthaften Sorge um die Einhaltung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in einer zufriedenstellenden Art und Weise Rechnung getragen wird. Zudem warnte die PACE vor der Wiedereinführung der Todesstrafe, die mit der Mitgliedschaft der Türkei im Europarat unvereinbar ist (PACE 25.4.2017). Das türkische Außenministerium bezeichnete die Entscheidung als Schande, hinter der böswillige Kreise innerhalb der PACE stünden, beeinflusst von Islamo- und Xenophobie (DS 25.4.2017).

In einer Resolution Anfang Februar 2018 zur Menschenrechtslage erkennt das Europäische Parlament (EP) das Recht und die Pflicht der türkischen Regierung an, die Täter des Putschversuches vom 16.7.2016 vor Gericht zu stellen. Es hebt jedoch hervor, dass die gescheiterte Machtübernahme durch das Militär als Vorwand dafür herangezogen wird, die legitime und gewaltfreie Opposition noch stärker zu unterdrücken und die Medien und die Zivilgesellschaft durch unverhältnismäßige und unrechtmäßige Handlungen und Maßnahmen daran zu hindern, dass sie friedlich ihr Recht auf freie Meinungsäußerung ausüben. Die Lage in den Bereichen Grundrechte und Grundfreiheiten und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei verschlechtert sich stetig und es mangelt der Justiz an Unabhängigkeit. Justiz und Verwaltung machen Gebrauch von willkürlichen Verhaftungen und Schikanen, um Zehntausende zu verfolgen. Deshalb fordert das EP die türkischen Staatsorgane nachdrücklich auf, all diejenigen umgehend und bedingungslos freizulassen, die nur inhaftiert wurden, weil sie ihrer rechtmäßigen Tätigkeit nachgegangen sind und ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit ausgeübt haben, und die in Gewahrsam gehalten werden, obwohl keine eindeutigen Beweise für Straftaten vorliegen (EP 8.2.2018).

Die routinemäßige Verlängerung des Ausnahmezustands [am 18.7.2018 aufgehoben] hat zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen gegen Hunderttausende von Menschen geführt - von willkürlichem Entzug des Rechts auf Arbeit und Bewegungsfreiheit, über Folter und andere Misshandlungen bis hin zu willkürlichen Verhaftungen und Verletzungen des Rechts auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit (OHCHR 20.3.2018, vgl. ZO 20.3.2018).

Quellen:

* AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425117.html , Zugriff 20.8.2018

* EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf , Zugriff 14.8.2018

* EP - Europäisches Parlament (8.2.2018): Die aktuelle Menschenrechtslage in der Türkei - Entschließung des Europäischen Parlaments vom 8. Februar 2018 zur aktuellen Lage der Menschenrechte in der Türkei (2018/2527(RSP)), http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML TA P8-TA-2018-0040 0 DOC PDF V0//DE, Zugriff 20.8.2018

* DS - Daily Sabah (25.4.2017): Turkey-EU relations hit historic low after controversial PACE decision, https://www.dailysabah.com/eu-affairs/2017/04/26/turkey-eu-relations-hit-historic-low-after-controversial-pace-decision , Zugriff 20.8.2018

* OHCHR - UN Office of the High Commissioner for Human Rights (3.2018): Report on the impact of the state of emergency on human rights in Turkey, including an update on the South-East; January - December 2017, März 2018, https://www.ecoi.net/en/file/local/1428849/1930_1523344025_2018-03-19-second-ohchr-turkey-report.pdf , Zugriff 20.9.2018

* OHCHR - The Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights (20.3.2018): Turkey: UN report details extensive human rights violations during protracted state of emergency, http://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=22853&LangID=E , Zugriff 21.8.2018

* PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe (25.4.2017): PACE reopens monitoring procedure in respect of Turkey, http://assembly.coe.int/nw/xml/News/News-View-EN.asp?newsid=6603&lang=2&cat=8 , Zugriff 20.8.2018

* ZO - Zeit Online (25.4.2017): Europarat eröffnet Verfahren gegen Türkei, http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-04/verfassungsreferendum-tuerkei-europarat-menschenrechte-beobachtung , Zugriff 20.8.2018

* ZO - Zeit Online (20.3.2018): Gericht verurteilt Türkei wegen Inhaftierung zweier Journalisten, http://www.zeit.de/politik/ausland/2018-03/europaeischer-gerichtshof-fuer-menschenrechte-turkei-inhaftierte-journalisten-militaerputsch , Zugriff 21.8.2018

Ethnische Minderheiten

Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei nicht-muslimischen, nämlich der Armenisch-Orthodoxen Christen, der Juden und der Griechisch-Orthodoxen Christen. Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Dschafari [zumeist schiitische Azeris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 20.4.2018).

Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Kaukasier (6 Mio., davon 90% Tscherkessen), Roma (zwischen 500.000 und 6 Mio., je nach Quelle), Lasen (zwischen 750.000 und 1,5 Mio.) und andere Gruppen in kleiner und unbestimmter Anzahl (Araber, Bulgaren, Bosnier, Pomaken, Tataren und Albaner) (AA 3.8.2018). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (wengier als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und 3.000 im Südosten (MRGI 6.2018).

Das Gesetz erlaubt den Bürgern private Bildungseinrichtungen zu eröffnen, um Sprachen und Dialekte, die traditionell im Alltag verwendet werden, zu unterrichten. Dies unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden. Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihre Kampagnen zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis war dieses Recht jedoch nicht geschützt (USDOS 20.4.2018).

Was die kulturellen Rechte betrifft, so ist die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch im öffentlichen Dienst nicht gestattet (EC 17.4.2018; vgl. USDOS 20.4.2018). Zum Beispiel hat der von der Regierung ernannte Treuhänder [nach Ablöse des gewählten Bürgermeisters] des Edremit-Distrikts in der Provinz Van die Verwendung des Armenischen und Kurdischen abgeschafft. Die Behörden haben auch die Entfernung arabischer Aufschriften in bestimmten Gebieten angeordnet. Im April 2017 ordnete die Stadtverwaltung in Adana die Entfernung arabischsprachiger Schilder von Geschäftslokalen an, um "die türkische Sprache zu schützen". Obwohl Kurdisch offiziell in der privaten Bildung und im öffentlichen Diskurs erlaubt ist, hat die Regierung die Erlaubnis zum kurdischen Sprachunterricht nicht auf die öffentliche Bildung ausgeweitet (USDOS 20.4.2018).

Die gesetzlichen Einschränkungen für den muttersprachlichen Unterricht in der Primar- und Sekundarstufe blieben bestehen. Optionale Kurse in Kurdisch wurden in öffentlichen staatlichen Schulen und Universitäten in Kurdisch, Arabisch, Syrisch und Zazaki weiterhin angeboten. Einige Universitätsdozenten der kurdischen Sprache und Literatur wurden im Januar 2017 durch eine Notverordnung entlassen, was den Mangel an qualifizierten Dozenten auf Kurdisch noch verstärkte. Nach Angaben zivilgesellschaftlicher Organisationen wurden zahlreiche Theater, Bibliotheken, Kultur- und Kunstzentren aufgrund dieses Dekrets geschlossen (EC 17.4.2018). Andere nationale oder ethnische Minderheiten, darunter Assyrer, Caferis, Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen, durften ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (ARC 21.11.2017). Weiterhin werden mit Verweis auf die "Bedrohung der nationalen Sicherheit" oder "Gefährdung der nationalen Einheit" Publikationsverbote ausgesprochen. Dies trifft - teilweise wiederholt - vor allem kurdische oder linke Zeitungen (AA 3.8.2018).

Das gesamte Bildungssystem basiert auf dem Türkentum. Auf nicht-türkische Gruppen wird entweder kein Bezug genommen oder sie werden auf eine negative Weise dargestellt (MRGI 27.10.2015). Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff "Minderheit" (im Türkischen "azinlik") ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als "Spalter" und "Vaterlandsverräter" und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahingehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe "Kurdistan", "kurdische Gebiete" und "Völkermord an den Armeniern" im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (bpb 17.2.2018). Zwar werden Gespräche zwischen der Regierung und Vertretern von Minderheiten fortgesetzt. Trotzdem bleiben Hassreden und Drohungen gegen Minderheiten ein ernstes Problem. Eine zivilgesellschaftliche Umfrage zu Hassreden in den Medien ergab, dass Artikel/Nachrichten, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten, im Berichtszeitraum zugenommen haben. Antisemitische Rhetorik in den Medien und von Beamten besteht weiterhin (EC 17.4.2018).

Die türkische Regierung hat mehrere Male gegenüber dem UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung wiederholt, dass sie keine quantitativen oder qualitativen Daten in Bezug auf den ethnischen Hintergrund ihrer Bürger sammelt, speichert oder verwendet. Allerdings sammeln die Behörden in der Tat Daten zur ethnischen Herkunft der Bürger, zwar nicht für Rechtsverfahren oder zu Studienzwecken, aber zwecks Profilerstellung und Überwachung, insbesondere von Kurden und Roma (EC/DGJC 2016).

Die nationale Strategie (2016-2021) und der Aktionsplan (2016-2018) für Roma-Bürger werden umgesetzt, aber der zuständige Ausschuss zur Überwachung und Bewertung der Strategie trat nur einmal zusammen. Es bedarf insbesondere der Zuteilung budgetärer Mittel zur Unterstützung des Aktionsplanes. Laut einer umfassenden Umfrage steigt das Bildungsniveau unter jungen Roma. Davon abgesehen, ist das allgemeine Bildungsniveau unter den Roma niedrig. Extreme Armut und ein Mangel an Gütern des täglichen Bedarfs sind in den Haushalten der Roma nach wie vor weit verbreitet. Die Gesamtbeschäftigungsquote ist mit 31% niedrig. Die Roma leben im Allgemeinen in sehr schlechten Wohnverhältnissen, oft ohne Grundversorgung und mit Segregation konfrontiert. Das Stadterneuerungsprojekt führte häufig dazu, dass Roma-Siedlungen abgerissen und Familien vertrieben wurden. Der Zugang zu öffentlichen Diensten ist für Roma, die keinen ständigen Wohnsitz haben, eine große Herausforderung (EC 17.4.2018).

Quellen:

* AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei

* ARC - Asylum Research Consultancy (21.11.2017): Turkey Country Report - Update November 2017 [3rd edition], https://www.ecoi.net/en/file/local/1418404/1226_1511364755_5a1313bf4.pdf , Zugriff 10.7.2018

* bpb - Bundeszentrale für politische Bildung (17.2.2018): Die Türkei im Jahr 2017/2018, http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/253187/die-tuerkei-im-jahr-2017-2018#footnode12-12 , Zugriff 11.7.2018

* EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf , Zugriff 10.7.2018

* EC/DGJC - European Commission/ Directorate-General for Justice and Consumers, European Network of legal experts in gender equality and non-discrimination (2016): Country report: Non-discrimination -Turkey, http://www.equalitylaw.eu/downloads/3748-2016-tr-country-report-nd , Zugriff 10.7.2018

* MRGI - Minority Rights Group International (27.10.2015): Education system in Turkey criticised for marginalising ethnic, religious and linguistic minorities, http://minorityrights.org/2015/10/27/education-system-in-turkey-criticised-for-marginalising-ethnic-religious-and-linguistic-minorities/ , Zugriff 10.7.2018

* MRGI - Minority Rights Group International (2015): Discrimination Based on Colour, Ethnic Origin, Language, Religion and Belief in Turkey's Education System, http://minorityrights.org/wp-content/uploads/2015/10/EN-turkiye-egitim-sisteminde-ayirimcilik-24-10-2015.pdf , Zugriff 10.7.2018

* MRGI - Minority Rights Group International (6.2018): World Directory of Minorities and Indigenous Peoples, Turkey, http://minorityrights.org/country/turkey/ , Zugriff 10.7.2018

* USDOS - US Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430322.html , Zugriff 10.7.2018

Kurden

Die Kurden (ca. 20% der Bevölkerung) leben v.a. im Südosten des Landes sowie, bedingt durch Binnenmigration und Mischehen, in den südlich und westlich gelegenen Großstädten (Istanbul, Izmir, Antalya, Adana, Mersin, Gaziantep) (ÖB 10.2017). Mehr als 15 Millionen türkische Bürger haben einen kurdischen Hintergrund und sprechen einen der kurdischen Dialekte (USDOS 20.4.2018). Der private Gebrauch der in der Türkei gesprochenen kurdischen Sprachen Kurmandschi und des weniger verbreiteten Zaza ist in Wort und Schrift keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 3.8.2018). Einige Universitäten bieten Kurdisch-Kurse an, und zwei Universitäten haben Abteilungen für die Kurdische Sprache (USDOS 20.4.2018).

