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A. Entwicklung (Sagerer/Schiavon)

Sagerer/SchiavonAugust 2012

Rechtsgeschichtlich betrachtet war der Gedanke der Unauflösbarkeit einer gültig geschlossenen Ehe durch die Jahrhunderte der Herrschaft des kirchlichen Eherechts zutiefst im österreichischen Rechtsbewusstsein verankert.518518Vgl Schwind in Klang2 I/1, 723. Das ABGB in seiner Stammfassung machte bei der Frage, ob eine Ehe auch durch andere Art als durch den Tod getrennt werden könne, einen Unterschied zwischen Katholiken (die den weitaus überwiegenden Bevölkerungsanteil stellten) und Nicht-Katholiken: Gemäß § 111 der Urfassung des ABGB konnte eine Ehe, bei deren Eingehung auch nur ein Teil katholisch war, nur durch den Tod getrennt werden.519519In der Terminologie des Eherechts des ABGB war „Scheidung“ die Scheidung von Tisch und Bett (§§ 103 ff), bei der das Eheband unangetastet blieb, während die völlige Auflösung des Ehebandes mit Möglichkeit der Wiederverheiratung als „Trennung“ bezeichnet wurde. Eine Trennung dem Bande nach gab es für Katholiken nicht.520520 Zeiller (Commentar I, 286 f) führt das darauf zurück, dass nach der Lehre der katholischen Theologen die Ehe nach göttlichem Rechte unauflösbar ist und von jedem Katholiken daher vermutet werde, dass er bei seiner Verehelichung die Unauflösbarkeit zu einer wesentlichen Bedingung mache, der sich auch der andere Teil unterziehe. Es bestand nur die Möglichkeit der Scheidung von Tisch und Bett (§§ 103 ff ABGB 1811), also der gerichtlichen Aufhebung der Verpflichtung, einen gemeinschaftlichen Haushalt zu führen und einander ehelich beizuwohnen. Eine Wiederverheiratung war grundsätzlich ausgeschlossen.521521Gem § 83 ABGB aF konnten die „Landesstellen“ (Landeshauptleute) Nachsicht von Ehehindernissen erteilen. Ab 1919 kam die Übung auf, diese Bestimmung auch auf das Hindernis des bestehenden Ehebandes anzuwenden, um so auch Katholiken eine Wiederverheiratung zu ermöglichen. Insbesondere der nö Landeshauptmann Sever machte davon Gebrauch. Aufgrund solcher Nachsichterteilung geschlossene Ehen wurden als „Dispensehen“ oder auch „Severehen“ bezeichnet; siehe dazu Schwind, Familienrecht3 (1984) 46. Zu dem sich daraus ergebenden Kompetenzkonflikt vgl Spitzer, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten im Zivilprozess, ÖJZ 2003, 48. Erst 1938 kam es durch die Übernahme des deutschen Ehegesetzes zur Einführung eines allgemeinen konfessionell unabhängigen Scheidungsrechts.522522Gesetz zur Vereinheitlichung des Rechts der Eheschließung und der Ehescheidung vom 6.7.1938 dRGBl I S 807, GBl 244; in Kraft getreten am 1.8.1938. Seither ist nach österreichischem Recht die Auflösung der Ehe durch Ehescheidung gestattet, gleich welcher Religion die Betreffenden angehören.

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