Die kurdischen Gemeinden waren überproportional von den Zusammenstößen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften betroffen. In etlichen Gemeinden wurden seitens der Regierung Ausgangssperren verhängt. Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien berichteten von zunehmenden Problemen bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (USDOS 20.4.2018). Hunderte von kurdischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 20.4.2018; vgl. EC 17.4.2018). Durch eine sehr weite Auslegung des Kampfes gegen den Terrorismus wurden die Rechte von Journalisten und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der Kurdenfrage auseinandersetzen, zunehmend eingeschränkt (EC 17.4.2018). Zwei Drittel der per Notstandsdekret geschlossenen Medien sind kurdische Zeitungen, Onlineportale, Radio- und Fernsehsender. Am 16.08.16 wurde z. B. die Tageszeitung "Özgür Gündem" per Gerichtsbeschluss geschlossen. Der Zeitung wird vorgeworfen, "Sprachrohr der PKK" zu sein (AA 3.8.2018; vgl. EFJ 30.10.2016). Im Jahr 2017 wurden kurdische Journalisten wegen Verbindungen zur bewaffneten kurdischen Arbeiterpartei (PKK) wegen ihrer Berichterstattung verfolgt und inhaftiert. Dutzende von Journalisten und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die sich an einer Solidaritätskampagne mit der inzwischen geschlossenen pro-kurdischen Zeitung Özgür Gündem beteiligten, wurden wegen terroristischer Propaganda verfolgt (HRW 18.1.2018; vgl. USDOS 20.4.2018). Die Verschlechterung der Sicherheitslage in der Region seit dem Zusammenbruch des Friedensprozesses im Jahr 2015 setzte sich fort und betraf im Jahr 2017 die städtischen Gebiete in geringerem Maße. Stattdessen waren ländliche Gebiete zusehends betroffen. Es gab keine Entwicklungen in Richtung der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses, der für eine friedliche und nachhaltige Lösung notwendig ist. Nach dem Putschversuch im Juli 2016 wurden zahlreiche kurdische Lokalpolitiker wegen angeblicher Verbindung zur PKK inhaftiert. Im Osten und Südosten gab es zahlreiche neue Festnahmen und Verhaftungen von gewählten Vertretern und Gemeindevertretern auf der Basis von Vorwürfen, terroristische Aktivitäten zu unterstützen. An deren Stelle wurden Regierungstreuhänder ernannt (EC 17.4.2018; vgl. AM 12.3.2018, USDOS 20.4.2018).

Mehr als 90 Bürgermeister wurden durch von der Regierung ernannte Treuhänder ersetzt. 70 von ihnen befinden sich in Haft. Insgesamt wurden mehr als 10.000 Funktionäre und Mitglieder der pro-kurdischen HDP verhaftet (AM 12.3.2018; vgl. USDOS 20.4.2018).

Die pro-kurdische HDP schaffte bei den Wahlen im Juni 2018 den Wiedereinzug ins Parlament mit einem Stimmenanteil von 11,5% und 68 Abgeordneten, dies trotz der Tatsache dass der Spitzenkandidat für die Präsidentschaft und acht weitere Abgeordnete des vormaligen Parlaments im Gefängnis saßen, und Wahlbeobachter der HDP schikaniert wurden (MME 25.6.2018). Während des Wahlkampfes bezeichnete der amtierende Präsident und Spitzenkandidat der AKP für die Präsidentschaftswahlen, Erdogan den HDP-Kandidaten Demirtas bei mehreren Wahlkampfauftritten als Terrorist (OSCE 25.6.2018). Bereits im Vorfeld des Verfassungsreferendums 2017 bezeichnete auch der damalige Regierungschef Yildirim die HDP als Terrorunterstützerin (HDN 7.2.2017).

Am 8.9.2016 suspendierte das Bildungsministerium mittels Dekret 11.285 kurdische Lehrer unter dem Vorwurf Unterstützer der PKK zu sein. Alle waren Mitglieder der linksorientierten Gewerkschaft für Bildung und Bildungswerktätige, Egitim Sen (AM 12.9.2016). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südosttürkei kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 3.8.2018).

Quellen:

* AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei

* AM - Al Monitor (12.3.2018): Some 40 million Turks ruled by appointed, not elected, mayors, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2018/03/turkey-becoming-land-of-trustees.html , Zugriff 11.7.2018

* AM - Al Monitor (12.9.2016): Kurds become new target of Ankara's post-coup purges, https://www.newcoldwar.org/kurds-become-new-target-of-ankaras-post-coup-purges/ , Zugriff 10.7.2018

* CB - Covcas Bulletin (22.9.2015): The revival of Turkey's 'lynching' culture, http://www.covcasbulletin.info/?p=1730 , Zugriff 11.7.2018

* EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf , Zugriff 11.7.2018

* EFJ - European Federation of Journalists (30.10.2016): Turkish government shuts down 15 Kurdish media outlets, http://europeanjournalists.org/blog/2016/10/30/turkish-government-shuts-down-15-kurdish-media-outlets/ , Zugriff 11.7.2018

* HDN - Hürriyet Daily News (7.2.2017): Main opposition in same boat as terror-supporting HDP: PM Yildirim, http://www.hurriyetdailynews.com/main-opposition-in-same-boat-as-terror-supporting-hdp-pm-yildirim-109443 , Zugriff 11.7.2018

* HRW - Human Rights Watch (18.1.2018): World report 2018 - Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/1422518.html , Zugriff 11.7.2018

* MME - Middle East Eye ( 25.6.2018) Turkey election: Erdogan wins, the opposition crashes - but don't write off the HDP, http://www.middleeasteye.net/columns/turkey-election-erdogan-wins-akp-chp-opposition-crashes-dont-write-off-hdp-776290051 , Zugriff 11.7.2018

* OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights; OSCE Parliamentary Assembly; PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe (25.6.2018): International Election Observation Mission Republic of Turkey - Early Presidential and Parliamentary Elections - 24.6.2018, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/385671?download=true , Zugriff 26.6.2018

* USDOS - US Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430322.html , Zugriff 11.7.2018

Frauen

Frauen und Männer sind nach den umfassenden Reformen im Zivil-, Arbeits-, Straf- und Verfassungsrecht der letzten Jahre in der Türkei gesetzlich weitgehend gleichgestellt (AA 11 .2017a; vgl. EC 17.4.2018). Die gesellschaftliche Wirklichkeit bleibt in weiten Teilen des Landes jedoch hinter den gesetzlichen Fortschritten zurück. Gehobenen Positionen von Frauen an Hochschulen, als Anwältinnen und Ärztinnen oder in der Wirtschaft in den Städten stehen traditionell-konservative Gesellschaftsstrukturen in ländlich-konservativen Gebieten (einschließlich der von Binnenmigranten bewohnten städtischen Räume) gegenüber (AA 11 .2017a). 2015 waren laut Regierungsangaben nur 27,5% der Frauen erwerbstätig (USDOS 20.4.2018). 2017 nahm die Türkei Platz 131 von 144 untersuchten Ländern im Global Gender Gap Index ein (WEF 2017).

Die Diskriminierung von Frauen und geschlechtsspezifische Gewalt wurden jedoch aufgrund der schwachen Umsetzung der Rechtsvorschriften und der geringen Qualität der verfügbaren Unterstützungsdienste nicht ausreichend bekämpft. Es fehlt ein starkes politisches Engagement für die Gleichstellung der Geschlechter (EC 17.4.2018). Eine Reihe von Faktoren untergraben die bestehenden Bemühungen der Behörden zur Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Dies ist zum einen das Fehlen einer systematischen und gründlichen Bewertung der allgemeinen Politik im Hinblick auf ihre potenziellen Auswirkungen auf die Gleichstellung von Frauen und Männern sowie die Gewalt gegen Frauen. Zum anderen ergibt sich aus der Tendenz, die traditionellen Rollen von Frauen als Mütter und Betreuerinnen zu betonen, die wenig dazu beitragen, diskriminierende Stereotypen über die Rolle und Verantwortung von Frauen und Männern in Familie und Gesellschaft infrage zu stellen (GREVIO 15.10.2018). Laut einem Statement von Staatspräsident Erdogan aus dem Jahr 2016, ist eine Frau, die die Mutterschaft ablehnt und den Haushalt aufgibt, nur eine halbe Person. Die Politik der türkischen Regierung entspricht weitgehend dieser Auffassung. In den letzten zehn Jahren wurden Frauen für die Betreuung ihrer Kinder bezahlt oder ihnen wurde ein längerer unbezahlter Urlaub gewährt. Diese Politik hat jedoch wenig dazu beigetragen, Frauen von unbezahlten Arbeiten zu befreien, die sie davon abhalten, Geld zur Unterstützung ihrer Familien zu verdienen. Die Behörden weigerten sich auch, Gesetze durchzusetzen, die von Unternehmen verlangen, dass sie Kinderbetreuung vor Ort anbieten, damit mehr Frauen nach der Geburt wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren können. In der Türkei werden 89,6% der Kinder laut Statistikamt von ihren Müttern betreut. Nur 2,4% der Kinder befinden sich in Kinderbetreuungseinrichtungen. Infolgedessen nimmt nur jede dritte Frau am Erwerbsleben teil - die niedrigste Quote unter den 35 OECD-Ländern (PRI 4.5.2017).

Das Gesetz sieht die Bestrafung sexueller Übergriffe, inklusive Vergewaltigung in der Ehe, vor. Bei versuchtem sexuellen Missbrauch ist eine Gefängnisstrafe von zwei bis zehn Jahren vorgesehen und bei Vergewaltigung oder tatsächlichem sexuellen Missbrauch nicht weniger als zwölf Jahre Haft. In einigen Fällen hat die Regierung die entsprechenden Gesetze effektiv bzw. zur Gänze zum Schutz der Opfer umgesetzt (USDOS 20.4.2018). In Bezug auf die Verfolgung und den Schutz bei Gewaltdelikten gegen Frauen bestehen aber weiter große Defizite. Mit einem im März 2012 verabschiedeten Gesetz zum Schutz von Frauen und Familienangehörigen vor häuslicher Gewalt haben nun auch unverheiratete Frauen Anspruch auf staatlichen Schutz. Insgesamt bleibt jedoch die praktische Umsetzung der gesetzlichen Regelungen lückenhaft (AA 3.8.2018). 2016 zeigte sich das UN-Komitee zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) besorgt hinsichtlich des Fortbestehens systematischer und weit verbreiteter geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen im privaten Bereich, einschließlich sexueller und psychologischer Gewalt und dem Entzug des Zugangs zu lebenswichtigen Gütern. Besorgnis herrschte zudem wegen der hohen Zahl von Frauen, die von ihren (ehemaligen) Partnern oder Ehemännern oder Familienmitgliedern ermordet wurden, und Anordnungen zum Schutz der Frauen selten umgesetzt und mangelhaft überwacht wurden (UN-CEDAW 25.7.2016). Häusliche Gewalt führte 2017 zum Tod von 282 Frauen. Es gibt nur sehr begrenzte Folgemaßnahmen zu Fällen von häuslicher Gewalt ohne die Verweisung an die Sozialdienste. Es gibt keine umfassenden Daten über geschlechtsspezifische Gewalt, und die Zahl der gemeldeten Fälle blieb gering, was Zweifel am berichteten Ausmaß aufkommen lässt (EC 17.4.2018). Anzeigen wegen Gewaltakten sind merkbar gering, was der Stigmatisierung und der Furcht vor Repressionen sowie der wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Täter geschuldet ist, aber auch der Rechtsunkundigkeit, Sprachbarrieren und dem mangelnden Vertrauen in die Rechtsvollzugsorgane. Täter sexueller Gewalt, einschließlich derjenigen, die der Vergewaltigung von Mädchen für schuldig befunden werden, erwarten nicht nur milde Urteile, sondern sie werden wegen des "guten Benehmens" während des Prozesses mit reduzierten Strafen belegt (UN-CEDAW 25.7.2016).

Es kommt immer noch zu sogenannten "Ehrenmorden", d. h. insbesondere zu der Ermordung von Frauen oder Mädchen, die eines sog. "schamlosen Verhaltens" aufgrund einer (sexuellen) Beziehung vor der Eheschließung bzw. eines "Verbrechens in der Ehe" verdächtigt werden. Dies schließt auch vergewaltigte Frauen ein (AA 3.8.2018). Vor allem im Osten und Südosten des Landes ereignen sich weiterhin Verbrechen im Namen der Ehre. Frauen werden oft von der Familie in den Selbstmord getrieben. Im Jahr 2016 wurden insgesamt 397 Frauen durch ihre (Ehe-)Partner getötet. Laut Daten des Familien- und Sozialministeriums stieg die Zahl von gemeldeten verletzten Frauen von 24.920 im Jahr 2010 auf 70.112 im Jahr 2013 an. 2016 stieg diese Zahl weiter an auf 130.634 (ÖB 10.2017).

Auch Männer werden - vor allem im Rahmen von Familienfehden (Blutrache) - Opfer von sog. "Ehrenmorden", zum Teil, weil sie "schamlose Beziehungen" zu Frauen eingehen bzw. sich weigern, die Ehre der Familie wiederherzustellen. Mädchen, die aufgrund einer Vergewaltigung ihre Jungfräulichkeit verloren haben, sind oft unmittelbar bedroht (AA 3.8.2018). Nach dem tStGB sind "Jungfräulichkeitstests" gegen den Willen der Betroffenen nur noch auf richterliche Anordnung zulässig (AA 3.8.2018; vgl. UN-CEDAW 25.7.2016). Dies stellt eine Verletzung sowohl des Rechts auf Privatsphäre als auch jenes der physischen wie mentalen Integrität der Person dar (UN-CEDAW 25.7.2016).

Es gibt 137 Frauenhäuser bzw. Unterkünfte für Opfer häuslicher Gewalt (EC 17.4.2018; vgl. ÖB 10.2017), die Kapazität betrug nach Angabe des türkischen Familien- und Sozialministeriums im Dezember 2016 3.433 Personen (ÖB 10.2017). Allerdings wurden im Südosten des Landes einige dieser Einrichtungen geschlossen. Elf unabhängige Frauen-NGOs wurden unter dem Ausnahmezustand geschlossen. In 68 Provinzen sind seit Januar 2018 Zentren für Gewaltprävention und -überwachung in Betrieb. (EC 17.4.2018). Die Zufluchtsmöglichkeiten für und die Versorgung von Gewalt betroffenen Frauen - etwa in staatlichen Frauenhäusern - sind ungenügend (AA 3.8.2018; vgl. USDOS 20.4.2018).

Alleinstehende Frauen finden grundsätzlich keine spezielle Unterstützung außerhalb des Familienverbandes. Das Familien- und Sozialministerium hat einen Hilfsfonds für verwitwete Frauen eingerichtet, der Betroffenen derzeit ca. 70 EUR pro Monat zugesteht. NGOs, die finanzielle Hilfe für alleinstehende Frauen/Witwen anbieten, gibt es keine (ÖB 10.2017).

Laut einer Studie der Kadir Has Universität vom März 2016 war für 77,8% der Befragten das größte Problem von Frauen in der Türkei die Gewalt. Unter den 1.200 Studienteilnehmerinnen waren auch "Ungleichheit" (41,8%), "mangelnde Bildung" (34,8%), "Gruppenzwang" (30,7%) und "Familiendruck" (26,5%) brennende Themen. Die Studie ergab, dass 64,8% der Befragten arbeitslos waren und 70,2% nie einen Arbeitsplatz hatten. In einem der auffälligsten Befunde antworteten 72,2% der Frauen negativ auf die Frage: "Würden Sie gerne arbeiten?" Nebst dem Bildungsfaktor und der Sicherheit am Arbeitsplatz nannten mit 47,9% an erster Stelle die Zustimmung des Vaters, Ehemannes und der Familie als Kriterium überhaupt eine Arbeit aufnehmen zu wollen (AM 8.3.2016).

Quellen:

* AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei

* AA - Auswärtiges Amt (11.2017a): Staatsaufbau/Innenpolitik, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tuerkei-node/innen/202096 , Zugriff 10.7.2018

* AM - Al Monitor (8.3.2016): Why Turkish women are opting out of the workforce, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2016/03/turkey-women-do-not-have-incentive-to-work.html#ixzz42RQ3PUY2 , Zugriff 10.7.2018

* EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf , Zugriff 10.7.2018

* GREVIO - Group of Experts on Action against Violence against Women and Domestic Violence (15.10.2018): GREVIO's (Baseline) Evaluation Report on legislative and other measures giving effect to the provisions of the Council of Europe Convention on Preventing and Combating Violence against Women and Domestic Violence (Istanbul Convention ) - TURKEY, https://g8fip1kplyr33r3krz5b97d1-wpengine.netdna-ssl.com/wp-content/uploads/2018/10/GREVIO-report-on-Turkey.pdf , Zugriff 17.10.2018

* ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei

* PRI - Public Radio International (4.5.2017): Why more Turkish women don't work, https://www.pri.org/stories/2017-05-04/why-more-turkish-women-dont-work , Zugriff 10.7.2018

* UN-CEDAW - UN Committee on the Elimination of Discrimination Against Women (25.7.2016): Concluding observations on the seventh periodic report of Turkey' [CEDAW/C/TUR/CO/7], paragraph 32, http://www.ecoi.net/file_upload/1930_1484750203_n1623344.pdf , Zugriff 10.7.2018

* USDOS - US Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430322.html , Zugriff 10.7.2018

* WEF - World Economic Forum (2018): Global Gender Gap Index 2017, http://reports.weforum.org/global-gender-gap-report-2017/dataexplorer/#economy=TUR , Zugriff 10.7.2018

Kinder

Die Umsetzung der 2013 verfassten Kinderrechte-Strategie und der Aktionsplan sind unzureichend. Es besteht keine nationale Strategie zur Vermeidung von Gewalt gegen Kinder oder ein effektives System zum Monitoring von Rehabilitationszentren und vorhandenen Institutionen. Es gibt nicht in allen Provinzen Jugendgerichte, und mehr als die Hälfte der jugendlichen Straftäter werden weiterhin von nicht spezialisierten Gerichten verurteilt. Die Zahl der Kinder in Untersuchungshaft stieg auf 1.746. 130 Jugendliche wurden festgenommen oder wegen Terror oder organisierter Kriminalität verurteilt. Die Qualität der Rechtshilfe für Jugendliche und der Rehabilitationsmaßnahmen in den Gefängnissen ist besorgniserregend. Mehrere zivil-gesellschaftliche Organisationen, die sich mit Jugendrechten befassen, wurden von den Behörden geschlossen (EC 17.4.2018).

Es gibt etliche Verletzungen der Kinderrechte. Schwangere und Mütter von Neugeborenen werden illegal inhaftiert, 700 Kinder unter sechs Jahren sind momentan im Gefängnis. Andere unter achtzehn Jahren sind mit langer Untersuchungshaft und Folter konfrontiert. Syrische Flüchtlingskinder sind sexuellem Missbrauch, Kinderarbeit und anderen Rechtsverletzungen ausgesetzt (PPJ 13.4.2018).

Kinderheirat ist ein großes Problem, das zu weiteren Problemen wie häuslicher Gewalt, Gesundheitsproblemen und Hindernissen für Bildung und Beschäftigung führt (PPJ 13.4.2018). Mit dem vollendeten 17. Lebensjahr ist es gesetzlich erlaubt zu heiraten. Obwohl das Gesetz Ehen von Minderjährigen (unter 17 Jahren), mit gerichtlichen Ausnahmen, untersagt, stellen die sog. "Kinderehen" weiterhin ein großes Problem, insbesondere in den ländlichen Gebieten und den (süd-)östlichen Provinzen, dar (ÖB 10.2017; vgl. GREVIO 15.10.2018). Zu diesem Zweck wurden verschiedene Präventivmaßnahmen ergriffen, wie z. B. die Sensibilisierung von Gemeinden und Familien sowie die Stärkung - im Sinne von Empowerment - von Mädchen. Dennoch sind minderjährige und Zwangsverheiratungen nach wie vor weit verbreitet. Den neuesten Prävalenzstudien zufolge waren mehr als 25% der Frauen in der Türkei vor dem 18. Lebensjahr verheiratet, ein Prozentsatz, der in ländlichen Gebieten auf 32 % ansteigt. Fast 20% dieser Frauen geben an, ohne ihre Zustimmung, durch eine Familienentscheidung verehelicht geworden zu sein. Ebenso lag die Lebensprävalenz von körperlicher Gewalt mit 48% bei Frauen, die vor dem Alter von 18 Jahren verheiratet waren, deutlich höher als bei Frauen, die im Erwachsenenalter geheiratet haben. Hier lag der Wert bei 31% (GREVIO 15.10.2018).

In außerordentlichen Fällen obliegt es dem Richter, 16-jährigen die Erlaubnis zur Verehelichung zu erteilen. Unter "außerordentliche Fälle" sind meistens Mädchen betroffen, die schwanger wurden und aus "kulturell-moralischen Gründen" den Freund heiraten müssen, sofern die Eltern zustimmen. Verehelichung von Kindern unter 16 Jahren ist unter keinen Umständen rechtlich erlaubt. Eheschließungen in der Türkei können nur durch das Standesamt vollzogen werden. Das Parlament verabschiedete am 18.10.2017 das Gesetz, das den Muftis die Kompetenz für die Verehelichung in den Standesämtern überträgt. Laut türkischem Statistikamt gibt es einen Rückwärtstrend bei den Kinderehen v.a. bei Mädchen (ÖB 10.2017).

Die Türkei hat die höchste Kinderheiratsquote in Europa. Laut UNICEF waren 15% der Frauen vor dem 18. Lebensjahr verheiratet (PPJ 13.4.2018). Das türkische Statistikamt nannte 2016 einen Prozentsatz von 17,9% der Ehen, die vor dem 18. Lebensjahr geschlossen wurden (TSI 18.1.2017). Der tatsächliche Prozentsatz ist wahrscheinlich viel höher ist, da viele Kinderehen nicht registriert werden und durch inoffizielle religiöse Zeremonien erfolgen (USDOS 20.4.2018; vgl. PPJ 13.4.2018). Eine landesweite Umfrage des Hacettepe Universitätsinstituts ergab 2014, dass 30% der Frauen in der Türkei vor dem Alter von achtzehn Jahren geheiratet haben (PPJ 13.4.2018).

Kindesmisshandlung ist ein Problem. Das Gesetz ermächtigt Polizeibeamte und Beamte der Lokalverwaltung, Opfern von Gewalt oder von Gewalt gefährdeten Personen verschiedene Schutz- und Unterstützungsleistungen zu gewähren. Das Gesetz verpflichtet die Regierung, den Opfern Dienstleistungen wie Unterkünfte und vorübergehende finanzielle Unterstützung zu gewähren, und ermächtigt die Familiengerichte, Sanktionen gegen die Täter zu verhängen. Die Strafen für sexuellen Kindesmissbrauch liegen zwischen acht und 15 Jahren Gefängnis. Bei Vergewaltigung beträgt das Mindeststrafmaß 16 Jahre Haft. Wenn das Kind unter zwölf Jahre alt ist, erhöhen sich die Mindeststrafen für die jeweiligen Delikte um zwei Jahre (USDOS 20.4.2018).

2016 machte die Türkei moderate Fortschritte in den Bemühungen die schlimmsten Formen von Kinderarbeit zu eliminieren. Kinder in der Türkei verrichten gefährliche Aufgaben in der saisonalen Wanderarbeit in der Landwirtschaft und in der Straßenarbeit. Allerdings wurde eine Verordnung zur Verbesserung des Bildungsangebots und anderer Dienstleistungen für Kinder von saisonalen Wanderarbeitern in der Landwirtschaft verabschiedet. Darüber hinaus haben die Sicherheitskräfte 33 neue Einheiten eingerichtet und ausgebildet, die sich auf Verbrechen gegen Frauen und Kinder, einschließlich Kinderhandel, konzentrieren werden (USDOL 2016).

Quellen:

* EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf , Zugriff 9.7.2018

* GREVIO - Group of Experts on Action against Violence against Women and Domestic Violence (15.10.2018): GREVIO's (Baseline) Evaluation Report on legislative and other measures giving effect to the provisions of the Council of Europe Convention on Preventing and Combating Violence against Women and Domestic Violence (Istanbul Convention ) - TURKEY, https://g8fip1kplyr33r3krz5b97d1-wpengine.netdna-ssl.com/wp-content/uploads/2018/10/GREVIO-report-on-Turkey.pdf , Zugriff 18.10.2018

* ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei

* PPJ - Platform Peace and Justice (13.4.2018): Violations Against Children's Rights In Turkey, http://www.platformpj.org/wp-content/uploads/Violations-Against-Childrens-Rights.pdf , Zugriff 10.7.2018

* TSI - Turkish Statistical Institute (18.1.2017): Family Structure Survey 2016, http://www.turkstat.gov.tr/PreHaberBultenleri.do?id=21869 , Zugriff 10.7.2018

* USDOS - US Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430322.html , Zugriff 9.7.2018

* USDOL - US Department of Labor, Bureau of International Labor Affairs (2016): Child Labor and Forced Labor Reports - Turkey, https://www.dol.gov/agencies/ilab/resources/reports/child-labor/turkey , Zugriff 10.7.2018

Bewegungsfreiheit

Bewegungsfreiheit im Land, Reisen ins Ausland, Auswanderung und Repatriierung werden gesetzlich garantiert, die Regierung schränkt diese Rechte allerdings ein. Die Verfassung besagt, dass die Reisefreiheit innerhalb des Landes nur durch einen Richter in Zusammenhang mit einer strafrechtlichen Untersuchung oder Verfolgung eingeschränkt werden kann. Die Regierung beschränkte Auslandsreisen für Zehntausende von Bürgern, denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen wird. Die Bewegungsfreiheit ist auch im Osten und Südosten des Landes angesichts des Konfliktes zwischen Sicherheitskräften und der PKK sowie deren Unterstützer ein Problem. Beide Konfliktparteien errichten Kontrollpunkte und Straßensperren. Die Regierung schuf spezielle Sicherheitszonen und rief Ausgangssperren in mehreren Provinzen als Reaktion auf die PKK-Angriffe aus. Flüchtlinge, die den Status des bedingten Asyls haben sowie Syrer, denen sog. temporärer Schutz gewährt wurde, erfahren ebenfalls Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit. Flüchtlinge mit bedingtem Schutzstatus bedürfen einer Erlaubnis der örtlichen Behörden, um in andere als die ihnen zugewiesenen Städte reisen zu können. Syrern ist das Verlassen der auf ihrer Registrierungskarte vermerkten Provinz ohne Genehmigung verboten (USDOS 20.4.2018).

Bei der Einreise in die Türkei hat sich jeder einer Personenkontrolle zu unterziehen. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Seit dem Putschversuch vom 15.7.2016 werden alle türkischen Staatsangehörigen auch auf Inlandsflügen einer fahndungsmäßigen Überprüfung unterzogen. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Es kann vorkommen, dass türkischen Staatsangehörigen, denen ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt wurde, bei der Einreise oder der versuchten Einreise in die Türkei dieses Ausweisdokument an der Grenze abgenommen wird. Diese Gefahr besteht insbesondere bei Personen, deren Ausweise nicht für die Türkei gültig sind, denen jedoch befristet eine auch für dieses Land geltende Reiseerlaubnis gewährt wurde. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen. Seit dem Putschversuch verhängen türkische Behörden vermehrt Ausreiseverbote. Diese werden an allen Land-, See- und Luftgrenzübergängen überprüft. Die illegale Ein- und Ausreise ist strafbar (AA 3.8.2018).

Am 12.12.2017 verkündete der türkische Innenminister, Süleyman Soylu, dass seit dem Putschversuch 234.419 Pässe als Teil der Ermittlungen gegen die Gülen-Bewegung annulliert worden sind (TM 12.12.2017). Die Annullierung erfolgte mit dem Notverordnungsgesetz Nr.667 mit der Begründung, dass die entlassenen Angestellten des öffentlichen Sektors und andere Mitarbeiter eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellen und sie eine Mitgliedschaft, Zugehörigkeit oder Verbindung zu terroristischen Organisationen haben. Per Dekret Nr.673 wurden die Pässe der Ehegatten der Betroffenen ebenfalls annulliert. Tausende Pässe wurden auch jenseits des Rechtsrahmens für ungültig erklärt, wo keinerlei vermeintliche Verbindungen zu terroristischen Organisationen und somit eine Gefährdung der nationalen Sicherheit vorlagen (PPJ 10.3.2018). Nach dem Ende des zweijährigen Ausnahmezustands widerrief das türkische Innenministerium am 25.7.2018 die Annullierung von 155.350 Pässen, die in erster Linie Ehepartnern sowie Verwandten von Personen entzogen worden waren, die angeblich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung standen (HDN 25.7.2018; vgl. TM 25.7.2018).

Die türkische Regierung hat Anfang Jänner 2017 ein Dekret erlassen, dank dem sie im Ausland lebende Türken unter bestimmten Bedingungen die Staatsbürgerschaft entziehen kann. Die entsprechenden Notstandsdekrete gelten für Personen, die schwerer Straftaten (etwa Putschversuche, Gründung einer bewaffneten Organisation) beschuldigt werden und trotz Aufforderung nicht innerhalb von drei Monaten in ihre Heimat zurückkehren (ZO 7.1.2017).

Quellen:

* AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei

* HDN - Hürriyet Daily News (5.1.2018): CHP leader vows to win Istanbul despite mayor row, http://www.hurriyetdailynews.com/chp-leader-vows-to-win-istanbul-despite-mayor-row-125306 , Zugriff 9.7.2018

* HDN - Hürriyet Daily News (25.7.2018): Turkish Interior Ministry reinstates 155,350 passports, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-interior-ministry-reinstates-155-350-passports-135000 , Zugriff 17.9.2018

* PPJ - Platform Peace and Justice (10.3.2018): Cancellations Of Turkish Passports And Prevention Of The Freedom Of Movement, http://www.platformpj.org/wp-content/uploads/Cancellation-of-Turkish-Passports.pdf , Zugriff 9.7.2018

* TM - Turkish Minute (12.12.2017): Turkish interior minister: 55,665 jailed, 234,419 passports revoked over Gülen links, https://www.turkishminute.com/2017/12/12/turkish-interior-minister-55665-jailed-234419-passports-revoked-over-gulen-links/ , Zugriff 6.7.2018

* TM - Turkish Minute (25.7.2018): Turkey removes restrictions from 155,350 passports, https://www.turkishminute.com/2018/07/25/turkey-removes-restrictions-from-155350-passports/ , Zugriff 17.9.2018

* USDOS - US Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430322.html , Zugriff 6.7.2018

* ZO - Zeit Online (7.1.2017): Kabinett kann Türken nun Staatsbürgerschaft entziehen, http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-01/recep-tayyip-erdogan-tuerkei-staatsbuergerschaft-entzug-ausland , Zugriff 9.7.2018

Grundversorgung/ Wirtschaft

Für die Türkei werden Marktturbulenzen, starke Währungsabwertungen und erhöhte Unsicherheiten erwartet, die Investitionen und die Konsumnachfrage belasten und eine deutliche negative Korrektur der Wachstumsaussichten rechtfertigen. In der Türkei führten die Besorgnis über die zugrunde liegenden Fundamentaldaten und die politischen Spannungen mit den Vereinigten Staaten zu einer starken Abwertung der Währung (27% zwischen Februar und Mitte September 2018) und sinkenden Vermögenswerten. Das Wachstum in der Türkei war 2017 und Anfang 2018 sehr stark, dürfte sich aber deutlich abschwächen. Das reale BIP-Wachstum wird für 2018 mit 3,5% prognostiziert, soll aber entgegen den positiven ursprünglichen Prognosen 2019 auf 0,4% sinken. Die türkische Wirtschaft ist nach wie vor sehr anfällig für plötzliche Veränderungen der Kapitalströme und geopolitischen Risiken (IMF 8.10.2018).

Die Arbeitslosigkeit bleibt ein gravierendes Problem und verharrt trotz leichter Erholung bei knapp 11% (September 2017). Aus der jungen Bevölkerung drängen jährlich mehr als eine halbe Million Arbeitssuchende auf den Arbeitsmarkt, können dort aber nicht vollständig absorbiert werden. Die bereits hohe Jugendarbeitslosigkeit stieg 2017 gegenüber dem Vorjahr weiterhin an. Hinzu kommt das starke wirtschaftliche Gefälle zwischen strukturschwachen ländlichen Gebieten (etwa im Osten und Südosten) und den wirtschaftlich prosperierenden Metropolen. Auf der Suche nach Arbeit und besseren Lebensbedingungen wandert die ländliche Bevölkerung daher weiterhin in die Städte und industriellen Zentren ab. Herausforderungen für den Arbeitsmarkt bleiben der weiterhin hohe Anteil der Schwarzarbeit und die niedrige Erwerbsquote von Frauen. Dabei bezieht der überwiegende Teil der in Industrie, Landwirtschaft und Handwerk erwerbstätigen Arbeiter und Arbeiterinnen weiterhin den offiziellen Mindestlohn. Er wurde für das Jahr 2017 auf 1.777,50 Lira brutto festgesetzt. Die Entwicklung der Realeinkommen hält mit der Wirtschaftsentwicklung nicht Schritt, so dass insbesondere die einkommensschwächeren Bevölkerungsschichten empfindlich am Rande des Existenzminimums leben (AA 10 .2017c).

Das türkische Arbeitsrecht muss noch an die EU-Standards angepasst werden. Obwohl die nicht registrierte Beschäftigung auf 27,8% zurückgegangen ist, bestehen weiterhin große Unterschiede in Bezug auf Sektor, Beschäftigungsstatus und Geschlecht (BS 2018).

Quellen:

* AA - Auswärtiges Amt (10.2017c): Wirtschaft, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tuerkei-node/wirtschaft/201964#content_1 , Zugriff 4.7.2018

* BS - Bertelsmann Stiftung (2018): BTI 2018 - Turkey Country Report, http://www.bti-project.org/fileadmin/files/BTI/Downloads/Reports/2018/pdf/BTI_2018_Turkey.pdf , Zugriff 4.7.2018

* IMF - International Monetary Found (8.10.2018): World Economic Outlook - Challenges to Steady Growth, https://www.imf.org/~/media/Files/Publications/WEO/2018/October/English/main-report/Text.ashx?la=en , Zugriff 17.10.2018

Sozialbeihilfen/-versicherung

Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294 über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität und Nr. 5263, Gesetz über Organisation und Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität gewährt. Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardimlasma ve Dayanisma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind. Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besondere Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben (AA 3.8.2018).

Nach dem im April 2014 in Kraft getretenen Gesetz Nr. 6453 über Ausländer und internationalen Schutz haben auch Ausländer, die im Sinne des Gesetzes internationalen Schutz beantragt haben oder erhalten, einen Anspruch auf Gewährung von Sozialleistungen. Welche konkreten Leistungen dies sein sollen, führt das Gesetz nicht auf (AA 3.8.2018).

Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber verschiedene Programme für mittellose Familien, wie z.B. Sachspenden (Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien, etc.), Kindergeld (10-20 EUR pro Kind/pro Monat, nach Alter und Geschlecht gestaffelt, Mädchen bekommen etwas mehr), finanzielle Unterstützung für Schwangere (ca. 50 EUR pro Schwangerschaft), Wohnprogramme, Einkommen für Behinderte und Altersschwache (50-130 EUR/Monat nach Alter und Grad der Behinderung gestaffelt). Des Weiteren beziehen Witwen die sogenannte "Witwenunterstützung", die sich nach dem Monatseinkommen des verstorbenen Ehepartners richtet (ca. 70% des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners, jedoch Max. 250 EUR/Monat) (ÖB 10.2017).

Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016a). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden (SGK 2016b).

Quellen:

* AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei

* ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei

* SGK - Sosyal Güvenlik Kurumu (Anstalt für Soziale Sicherheit) (2016a): Das Türkische Soziale Sicherheitssystem, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/de/detail/das_turkische , Zugriff 4.7.2018

* SGK - Sosyal Güvenlik Kurumu (Anstalt für Soziale Sicherheit) (2016b): Financing of Social Security, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/en/detail/social_security_system/social_security_system , Zugriff 4.7.2016

Arbeitslosenunterstützung

Alle Arbeitnehmer, einschließlich derer, die in der Landwirtschaft, im Forstwesen und im Bereich Dienstleistung tätig sind, sind unterstützungsberechtigt, wenn sie zuvor ein geregeltes Einkommen im Rahmen einer Vollzeitbeschäftigung erhalten haben. Selbständige sind nicht anspruchsberechtigt. Die durchschnittliche Arbeitslosenhilfe ist auf den Betrag des Mindestlohnes begrenzt. Benötigte Dokumente sind: ein entsprechender Antrag an das Direktorat des Türkischen Beschäftigungsbüros (ISKUR) innerhalb von 30 Tagen nach Verlust des Arbeitsplatzes, einschließlich schriftlicher Bestätigung vom Arbeitnehmer und der Personalausweis (IOM 12.2015). Der Arbeitnehmer muss die letzten 120 Tage vor dem Leistungsbezug ununterbrochen in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden haben. Für die Dauer des Leistungsbezugs übernimmt die Arbeitslosenversicherung die Beiträge zur Kranken- und Mutterschutzversicherung (ÖB 10.2017).

Unterstützungsleistungen: 600 Tage Beitragszahlung ergeben 180 Tage Arbeitslosenhilfe; 900 Tage Beitragszahlung ergeben 240 Tage Arbeitslosenhilfe; 1.080 Tage Beitragszahlung ergeben 300 Tage Arbeitslosenhilfe (IOM 2017; vgl. ÖB 10.2017). Das zentrale Arbeitsamt nimmt Bewerbungen entgegen und bietet türkischen Staatsbürgern Hilfe bei der Arbeitsplatzsuche an. Die Behörde verfügt über Filialen im ganzen Land. Weitere Informationen stehen hier zur Verfügung: www.iskur.gov.tr (IOM 2017).

Quellen:

* IOM - International Organisation for Migration (12.2015): Länderinformationsblatt - Türkei 2015

* IOM - International Organisation for Migration (2017): Country Fact Sheet Türkei 2017, http://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2017_T ürkei_DE.pdf, Zugriff 4.7.2018

* ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei

Pension

Renten gibt es für den öffentlichen und den privaten Sektor. Kosten: Eigenbeteiligungen werden an das SGK entrichtet, weitere Kosten entstehen nicht. Sofern regelmäßige Einzahlungen getätigt wurden, wird die entsprechende Pension monatlich ausgezahlt.

Berechtigung:

* Staatsbürger über 18 Jahre

* Exilanten, die ihre Arbeit im Ausland nachweisen können (bis zu einem Jahr Arbeitslosigkeit möglich)

* Im Ausland gezahlte Beiträge können in die Türkei transferiert und in Türkische Lira nach dem derzeitigen Kurs ausgezahlt werden

* Ehegattinnen können von der Rente profitieren, sofern sie ihre ausländischen Beiträge an die SSK, Bag-kur oder Emekli Sandigi überwiesen haben

Voraussetzungen:

* Anmelden bei der Sozialversicherung SGK

* Hausfrauen müssen sich bei Bag-kur anmelden

* Antrag an die Sozialversicherung, an welche sie ihre Beiträge gezahlt haben, innerhalb von zwei Jahren nach der Rückkehr

Personen älter als 65 Jahre, Behinderte über 18 und Personen, mit Vormundschaft über Behinderte unter 18, erhalten eine monatliche Zahlung. Unmittelbare Familienangehörige des Versicherten, der verstorben ist oder mindestens zehn Jahre gearbeitet hat, haben Zugang zu Witwen- bzw. Waisenhilfe. Hat der Verstorbene mindestens fünf Jahre gedient, erhalten seine Kinder unter 18, sowie Kinder in der Sekundarschule unter 20 und Kinder in höherer Bildung unter 25, Waisenhilfe (IOM 2017).

Quellen:

* IOM - International Organisation for Migration (2017): Country Fact Sheet Türkei 2017, http://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2017_T ürkei_DE.pdf, Zugriff 4.7.2018

Behandlung nach Rückkehr

Türkische Staatsangehörige, die im Ausland in herausgehobener oder erkennbar führender Position für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig sind und sich nach türkischen Gesetzen strafbar gemacht haben, laufen Gefahr polizeilicher oder justizieller Maßnahmen, wenn sie in die Türkei einreisen. Insbesondere Personen, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten und als Anstifter oder Aufwiegler angesehen werden, müssen mit strafrechtlicher Verfolgung durch den Staat rechnen (AA 3.8.2018). Personen die für die PKK oder eine Vorfeldorganisation der PKK tätig waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Ähnliches gilt für andere Terrororganisationen (z.B. DHKP-C, türkische Hisbollah, Al-Qaida) (ÖB 10.2017). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische PYD bzw. die YPG als von der als terroristisch eingestuften PKK geschaffene Organisationen, welche mit der PKK hinsichtlich der Führungskader, der Organisationsstrukturen sowie der Strategie und Taktik verbunden sind (MFA o.D.).

Seit dem versuchten Militärputsch im Juni 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung sind, als Terroristen gesehen. Auf die sog. Mitglieder der "FETÖ" (Fetullah-Gülenistische Terrororganisation), die im Ausland leben, werden von der Türkei Einreiseverbote verhängt. Hierbei handelt es sich meistens um nicht-türkische Staatsbürger mit türkischem Ursprung (ÖB 10.2017). Die türkische Regierung hat im Nachgang zu dem Putschversuch 2016 zahlreiche ausländische Regierungen um Mithilfe bei der Ermittlung von Mitgliedern des sog. "Gülen-Netzwerkes" gebeten. Es ist wahrscheinlich, dass türkische Stellen Regierungsgegner und Gülen-Anhänger im Ausland ausspähen. Öffentliche Äußerungen, auch in Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten etc. im Ausland zur Unterstützung kurdischer Belange sind strafbar, wenn sie als Anstiftung zu konkret separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden können. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung zumindest als Propaganda für eine terroristische Organisation führen (AA 3.8.2018).

Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Es ist in den letzten Jahren jedoch kein Fall bekannt geworden, indem ein in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten - dies gilt auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen - gefoltert oder misshandelt worden ist (AA 3.8.2018).

Rückkehrprobleme im Falle einer Asylantragstellung im Ausland sind keine bekannt. Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. Paragraph 3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt (ÖB 10.2017).

Türkischen Staatsangehörigen im Ausland, die von den türkischen Behörden der Beteiligung an der Gülen-Bewegung verdächtigt werden, werden ihre Pässe für ungültig erklärt und durch einen Ein-Tages-Pass ersetzt, mit dem sie in die Türkei zurückkehren, um vor Gericht gestellt zu werden, wo sie ihre Unschuld zu beweisen haben. Lehrer und Militärangehörige scheinen besonders betroffen zu sein, aber auch Kurden und Journalisten (UKHO 2.2018).

Es gibt Vereine, welche von türkischen Rückkehrern gegründet wurden. Hier werden spezielle Programme angeboten, welche die Rückkehrer in Fragen wie Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen und zugleich eine Netzwerkplattform zur Verfügung stellen. Im Folgenden eine kleine Auswahl:

• Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çigdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-turkey.com

• Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: info@bruecke-istanbul.org , http://bruecke-istanbul.com/

• TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail. almankulturadana@yahoo.de , www.takid.org (ÖB 10.2017).

Quellen:

* AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei

* EP - European Parliament, Vice-President Mogherini on behalf of the Commission (23.6.2016): Answer given by Vice-President Mogherini on behalf of the Commission [E-000843/2016], http://www.europarl.europa.eu/sides/getAllAnswers.do?reference=E-2016-000843&language=EN , Zugriff 27.1.2017

* MFA - Republic of Turkey, Ministry of Foreign Affairs (o.D.): PKK, http://www.mfa.gov.tr/pkk.en.mfa , Zugriff 2.7.2018

* ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei

* UKHO - United Kindom Home Office (2.2018): Country Policy and Information Note Turkey: Gülenist movement, https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/682868/Turkey_-_Gulenists_-_CPIN_-_v2.0.pdf , Zugriff 2.7.2018

III. Beweiswürdigung:

Die Feststellungen zu den Beschwerdeführern, zu ihren familiären Lebensumständen im Herkunftsstaat, zum Schulbesuch, ihrer legalen Einreise nach Österreich, ihrem Gesundheitszustand sowie ihrer Antragstellung zur Erlangung internationalen Schutzes ergeben sich aus dem Vorbringen der Beschwerdeführer im gesamten Verfahren sowie aus den Verwaltungsakten. Es ist kein Grund ersichtlich, daran zu zweifeln.

Die Feststellung, dass die Erstbeschwerdeführerin standemsamtlich verheiratet ist, ergibt sich aus der vorgelegten Heiratsurkunde. Die Feststellung zur traditionellen Hochzeit stützt sich auf die Angaben der Erstbeschwerdeführerin vor dem BFA und ihres Ehegatten vor deutschen Polizeikräften.

Die Feststellung, dass die Beschwerdeführer strafrechtlich unbescholten sind und sie keine Leistungen aus der Grundversorgung beziehen, ergibt sich aus Strafregisterauszügen und GVS-Auszügen.

Die Erstbeschwerdeführerin brachte zwar vor, einen Deutschkurs besucht zu haben (Seite 7 des Einvernahmeprotokolls vom 07.03.2019 im Verfahrensakt zu L524 2217734-1), doch wurde keine entsprechende Bestätigung vorgelegt. Es konnte daher nicht festgestellt werden, dass die Erstbeschwerdeführerin einen Deutschkurs besucht hat. Die Feststellung zum Besuch einer Neuen Mittelschule des Zweitbeschwerdeführers ergibt sich aus einer Schulbesuchsbestätigung (AS 187 im Verfahrensakt zu L524 2217735-1).

Die Feststellungen zu den Geschwistern der Erstbeschwerdeführerin ergeben sich aus den Angaben der Erstbeschwerdeführerin und einem IZR-Auszug des Bruders der Erstbeschwerdeführerin.

Das BFA hat ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt und in der Begründung des angefochtenen Bescheides die Ergebnisse dieses Verfahrens, die bei der Beweiswürdigung maßgebenden Erwägungen und die darauf gestützte Beurteilung der Rechtsfrage nachvollziehbar, umfangreich und fundiert zusammengefasst. Das BFA ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Beschwerdeführer keine individuell gegen sie gerichtete Verfolgung vorgebracht haben.

Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungsrelevante Sachverhalt wurde vom BFA vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben, der immer noch die gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweist. Das BFA hat auch die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in der angefochtenen Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt und teilt das Bundesverwaltungsgericht auch die tragenden Erwägungen im angefochtenen Bescheid. In der Beschwerde wurde kein dem Ergebnis des Ermittlungsverfahrens der belangten Behörde entgegenstehender oder darüberhinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet.

Das Bundesverwaltungsgericht schließt sich den Feststellungen zum Sachverhalt und der dazu führenden Beweiswürdigung aus folgenden Gründen an:

Wie das BFA zutreffend ausführte, gilt es zu bedenken, dass die Beschwerdeführer mittels österreichischen Touristenvisums in das österreichische Bundesgebiet gereist sind, um an einer Hochzeit von Verwandten der Beschwerdeführer in Österreich teilzunehmen (Seite 10 des Einvernahmeprotokolls vom 26.02.2018 im Verfahrensakt zu L524 2217734-1). Die Erstbeschwerdeführerin gab in beiden Einvernahmen vor dem BFA sogar ausdrücklich an, nicht aus der Türkei geflüchtet zu sein:

"Ich bin aus der Türkei nicht geflüchtet." ... "Ich möchte hier arbeiten und auf eigenen Beinen stehen." (Seite 10 des Einvernahmeprotokolls vom 26.02.2018).

Auf die Frage nach den Kosten für ihre Flucht gab sie an:

"Ich bin ja nicht geflüchtet." (Seite 7 des Einvernahmeprotokolls vom 07.03.2019).

Auf die die Frage, was sie ihm Falle einer Rückkehr in die Türkei zu erwarte hätte, gab sie an:

"Gar nichts. Ich bin nicht im Kriegsgebiet und mir drohen keine Gefahren, aber ich habe keine Zukunft dort, ebenso wenig wie mein Sohn." (Seite 8 des Einvernahmeprotokolls vom 07.03.2019).

Sohin gelangte das BFA zurecht zur Annahme, dass die Erstbeschwerdeführerin über die Stellung des Antrags auf internationalen Schutz am 20.11.2017 für sich und den Zweitbeschwerdeführer bloß ihren Aufenthalt im Bundesgebiet hat verlängern bzw. legalisieren wollen, zumal ihre Visa jeweils bis zum 21.11.2017 gültig waren. Schon angesichts dessen erschien eine tatsächliche asylrelevante Verfolgung der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat nicht glaubhaft.

Die Erstbeschwerdeführerin gab in der ersten Einvernahme vor dem BFA nach den Antragsgründen befragt an, dass sie den Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe, um in Österreich zu arbeiten und auf eigenen Beinen zu stehen. Sie wolle sich hier mit ihrem Sohn gemeinsam ein Leben aufbauen. Dies seien alle ihre Fluchtgründe (Seite 10 des Einvernahmeprotokolls vom 26.02.2018 im Verfahrensakt zu L524 2217734-1). Konfrontiert mit dem Umstand, dass sie keinen Fluchtgrund habe, gab sie bloß an, sie sei eine alleinstehende Frau - ohne konkrete Befürchtungen in diesem Zusammenhang auszuführen - und sie wolle eine Arbeitsbewilligung (Seite 10 des Einvernahmeprotokolls vom 26.02.2018 im Verfahrensakt zu L524 2217734-1). Angesichts dieser Ausführungen war zur obenstehenden Feststellung zu gelangen, wonach die Beschwerdeführer die Türkei verlassen haben, um sich in Österreich ein Leben aufzubauen, sowie zu arbeiten bzw. zur Schule zu gehen. Etwaige Anhaltspunkte im Hinblick auf eine asylrelevante Verfolgung erblickte das BFA zutreffenderweise nicht.

Auch in der zweiten Einvernahme vor dem BFA gab die Erstbeschwerdeführerin keine weiteren Fluchtgründe an. Befragt nach Rückkehrbefürchtungen gab sie sogar an, in der Türkei würden sie keine Gefahren erwarten. Sie habe dort aber keine Zukunft, ebenso wenig wie ihr Sohn (Seite 8 des Einvernahmeprotokolls vom 07.03.2019 im Verfahrensakt zu L524 2217734-1). Auch der Zweitbeschwerdeführer gab vornehmlich an, dass die gesamte Familie in Österreich sei und er in der Türkei keine gute Ausbildung bekommen habe können, dies sei hier anders (Seite 5 des Einvernahmeprotokolls vom 26.02.2018 im Verfahrensakt zu L524 2217735-1), was aber vor dem Hintergrund, dass der Zweitbeschwerdeführer sieben Jahre die Schule besucht hat und während des laufenden Schulbesuchs die Türkei verließ, nicht glaubhaft ist.

Angesichts dieses Vorbringens gelangte das BFA zu Recht zur Ansicht, dass es sich bei den Beschwerdeführern um keine schutzbedürftigen Personen handelt, sondern, dass sie aus rein wirtschaftlichen Gründen ausgereist sind, um in Österreich ihre Lebensqualität zu verbessern. Diese Annahme wird auch dadurch gestützt, dass die Erstbeschwerdeführerin angab, dass sie ihren Lebensunterhalt vor der Ausreise durch die finanzielle Unterstützung ihrer Geschwister bestritt und selbst nie einer Erwerbstätigkeit nachging (Seite 6 des Einvernahmeprotokolls vom 26.02.2018 im Verfahrensakt zu L524 2217734-1).

In der ersten Einvernahme gab sie an: "Wie lange wird man mich noch unterstützen? Es ist mir bewusst, dass es in Österreich Frauenrechte und viel mehr Möglichkeiten für eine Frau gibt, zu arbeiten" (Seite 10 des Einvernahmeprotokolls vom 26.02.2018 im Verfahrensakt zu L524 2217734-1). Auch der Zweitbeschwerdeführer gab an, dass die Beschwerdeführer in der Türkei in schlechten finanziellen Verhältnissen gewesen wären. Sie hätten niemanden gehabt, der sie versorgt hätte. Dort hätte es zudem nicht so viele Arbeitsmöglichkeiten gegeben (Seiten 6f des Einvernahmeprotokolls vom 07.03.2019 im Verfahrensakt zu L524 2217735-1). Insgesamt stützten die Beschwerdeführer ihre Anträge auf internationalen Schutz daher auf wirtschaftliche bzw. rein private Gründe ohne Bezug zu Gründen der GFK (siehe dazu unter rechtliche Beurteilung).

In der ersten Einvernahme vor dem BFA gab die Erstbeschwerdeführerin zudem an, in der Türkei auf Grund ihrer kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit diskriminiert worden zu sein (Seite 5 des Einvernahmeprotokolls vom 26.02.2018 im Verfahrensakt zu L524 2217734-1). Auch der Zweitbeschwerdeführer gab bei seiner ersten Einvernahme vor dem BFA an, dass sie als Kurden von den Türken diskriminiert worden seien (Seite 5 des Einvernahmeprotokolls vom 26.02.2018 im Verfahrensakt zu L524 2217735-1). Während die Erstbeschwerdeführerin diese Diskriminierungen dahingehend relativierte, dass sie persönlich nicht diskriminiert worden sei, sondern Kurden "allgemein" diskriminiert würden und als Beispiel hierfür einen Vorfall nannte, bei dem sie auf der Straße mit dem Handy kurdische Musik gehört habe und dies einen Passanten gestört habe (Seiten 5f des Einvernahmeprotokolls vom 26.02.2018 im Verfahrensakt zu L524 2217734-1), gab der Zweitbeschwerdeführer hinsichtlich der Diskriminierungen an, dass sich die Einwohner im Herkunftsdorf der Beschwerdeführer über sie lustig gemacht hätten, ansonsten sei nichts passiert (Seite 5 des Einvernahmeprotokolls vom 26.02.2018 im Verfahrensakt zu L524 2217735-1). Anhaltspunkte für eine asylrelevante Verfolgung auf Grund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit leitete das BFA daraus zu Recht nicht ab. Es erfolgte daher die Negativfeststellung, hinsichtlich einer etwaigen Verfolgung aufgrund der Volksgruppenzugehörigkeit.

In der Beschwerde wurde kein dem Ergebnis des Ermittlungsverfahrens der belangten Behörde entgegenstehender oder darüberhinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet. Die Beschwerdeführerinnen sind in der Beschwerde auch keinem der dargestellten beweiswürdigenden Argumente des BFA konkret entgegengetreten.

In der Beschwerde wurde vorgebracht, dass die Erstbeschwerdeführerin im Heimatdorf als alleinstehende Frau diskriminiert, sexuell belästigt und beinahe vergewaltigt worden sei. Dies brachte die Erstbeschwerdeführerin auch in der Erstbefragung vor (Seite 5 des Erstbefragungsprotokolls im Verfahrensakt zu L524 2217734-1). Allerdings behauptete die Erstbeschwerdeführerin Derartiges in den beiden Einvernahmen vor dem BFA nicht. Hinsichtlich etwaiger Diskriminierungen schilderte sie bloß einen Vorfall auf der Straße, als sie kurdische Musik gehört habe und dies einen Passanten gestört habe. Weitere Vorfälle brachte sie nicht vor. Nachdem sie in der ersten Einvernahme vor dem BFA ihren Ausreisegrund schilderte und dabei keine sexuelle Belästigung oder Vergewaltigung schilderte, wurde sie gefragt, ob sie alle Fluchtgründe genannt habe, was sie bejahte (Seite 10 des Einvernahmeprotokolls vom 26.02.2018 im Verfahrensakt zu L524 2217734-1). Auch nach Rückübersetzung des Protokolls wurde sie gefragt, ob sie noch etwas ergänzen wolle, wobei sie aber keine Vorkommnisse schilderte (Seite 11 des Einvernahmeprotokolls vom 26.02.2018 im Verfahrensakt zu L524 2217734-1). Auch bei der zweiten Einvernahme konnte sie noch einmal ihre Gründe für ihre Antragstellung darlegen und nannte keine Belästigungen oder Vergewaltigungsversuche. Auf die Frage, ob sie weitere Probleme habe, verneinte sie dies und am Ende der Befragung erklärte sie, alles gesagt zu haben (Seiten 8 und 9 des Einvernahmeprotokolls vom 07.03.2019 im Verfahrensakt zu L524 2217734-1). Zudem erfuhr das Vorbringen hinsichtlich der angeblichen sexuellen Belästigungen und Übergriffe zu keinem Zeitpunkt eine Konkretisierung, sondern ist auffallend vage gehalten. Es ist daher nicht glaubhaft, dass die Erstbeschwerdeführerin sexuell belästigt oder beinahe vergewaltigt worden sei.

Eine massive Ausgrenzung der Beschwerdeführer seitens ihrer Familie - insbesondere seitens des Vaters der Erstbeschwerdeführerin - im Herkunftsstaat war zudem nicht glaubhaft, zumal das Verhältnis zwischen der Erstbeschwerdeführerin und ihrem Vater zwar "sehr distanziert" sei, sie aber dennoch Kontakt zu ihm habe (Seite 9 des Einvernahmeprotokolls vom 26.02.2018, Seite 7 des Einvernahmeprotokolls vom 07.03.2019 im Verfahrensakt zu L524 2217734-1). Zudem hat ihr Vater für die Beschwerdeführer im Zuge des Visaverfahrens eine Verpflichtungserklärung, die Kosten ihrer Hin- und Rückreise zu übernehmen, abgegeben. Eine drastische Ausgrenzung ist vor diesem Hintergrund nicht glaubhaft. Dies hob auch das BFA im angefochtenen Bescheid hervor.

Die Feststellungen zur Situation in der Türkei beruhen auf den dort jeweils angeführten Quellen. Diese wurden auch vom BFA herangezogen. Es handelt sich um Berichte verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender staatlicher und nichtstaatlicher Institutionen und Personen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes, schlüssiges Gesamtbild der Situation in der Türkei ergeben. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der überwiegend übereinstimmenden Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln. Die Beschwerdeführer traten diesen Feststellungen auch nicht konkret und substantiiert entgegen, weshalb das Bundesverwaltungsgericht nicht veranlasst war, das Ermittlungsverfahren diesbezüglich zu wiederholen bzw. zu ergänzen (vgl. zB. VwGH 20.01.1993, 92/01/0950; 14.12.1995, 95/19/1046; 30.01.2000, 2000/20/0356; 23.11.2006, 2005/20/0551 ua.).

IV. Rechtliche Beurteilung:

Absehen von einer mündlichen Verhandlung

Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG. Gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist ein Absehen von der mündlichen Verhandlung dann gerechtfertigt, wenn der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben wurde und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweist. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt (vgl. VwGH 17.05.2018, Ra 2018/20/0168 unter Hinweis auf VwGH 28.05.2014, Ra 2014/20/0017-0018).

Im gegenständlichen Fall ist dem angefochtenen Bescheid ein umfassendes Ermittlungsverfahren durch das BFA vorangegangen. Die belangte Behörde ist ihrer Ermittlungspflicht durch detaillierte Befragung nachgekommen. Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt wurde von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben und ist bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes in Verbindung mit der Beschwerde immer noch entsprechend aktuell und vollständig. Das BFA hat die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt und das Bundesverwaltungsgericht teilt die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung. In der Beschwerde wurde kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet (VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 und 0018). Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung konnte daher abgesehen werden.

Zu A) Abweisung der Beschwerde:

1. Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide):

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Asylantrag gestellt hat, soweit der Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder wegen Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 55/1955 (Genfer Flüchtlingskonvention, in der Folge: GFK) droht. Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG ist der Asylantrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) offen steht, oder wenn er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG) gesetzt hat.

Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, "aus Gründen" (Englisch: "for reasons of"; Französisch: "du fait de") der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.

Zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0047 unter Hinweis auf VwGH 28.05.2009, 2008/19/1031).

Die Gefahr der Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG iVm Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention kann nicht nur ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Sie kann auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende "Gruppenverfolgung", hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (vgl. VwGH 23.02.2017, Ra 2016/20/0089 unter Hinweis auf VwGH 29.04.2015, Ra 2014/20/0151, mwN).

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden Verfolgung nur dann Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite aus den in der Flüchtlingskonvention genannten Gründen Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines - asylrelevante Intensität erreichenden - Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Für einen Verfolgten macht es nämlich keinen Unterschied, ob er aufgrund staatlicher Verfolgung mit der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ihm dieser Nachteil aufgrund einer von dritten Personen ausgehenden, vom Staat nicht ausreichend verhinderbaren Verfolgung mit derselben Wahrscheinlichkeit droht. In beiden Fällen ist es ihm nicht möglich bzw. im Hinblick auf seine wohl begründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen (vgl. VwGH 24.03.2011, 2008/23/1101 unter Hinweis auf VwGH 22.03.2000, 99/01/0256; mwN).

Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines - asylrelevante Intensität erreichenden - Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (vgl. VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0119 unter Hinweis auf VwGH 28.10.2009, 2006/01/0793, mwN).

Dem von den Beschwerdeführern vorgebrachten Fluchtgrund, wonach sie die Türkei verlassen haben, um sich in Österreich ein Leben aufzubauen und einer Arbeit nachzugehen bzw. die Schule zu besuchen, kommt keine Asylrelevanz zu. Wirtschaftliche Gründe rechtfertigen nach Art. 1 Abschnitt A GFK grundsätzlich nicht die Ansehung als Flüchtling. Sie könnten nur dann relevant sein, wenn den Beschwerdeführern der völlige Verlust ihrer Existenzgrundlage drohte (vgl. VwGH 28.06.2005, 2002/01/0414; 08.09.1999, 98/01/0614; 13.05.1998, 96/01/0045). Dafür gibt es jedoch vorliegend weder aus dem Vorbringen der Beschwerdeführer noch aus den Länderfeststellungen Anhaltspunkte. Die von den Beschwerdeführern angesprochenen Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche bzw. familiäre und gesellschaftliche Probleme lassen nicht den Schluss zu, dass den Beschwerdeführern im Herkunftsstaat jegliche Existenzgrundlage entzogen würde. Aber selbst für den Fall des Entzugs der Existenzgrundlage ist Asylrelevanz nur dann anzunehmen, wenn dieser Entzug mit einem in der GFK genannten Anknüpfungspunkt - nämlich der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung - zusammenhängt, was im vorliegenden Fall zu verneinen wäre.

Abgesehen davon brachten die Beschwerdeführer bloß vor, als Kurden diskriminiert zu werden und in der Türkei keine Zukunft bzw. finanzielle Schwierigkeiten gehabt zu haben. Diese Probleme stellen jedoch keinen Eingriff dar, welcher eine asylrelevante Intensität erreichen würde. Aus dem von der Erstbeschwerdeführerin vorgebrachten Sachverhalt ergeben sich keinerlei konkrete, stichhaltige Hinweise darauf, dass eine asylrelevante Gefährdung der Erstbeschwerdeführerin maßgeblich wahrscheinlich zu erwarten wäre; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0185, mwN). Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als "Verfolgung" iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. VwGH 22.03.2017, Ra 2016/19/0350 unter Hinweis auf Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie)). Derartig schwere Diskriminierungen wurden nicht vorgebracht. Die Voraussetzungen für eine Asylgewährung liegen daher nicht vor.

Hinsichtlich des bloßen Umstands der kurdischen Abstammung ist darauf hinzuweisen, dass sich entsprechend der herangezogenen Länderberichte und aktuellen Medienberichte die Situation für Kurden - abgesehen von den Berichten betreffend das Vorgehen des türkischen Staates gegen Anhänger und Mitglieder der als Terrororganisation eingestuften PKK und deren Nebenorganisationen, wobei eine solche Anhängerschaft hinsichtlich des Beschwerdeführers nicht festgestellt werden konnte - nicht derart gestaltet, dass von Amts wegen aufzugreifende Anhaltspunkte dafür existieren, dass gegenwärtig Personen kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit einer eine maßgebliche Intensität erreichenden Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen sein würden.

Die von der Erstbeschwerdeführerin vorgebrachte sexuelle Belästigung und ein Vergewaltigungsversuch waren nicht glaubhaft, weshalb die Voraussetzung für die Gewährung von Asyl, nämlich die Gefahr einer aktuellen Verfolgung aus einem der in der GFK genannten Gründe, nicht vorliegt. Zudem war nicht ersichtlich, dass die türkischen Behörden aus asylrelevanten Gründen nicht gewillt wären, der Erstbeschwerdeführerin Schutz zu gewähren.

Da eine aktuelle oder zum Fluchtzeitpunkt bestehende asylrelevante Verfolgung auch sonst im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hervorgekommen, notorisch oder amtsbekannt ist, ist davon auszugehen, dass den Beschwerdeführern keine Verfolgung aus in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen droht. Nachteile, die auf die in einem Staat allgemein vorherrschenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen zurückzuführen sind, stellen ebenso wie allfällige persönliche und wirtschaftliche Gründe keine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention dar. Es besteht im Übrigen keine Verpflichtung, Asylgründe zu ermitteln, die der Asylwerber gar nicht behauptet hat (VwGH 21.11.1995, 95/20/0329 mwN).

Es gibt bei Zugrundelegung des Gesamtvorbringens der Beschwerdeführer keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass die Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in die Türkei maßgeblich wahrscheinlich Gefahr laufen würden, einer asylrelevanten Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt zu sein. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedenfalls nicht, um den Status des Asylberechtigten zu erhalten (VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100).

Hinsichtlich der Beschwerdeführer liegt ein Familienverfahren iSd § 34 AsylG vor. In den vorliegenden Verfahren war keinem Familienmitglied der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, weshalb eine Zuerkennung dieses Status im Rahmen des Familienverfahrens nicht in Betracht kommt.

Daher sind die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide als unbegründet abzuweisen.

2. Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide):

Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird (Z 1) oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Z 2), der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.

Gemäß § 8 Abs. 3 AsylG sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 11 offen steht.

Die Zuerkennung von subsidiärem Schutz setzt somit voraus, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in seine Heimat entweder eine reale Gefahr einer Verletzung insbesondere von Art. 2 oder 3 EMRK bedeuten würde oder für ihn eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes in der Türkei mit sich bringen würde.

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes setzt die Beurteilung eines drohenden Verstoßes gegen Art. 2 oder 3 EMRK eine Einzelfallprüfung voraus, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr ("real risk") insbesondere einer gegen Art. 2 oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat (vgl. etwa VwGH 19.06.2017, Ra 2017/19/0095, mit weiteren Nachweisen). Zu berücksichtigen ist auch, ob solche exzeptionellen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass der Betroffene im Zielstaat keine Lebensgrundlage vorfindet (VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0236 mwN).

Um von der realen Gefahr ("real risk") einer drohenden Verletzung der durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte eines Asylwerbers bei Rückkehr in seinen Heimatstaat ausgehen zu können, reicht es nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nicht aus, wenn eine solche Gefahr bloß möglich ist. Es bedarf vielmehr einer darüber hinausgehenden Wahrscheinlichkeit, dass sich eine solche Gefahr verwirklichen wird (vgl. etwa VwGH 13.12.2017, Ra 2017/01/0187, mwN).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass ein "real risk" (reales Risiko) vorliegt, wenn stichhaltige Gründe ("substantial grounds") dafür sprechen, dass die betroffene Person im Falle der Rückkehr in die Heimat das reale Risiko (insbesondere) einer Verletzung ihrer durch Art. 3 EMRK geschützten Rechte zu gewärtigen hätte. Dafür spielt es grundsätzlich keine Rolle, ob dieses reale Risiko in der allgemeinen Sicherheitslage im Herkunftsstaat, in individuellen Risikofaktoren des Einzelnen oder in der Kombination beider Umstände begründet ist. Allerdings betont der EGMR in seiner Rechtsprechung auch, dass nicht jede prekäre allgemeine Sicherheitslage ein reales Risiko iSd Art. 3 EMRK hervorruft. Im Gegenteil lässt sich seiner Judikatur entnehmen, dass eine Situation genereller Gewalt nur in sehr extremen Fällen ("in the most extreme cases") diese Voraussetzung erfüllt (vgl. etwa EGMR vom 28. November 2011, Nr. 8319/07 und 11449/07, Sufi und Elmi gg. Vereinigtes Königreich, RNr. 218 mit Hinweis auf EGMR vom 17. Juli 2008, Nr. 25904/07, NA gg. Vereinigtes Königreich). In den übrigen Fällen bedarf es des Nachweises von besonderen Unterscheidungsmerkmalen ("special distinguishing features"), aufgrund derer sich die Situation des Betroffenen kritischer darstellt als für die Bevölkerung im Herkunftsstaat im Allgemeinen (vgl. etwa EGMR Sufi und Elmi, RNr. 217).

Der Tatbestand einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes in § 8 Abs. 1 Z 2 Asyl 2005 orientiert sich an Art. 15 lit. c der Statusrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU ) und umfasst - wie der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) erkannt hat - eine Schadensgefahr allgemeiner Art, die sich als "willkürlich" erweist, also sich auf Personen ungeachtet ihrer persönlichen Situation erstrecken kann. Entscheidend für die Annahme einer solchen Gefährdung ist nach den Ausführungen des EuGH, dass der den bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson liefe bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr, einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein. Dabei ist zu beachten, dass der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit der Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz hat, umso geringer sein wird, je mehr er möglicherweise zu belegen vermag, dass er aufgrund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist (vgl. EuGH vom 17. Februar 2009, C- 465/07 , Elgafaji, und vom 30. Jänner 2014, C-285/12 , Diakite).

Nach der dargestellten Rechtsprechung sowohl des EGMR als auch des EuGH ist von einem realen Risiko einer Verletzung der durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte einerseits oder von einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts andererseits auszugehen, wenn stichhaltige Gründe für eine derartige Gefährdung sprechen.

Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können aber besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein - im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen - höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen. In diesem Fall kann das reale Risiko der Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts bereits in der Kombination der prekären Sicherheitslage und der besonderen Gefährdungsmomente für die einzelne Person begründet liegen (vgl. VwGH 25.04.2017, Ra 2017/01/0016, mwN).

Nach der ständigen Judikatur des EGMR, wonach es - abgesehen von Abschiebungen in Staaten, in denen die allgemeine Situation so schwerwiegend ist, dass die Rückführung eines abgelehnten Asylwerbers dorthin eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde - obliegt es grundsätzlich der abschiebungsgefährdeten Person, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos nachzuweisen, dass ihr im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde (vgl. VwGH 23.02.2016, Ra 2015/01/0134 unter Hinweis auf das Urteil des EGMR vom 5. September 2013, I. gg. Schweden, Nr. 61204/09). Die Mitwirkungspflicht des Beschwerdeführers bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in der Sphäre des Asylwerbers gelegen sind und deren Kenntnis sich das erkennende Gericht nicht von Amts wegen verschaffen kann (vgl. VwGH 30.09.1993, 93/18/0214). Wenn es sich um einen der persönlichen Sphäre der Partei zugehörigen Umstand handelt (etwa die familiäre, gesundheitliche oder finanzielle Situation), besteht eine erhöhte Mitwirkungspflicht (vgl. VwGH 18.12.2002, 2002/18/0279). Der Antragsteller muss die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr mit konkreten, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerten Angaben schlüssig darstellen (vgl. VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011). Dazu ist es notwendig, dass die Ereignisse vor der Flucht in konkreter Weise geschildert und auf geeignete Weise belegt werden. Rein spekulative Befürchtungen reichen ebenso wenig aus, wie vage oder generelle Angaben bezüglich möglicher Verfolgungshandlungen (EGMR U 17.10.1986, Kilic gegen Schweiz, Nr. 12364/86). So führt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aus, dass es trotz allfälliger Schwierigkeiten für den Antragsteller, Beweise zu beschaffen, dennoch ihm obliegt so weit als möglich Informationen vorzulegen, die der Behörde eine Bewertung der von ihm behaupteten Gefahr im Falle einer Abschiebung ermöglicht (EGMR U 05.07.2005, Said gegen Niederlande).

Bei außerhalb staatlicher Verantwortlichkeit liegenden Gegebenheiten im Herkunftsstaat kann nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) die Außerlandesschaffung eines Fremden nur dann eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen, wenn im konkreten Fall außergewöhnliche Umstände ("exceptional circumstances") vorliegen (EGMR 02.05.1997, D. gg. Vereinigtes Königreich, Zl. 30240/96; 06.02.2001, Bensaid, Zl. 44599/98; vgl. auch VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443). Unter "außergewöhnlichen Umständen" können auch lebensbedrohende Ereignisse (zB Fehlen einer unbedingt erforderlichen medizinischen Behandlung bei unmittelbar lebensbedrohlicher Erkrankung) ein Abschiebungshindernis im Sinne des Art. 3 EMRK iVm § 8 Abs. 1 AsylG 2005 bilden, die von den Behörden des Herkunftsstaates nicht zu vertreten sind (EGMR 02.05.1997, D. gg. Vereinigtes Königreich; vgl. VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443; 13.11.2001, 2000/01/0453; 09.07.2002, 2001/01/0164; 16.07.2003, 2003/01/0059). Nach Ansicht des VwGH ist am Maßstab der Entscheidungen des EGMR zu Art. 3 EMRK für die Beantwortung der Frage, ob die Abschiebung eines Fremden eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellt, unter anderem zu klären, welche Auswirkungen physischer und psychischer Art auf den Gesundheitszustand des Fremden als reale Gefahr ("real risk") - die bloße Möglichkeit genügt nicht - damit verbunden ist (vgl. VwGH 23.09.2004, 2001/21/0137). Unter Darstellung der maßgebenden persönlichen Verhältnisse des Fremden (insbesondere zu seinen finanziellen Möglichkeiten und zum familiären und sonstigen sozialen Umfeld) ist allenfalls weiter zu prüfen, ob ihm der Zugang zur notwendigen medizinischen Behandlung nicht nur grundsätzlich, sondern auch tatsächlich angesichts deren konkreter Kosten und der Erreichbarkeit ärztlicher Hilfsorganisationen möglich wäre (vgl. VwGH 23.09.2004, 2001/21/0137 unter Hinweis auf VwGH 17.12.2003, 2000/20/0208).

Für den vorliegenden Fall bedeutet dies:

Im gegenständlichen Fall ist es den Beschwerdeführern nicht gelungen, eine individuelle Bedrohung bzw. Verfolgungsgefahr glaubhaft zu machen bzw. wurde eine solche gar nicht vorgebracht und sie gehören auch keiner Personengruppe mit speziellem Risikoprofil an, weshalb sich daraus auch kein zu berücksichtigender Sachverhalt ergibt, der gemäß § 8 Abs. 1 AsylG zur Unzulässigkeit der Abschiebung, Zurückschiebung oder Zurückweisung in den Herkunftsstaat führen könnte.

Dass die Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnten, konnte im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht festgestellt werden. Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würden die Beschwerdeführer somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen verletzt werden. Weder droht ihnen im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung noch durch Folgen einer substantiell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte.

Es kann auch nicht erkannt werden, dass den Beschwerdeführern im Falle einer Rückkehr in die Türkei die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre (vgl. VwGH 16.07.2003, 2003/01/0059), haben doch die Beschwerdeführer selbst nicht ausreichend konkret vorgebracht, dass ihnen im Falle einer Rückführung in die Türkei jegliche Existenzgrundlage fehlen würde und sie in Ansehung existentieller Grundbedürfnisse (wie etwa Versorgung mit Lebensmitteln oder einer Unterkunft) einer lebensbedrohenden Situation ausgesetzt wären.

Nach dem festgestellten Sachverhalt besteht auch kein Hinweis auf "außergewöhnliche Umstände", welche eine Rückkehr der Beschwerdeführer in die Türkei unzulässig machen könnten.

Die Beschwerdeführer stammen aus XXXX . Betreffend die Sicherheitslage in Konya ist mit Blick auf die individuelle Situation der Beschwerdeführer zunächst auf die Länderfeststellungen im gegenständlichem Erkenntnis zu verweisen, denen hinsichtlich der Herkunftsregion der Beschwerdeführer keine maßgeblichen Vorfälle zu entnehmen sind. Die allgemeine Sicherheitslage ist jedenfalls nicht dergestalt, dass jeder dorthin Zurückkehrende der realen Gefahr unterläge, mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit einer Verletzung seiner durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte ausgesetzt zu sein oder für ihn die ernsthafte Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt anzunehmen wäre.

Es erscheint daher eine Rückkehr der Beschwerdeführer in die Türkei (Konya) nicht grundsätzlich ausgeschlossen und aufgrund der individuellen Situation der Beschwerdeführer insgesamt auch zumutbar. Für die hier zu erstellende Gefahrenprognose ist zunächst zu berücksichtigen, dass es den Beschwerdeführern bis zu ihrer Ausreise aus der Türkei möglich war, offenbar ohne größere Probleme in Konya zu leben. Ihrem Vorbringen vor dem BFA ist keine gravierende Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit aus Sicherheitsgründen zu entnehmen; vielmehr gab die Erstbeschwerdeführerin selbst an, nicht aus dem Kriegsgebiet zu stammen und dass ihr bei der Rückkehr keine Gefahren drohen würden. Außerdem gab sie an, mit dem Zweitbeschwerdeführer gemeinsam im Haus ihrer Schwester gelebt zu haben, welches nach wie vor vorhanden ist. Auch ihre Angehörigen leben nach wie vor in XXXX bzw. in Konya.

Bei der Erstbeschwerdeführerin handelt es sich um eine arbeitsfähige Frau, bei welcher die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden kann. Sie verfügt auch über acht Jahre Schuldbildung. Aus welchen Gründen die Erstbeschwerdeführerin als gesunde und junge Frau mit Schulbildung bei einer Rückkehr in die Türkei nicht in der Lage sein sollte, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, ist nicht ersichtlich bzw. wurde auch nicht vorgebracht, zumal sie auch über den kulturellen Hintergrund und die erforderlichen Sprachkenntnisse für die Türkei verfügt und dort einen Verwandtenkreis vorfindet. Auch beim Zweitbeschwerdeführer kann, nach Beendigung seiner Pflichtschulzeit, als jungem gesunden Mann die Teilnahme am Erwerbsleben vorausgesetzt werden. Es kann sohin nicht erkannt werden, dass den erwerbsfähigen Beschwerdeführern, im Falle einer Rückkehr in die Türkei dort die notwendigste Lebensgrundlage entzogen und dadurch die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre. Zudem verfügen die Beschwerdeführer jedenfalls über Verwandte in ihrem Herkunftsland (Vater der Erstbeschwerdeführerin) sowie über Verwandte in Österreich, von denen sie auch schon vor der Ausreise in der Türkei finanziell unterstützt wurden, weshalb davon ausgegangen werden kann, dass diese sie bei Rückkehr in die Türkei wieder unterstützen können.

Es kann daher davon ausgegangen werden, dass die Beschwerdeführer im Herkunftsstaat grundsätzlich in der Lage sein werden, ein ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften. Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde (vgl. VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443; 13.11.2001, 2000/01/0453; 18.07.2003, 2003/01/0059), liegt nicht vor.

Unter "außergewöhnlichen Umständen" können auch lebensbedrohende Ereignisse (zB Fehlen einer unbedingt erforderlichen medizinischen Behandlung bei unmittelbar lebensbedrohlicher Erkrankung) ein Abschiebungshindernis im Sinne des Art. 3 EMRK iVm § 8 Abs. 1 AsylG 2005 bilden.

Die Beschwerdeführer sind aktuell nicht lebensbedrohlich erkrankt, ihren Angaben zufolge sind sie gesund. Vor diesem Hintergrund ergeben sich somit keine Hinweise auf das Vorliegen von akut existenzbedrohenden Krankheitszuständen oder Hinweise auf eine unzumutbare Verschlechterung der Krankheitszustände im Falle einer Rückverbringung der Beschwerdeführer in die Türkei.

Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würden die Beschwerdeführer somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder den relevanten Zusatzprotokollen Nr. 6 und Nr. 13 verletzt werden. Weder droht im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung noch durch Folgen einer substantiell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte. Dasselbe gilt für die reale Gefahr, der Todesstrafe unterworfen zu werden. Auch Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für die Beschwerdeführer als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen.

Hinsichtlich der Beschwerdeführer liegt ein Familienverfahren iSd § 34 AsylG vor. In den vorliegenden Verfahren war keinem Familienmitglied der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, weshalb eine Zuerkennung dieses Status im Rahmen des Familienverfahrens nicht in Betracht kommt.

Daher sind die Beschwerden gegen Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide als unbegründet abzuweisen.

3. Rückkehrentscheidung (Spruchpunkte III. bis VI. der angefochtenen Bescheide):

Die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG liegen nicht vor, weil der Aufenthalt des Beschwerdeführers weder seit mindestens einem Jahr gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG geduldet, noch zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig ist, noch der Beschwerdeführer Opfer von Gewalt wurde.

Die Entscheidung ist daher gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG mit einer Rückkehrentscheidung zu verbinden.

Gemäß § 52 Abs. 2 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.

Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Türkei und somit keine begünstigten Drittstaatsangehörigen. Es kommt ihnen auch kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu. Daher war gegenständlich gemäß § 52 Abs. 2 FPG grundsätzlich eine Rückkehrentscheidung vorgesehen.

Gemäß § 52 FPG iVm § 9 BFA-VG darf eine Rückkehrentscheidung jedoch nicht verfügt werden, wenn es dadurch zu einer Verletzung des Privat- und Familienlebens käme:

Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird eine Ausweisung - nunmehr Rückkehrentscheidung - nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden (und seiner Familie) schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.

Die Verhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung ist dann gegeben, wenn der Konventionsstaat bei seiner aufenthaltsbeendenden Maßnahme einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des Fremden auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits, also dem Interesse des Einzelnen und jenem der Gemeinschaft als Ganzes gefunden hat. Dabei variiert der Ermessensspielraum des Staates je nach den Umständen des Einzelfalles und muss in einer nachvollziehbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form einer Interessenabwägung erfolgen.

Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

Vom Prüfungsumfang des Begriffes des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK ist nicht nur die Kernfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern umfasst, sondern z.B. auch Beziehungen zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Eltern und erwachsenen Kindern (etwa EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).

Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen der Erstbeschwerdeführerin und dem Zweitbeschwerdeführer ist darauf hinzuweisen, dass im gegenständlichen Fall der Beschwerdeführer ein Familienverfahren iSd § 34 AsylG 2005 vorliegt, weshalb von der aufenthaltsbeendenden Maßnahme beide Beschwerdeführer (als Kernfamilie) betroffen sind. Mit dieser Entscheidung wird gegen alle Beschwerdeführer (als Kernfamilie) eine Rückkehrentscheidung erlassen, weshalb somit kein Eingriff in das Familienleben vorliegt.

Unter dem "Privatleben" sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. Sisojeva ua gg. Lettland, EuGRZ 2006, 554). In diesem Zusammenhang kommt dem Grad der sozialen Integration des Betroffenen eine wichtige Bedeutung zu.

Die Beschwerdeführer leben in Österreich beim Bruder der Erstbeschwerdeführerin, der über einen Aufenthaltstitel für Österreich verfügt (Rot-Weiß-Rot-Karte Plus). Außerdem leben drei weitere Schwestern der Erstbeschwerdeführerin in Österreich, die österreichische Staatsangehörige sind. Eine besondere Abhängigkeit der Erstbeschwerdeführerin von ihren im Bundesgebiet befindlichen Familienangehörigen kann auch vor dem Hintergrund, dass die Erstbeschwerdeführerin von diesen finanziell unterstützt wird nicht erkannt werden, zumal es ihr als gesunde arbeitsfähige Frau zuzumuten ist, selbst für ihren Lebensunterhalt Sorge zu tragen. Zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit, die über die üblichen Bindungen hinausgehen, sind nicht hervorgekommen (vgl. VfGH 09.06.2006, B 1277/04; VwGH 17.11.2009, 2007/20/0955) und zwar weder hinsichtlich der Erstbeschwerdeführerin noch des Zweitbeschwerdeführers. Zu bedenken gilt es außerdem, dass die Erstbeschwerdeführerin seit 07.11.2018 mit dem Vater des Zweitbeschwerdeführers verheiratet ist, der in Schweden lebt und einen Aufenthaltstitel für Schweden hat. Weiters lebt eine Schwester in Frankreich.

Mit der Rückkehrentscheidung ist daher ein Eingriff in das Familien- und Privatleben verbunden.

Die Aufenthaltsdauer nach § 9 Abs. 2 Z 1 BFA-VG stellt nur eines von mehreren im Zuge der Interessenabwägung zu berücksichtigenden Kriterien dar, weshalb auch nicht gesagt werden kann, dass bei Unterschreiten einer bestimmten Mindestdauer des Aufenthalts in Österreich jedenfalls von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthalts im Bundesgebiet gegenüber den gegenteiligen privaten Interessen auszugehen ist (vgl. etwa VwGH 30.07.2015, Ra 2014/22/0055 bis 0058). Einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren kommt für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung zu (vgl. VwGH 10.04.2019, Ra 2019/18/0058; VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0070 unter Hinweis auf VwGH 21.01.2016, Ra 2015/22/0119; 10.05.2016, Ra 2015/22/0158; 15.03.2016, Ra 2016/19/0031).

Der Aufenthalt der Beschwerdeführer in Österreich seit November 2017, somit erst seit beinahe zwei Jahren, beruht auf einem Antrag auf internationalen Schutz, der sich als nicht berechtigt erwiesen hat und ist auch noch zu kurz, um seinem Interesse an einem Weiterverbleib im Bundesgebiet ein relevantes Gewicht zu verleihen. Nach der bisherigen Rechtsprechung ist auch auf die Besonderheiten der aufenthaltsrechtlichen Stellung von Asylwerbern Bedacht zu nehmen, zumal das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration dann gemindert ist, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf unberechtigte Asylanträge zurückzuführen ist (vgl. VwGH 17.12.2007, 2006/01/0216 mwN).

Es sind zudem keinerlei zu Gunsten der Erstbeschwerdeführerin sprechenden integrativen Schritte erkennbar. Die Erstbeschwerdeführerin hat während ihres Aufenthalts in Österreich keinen Deutschkurs besucht und keine Deutschprüfung absolviert. Die Erstbeschwerdeführerin ist nicht erwerbstätig, in keinem Verein tätig und finden sich in ihrem Vorbringen auch sonst keine Anhaltspunkte, dass sie sich in Österreich integrieren will. Vielmehr das Gegenteil ist der Fall; sie verbringt den ganzen Tag zu Hause. Darüber hinaus ist bei der Frage der Integration der Erstbeschwerdeführerin auch ihre soziale Integration in die österreichische Gesellschaft zu beleuchten. Im Verfahren kam nicht hervor, dass sie tiefergehend in die österreichische Gesellschaft integriert ist. Es liegen daher keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale vor.

Hingegen hat die Erstbeschwerdeführerin den Großteil ihres bisherigen Lebens in der Türkei verbracht, ist dort aufgewachsen und hat dort ihre Sozialisation erfahren. Sie spricht die Mehrheitssprache ihrer Herkunftsregion auf muttersprachlichem Niveau. Es ist daher nicht erkennbar, inwiefern sich die Erstbeschwerdeführerin im Falle ihrer Rückkehr bei der Wiedereingliederung in die dortige Gesellschaft unüberwindbaren Hürden gegenübersehen könnte. Zudem leben in der Türkei noch der Vater der Erstbeschwerdeführerin, sowie mehrere Verwandte. Daher ist im Vergleich von einer deutlich stärkeren Bindung der Erstbeschwerdeführerin zur Türkei auszugehen.

Nach der Rechtsprechung des VwGH sind gemäß § 9 Abs. 1 und 2 BFA-VG bei einer Rückkehrentscheidung, von welcher Kinder bzw. Minderjährige betroffen sind, die besten Interessen und das Wohlergehen dieser Kinder, insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen sie im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen. Maßgebliche Bedeutung kommt hinsichtlich der Beurteilung des Kriteriums der Bindungen zum Heimatstaat nach § 9 Abs. 2 Z 5 BFA-VG dabei den Fragen zu, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere, ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter befinden (vgl. VwGH 13.11.2018, Ra 2018/21/0205 unter Hinweis auf VwGH 30.8.2017, Ra 2017/18/0070 bis 0072, mwN zur diesbezüglichen Rechtsprechung des EGMR).

Soweit, wie im vorliegenden Fall, Kinder von der Rückkehrentscheidung betroffen sind, sind nach der Judikatur des EGMR die besten Interessen und das Wohlergehen dieser Kinder, insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen sie im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen (vgl. dazu die Urteile des EGMR vom 18.10.2006, Üner gegen die Niederlande, Beschwerde Nr. 46410/99, Rz 58, und vom 6.07.2010, Neulinger und Shuruk gegen die Schweiz, Beschwerde Nr. 41615/07, Rz 146). Maßgebliche Bedeutung hat der EGMR dabei den Fragen beigemessen, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter ("adaptable age"; vgl. dazu die Urteile des EGMR vom 31.07.2008, Darren Omoregie und andere gegen Norwegen, Beschwerde Nr. 265/07, Rz 66, vom 17.02.2009, Onur gegen das Vereinigte Königreich, Beschwerde Nr. 27319/07, Rz 60, und vom 24.11.2009, Omojudi gegen das Vereinigte Königreich, Beschwerde Nr. 1820/08, Rz 46) befinden (vgl. VwGH 21.04.2011, 2011/01/0132).

Dabei ist zusätzlich zu beachten, dass dem minderjährigen Zweitbeschwerdeführer der objektiv unrechtmäßige Aufenthalt subjektiv nicht im gleichen Ausmaß wie seiner Mutter zugerechnet werden kann (vgl. VfGH 07.10.2014, U 2459/2012 ua.).

Der 15-jährige Zweitbeschwerdeführer ist in der Türkei geboren. Er ist dort im Familienverband mit seiner Mutter aufgewachsen, weshalb davon auszugehen ist, dass er mit den kulturellen Gegebenheiten seines Heimatlandes vertraut gemacht wurde. Er hat in der Türkei bereits sieben Jahre die Schule besucht. Er spricht die Mehrheitssprache seiner Herkunftsregion auf muttersprachlichem Niveau. In Österreich besuchte er seit 07.09.2018 die Schule. Der Zweitbeschwerdeführer hat die Türkei im Alter von 14 Jahren verlassen, so dass er die grundsätzliche Sozialisierung bereits im Herkunftsstaat erfahren hat, weshalb dies eine Wiedereingliederung ermöglicht (vgl. VwGH 18.10.2017, Ra 2017/19/0422).

Der Verwaltungsgerichtshof hat zudem mehrfach darauf hingewiesen, dass es im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 28.02.2019, Ro 2019/01/0003, mwN).

Unter der Schwelle des § 50 FPG kommt den Verhältnissen im Herkunftsstaat unter dem Gesichtspunkt des Privatlebens Bedeutung zu, sodass etwa "Schwierigkeiten beim Beschäftigungszugang oder bei Sozialleistungen" in die bei der Erlassung der Rückkehrentscheidung vorzunehmende Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG miteinzubeziehen sind (vgl. VwGH 16.12.2015, Ra 2015/21/0119 unter Hinweis auf VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101).

Die Bindungen zum Heimatstaat der Beschwerdeführer sind deutlich stärker ausgeprägt. Es ist daher nicht erkennbar, inwiefern sich die Beschwerdeführer im Falle ihrer Rückkehr bei der Wiedereingliederung in die dortige Gesellschaft unüberwindbaren Hürden gegenübersehen könnte. Daher ist im Vergleich von einer deutlich stärkeren Bindung der Beschwerdeführer zur Türkei auszugehen.

Es ist auch davon auszugehen, dass die Beschwerdeführer Möglichkeiten zur Schaffung einer Existenzgrundlage im Falle einer Rückkehr haben. Bei den Beschwerdeführern handelt es sich um eine arbeitsfähige junge Frau, die über eine zumindest achtjährige Schulbildung verfügt. Es kann daher die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden. Aus welchen Gründen sie nicht in der Lage sein sollte, für ihren Lebensunterhalt und jenen ihres Sohnes zu sorgen, ist nicht ersichtlich, zumal sie auch über den kulturellen Hintergrund und die erforderlichen Sprachkenntnisse für die Türkei verfügt. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass die Beschwerdeführer in der Lage sein werden, in ihrem Heimatland, dessen Sprache sie sprechen, in dem zahlreiche Verwandte leben, sich eine Existenzgrundlage aufzubauen.

Die strafrechtliche Unbescholtenheit des Beschwerdeführers vermag weder das persönliche Interesse des Beschwerdeführers an einem Verbleib in Österreich zu verstärken noch das öffentliche Interesse an der aufenthaltsbeendenden Maßnahme entscheidend abzuschwächen (vgl. VwGH 19.04.2012, 2011/18/0253 unter Hinweis auf VwGH 25.02.2010, 2009/21/0070, mwN).

Die Beschwerdeführer vermochten daher zum Entscheidungszeitpunkt, unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Geschwister der Erstbeschwerdeführerin über einen Aufenthaltstitel für Österreich bzw. die österreichische Staatsbürgerschaft verfügen, der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin in Schweden lebt und eine Schwester in Frankreich, keine entscheidungserheblichen integrativen Anknüpfungspunkte im österreichischen Bundesgebiet darzutun, welche zu einem Überwiegen der privaten Interessen der Beschwerdeführer an einem Verbleib im österreichischen Bundesgebiet gegenüber den öffentlichen Interessen an einer Rückkehr der Beschwerdeführer in ihren Herkunftsstaat führen könnten.

Aufgrund der genannten Umstände überwiegen in einer Gesamtabwägung derzeit die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung die privaten Interessen der Beschwerdeführer am Verbleib im Bundesgebiet. Insbesondere das Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Sinne eines geordneten Fremdenwesens wiegt in diesem Fall schwerer als die privaten Interessen der Beschwerdeführer an einem Weiterverbleib im Bundesgebiet.

Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG stellt sohin keine Verletzung des Beschwerdeführers in seinem Recht auf Privat- und Familienleben gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG iVm Art. 8 EMRK dar.

Voraussetzung für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 Abs. 1 AsylG ist, dass dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG iSd Art. 8 EMRK geboten ist. Nur bei Vorliegen dieser Voraussetzung kommt ein Abspruch über einen Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG überhaupt in Betracht (vgl. VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101).

Mit der Rückkehrentscheidung ist gemäß § 52 Abs. 9 FPG gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Für die gemäß § 52 Abs. 9 FPG gleichzeitig mit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung vorzunehmende Feststellung der Zulässigkeit einer Abschiebung gilt der Maßstab des § 50 FPG (vgl. VwGH 15.09.2016, Ra 2016/21/0234).

Die Zulässigkeit der Abschiebung gemäß § 52 Abs. 9 iVm § 50 FPG folgt aus der Nichtgewährung von Asyl und subsidiärem Schutz (vgl. VwGH 07.03.2019, Ra 2019/21/0044 bis 0046 mwN).

Die festgelegte Frist von zwei Wochen für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung ergibt sich zwingend aus § 55 Abs. 2 erster Satz FPG. Dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hätte, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen würden, wurde nicht vorgebracht. Die eingeräumte Frist ist angemessen und es wurde diesbezüglich auch kein Vorbringen erstattet.

Daher sind die Beschwerden gegen Spruchpunkte III. bis VI. der angefochtenen Bescheide als unbegründet abzuweisen.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung mit der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes übereinstimmt.

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