Normen
AVG §56
EURallg
FrPolG 2005 §120 Abs1a idF 2020/I/027
FrPolG 2005 §27a idF 2017/I/145
FrPolG 2005 §31 Abs1 Z3
SDÜ 1990 Art21
SDÜ 1990 Art21 Abs1
SDÜ 1990 Art25
VStG §24
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §38
VwRallg
12010M004 EUV Art4 Abs3
32006R0562 Schengener Grenzkodex Art6 Abs1 lita
32006R0562 Schengener Grenzkodex Art6 Abs1 litc
32006R0562 Schengener Grenzkodex Art6 Abs1 litd
32006R0562 Schengener Grenzkodex Art6 Abs1 lite
62017CJ0240 E VORAB
62019CJ0193 Migrationsverket VORAB
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2023:RA2021170043.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Straferkenntnis der Landespolizeidirektion Wien vom 7. Juli 2020 wurde der Revisionswerber, ein nigerianischer Staatsangehöriger, der Übertretung des § 120 Abs. 1a iVm § 27a Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 ‑ FPG schuldig erkannt und über ihn eine Geldstrafe von € 500,‑‑ (samt Ersatzfreiheitsstrafe) verhängt. Weiters wurde dem Revisionswerber ein Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens vorgeschrieben. Dem Revisionswerber wurde vorgeworfen, er habe sich als Fremder (§ 2 Abs. 4 Z 1 FPG) am 3. Mai 2020, 5:56 Uhr, unerlaubt im Bundesgebiet aufgehalten, obwohl gegen ihn ein „Einreise‑ und Aufenthaltsverbot“ bestehe und er „nicht im Besitz einer Wiedereinreisebewilligung gemäß § 27a FPG eines österreichischen Aufenthaltstitels“ sei. Begründend stellte die belangte Behörde fest, dass gegen den Revisionswerber ein Einreise‑ und Aufenthaltsverbot von Norwegen für das Schengengebiet bestehe und er über keinen gültigen Einreise- bzw. Aufenthaltstitel für Österreich verfüge.
2 In seiner dagegen erhobenen Beschwerde brachte der Revisionswerber u. a. vor, „in Italien laufend aufenthaltsberechtigt“ zu sein.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht Wien (Verwaltungsgericht) die Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung und unter ‑ im Revisionsfall nicht relevanter ‑ Modifizierung des Spruchs des Straferkenntnis als unbegründet ab (Spruchpunkt I.). Weiters schrieb das Verwaltungsgericht dem Revisionswerber einen Beitrag zu den Kosten des Beschwerdeverfahrens vor (Spruchpunkt II.). Das Verwaltungsgericht sprach überdies aus, dass die Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt III.).
4 Begründend führte das Verwaltungsgericht aus, der Revisionswerber sei vor dem 3. Mai 2020 in das Bundesgebiet eingereist und an diesem Tag erstmals aufgegriffen worden. Mit rechtskräftigem Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 4. Mai 2020 sei dem Revisionswerber kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen und die Abschiebung nach Nigeria für zulässig erklärt worden. Weiters sei über ihn ein Einreiseverbot für die Dauer von eineinhalb Jahren verhängt worden. In Norwegen sei gegen den Revisionswerber rechtskräftig und durchsetzbar ein Einreise‑ und Aufenthaltsverbot im Schengen-Gebiet erlassen worden, „außer bei Besitz eines gültigen Einreise‑ oder Aufenthaltstitels eines Schengen Staates“.
5 Der Revisionswerber sei im Besitz eines nigerianischen Reisepasses und eines italienischen Aufenthaltstitels. Er halte sich derzeit wieder in Italien auf.
6 Aufgrund des Einreise‑ und Aufenthaltsverbots für das gesamte Schengen‑Gebiet sei der Revisionswerber nicht befugt, sich in einem Schengen‑Staat aufzuhalten, es sei denn, ein einzelner Schengen‑Staat (wie in diesem Fall Italien) erteile ihm eine Aufenthaltsbewilligung. Der Revisionswerber sei somit zwar berechtigt, sich in Italien aufzuhalten, nicht jedoch im übrigen Schengen-Gebiet. Norwegen habe die Ausschreibung bis dato auch nicht zurückgezogen, sodass Art. 25 Abs. 3 Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) nicht zur Anwendung gelange. Ein Aufenthalt im Schengen‑Gebiet (außerhalb Italiens) sei dem Revisionswerber daher verwehrt. Der Revisionswerber verfüge über keinen österreichischen Aufenthaltstitel. Er habe sich somit im Tatzeitpunkt nicht rechtmäßig in Österreich aufgehalten. Es handle sich dabei um ein Ungehorsamsdelikt, bei dem fahrlässiges Verhalten genüge.
7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Die belangte Behörde teilte mit, keine Revisionsbeantwortung zu erstatten.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
8 In der Revision wird zu ihrer Zulässigkeit vorgebracht, das Verwaltungsgericht begründe selbst, dass das in Norwegen erlassene Einreiseverbot nur dann gelte, wenn der Revisionswerber nicht im Besitz eines gültigen Einreise‑ oder Aufenthaltstitels eines Schengenstaates wäre. Der Revisionswerber sei aber am Tag seiner Anhaltung im Besitz eines gültigen italienischen Aufenthaltstitels gewesen. Mit diesem Vorbringen erweist sich die Revision als zulässig. Sie ist auch begründet.
9 Das Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (Schengener Durchführungsübereinkommen; SDÜ), lautet (Art. 21 idF der Verordnung (EU) Nr. 610/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 und Art. 25 idF der Verordnung (EU) Nr. 265/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. März 2010, in welcher ‑ offenbar aufgrund eines Redaktionsversehens ‑ der neu angefügte Absatz [als Wiederholung] mit Absatz 3 bezeichnet ist) auszugsweise:
“ ...
Kapitel 4
Voraussetzungen für den Reiseverkehr von Drittausländern
...
Artikel 21
(1) Drittausländer, die Inhaber eines gültigen, von einem der Mitgliedstaaten ausgestellten Aufenthaltstitels sind, können sich aufgrund dieses Dokuments und eines gültigen Reisedokuments bis zu 90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen frei im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten bewegen, sofern sie die in Artikel 5 Absatz 1 Buchstaben a, c und e der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) aufgeführten Einreisevoraussetzungen erfüllen und nicht auf der nationalen Ausschreibungsliste des betroffenen Mitgliedstaats stehen.
...
Kapitel 5
Aufenthaltstitel und Ausschreibung zur Einreiseverweigerung
Artikel 25
(1) Beabsichtigt ein Mitgliedstaat, einen Aufenthaltstitel zu erteilen, so ruft er systematisch die Daten im Schengener Informationssystem ab. Beabsichtigt ein Mitgliedstaat, einem zur Einreiseverweigerung ausgeschriebenen Drittausländer einen Aufenthaltstitel zu erteilen, so konsultiert er vorab den ausschreibenden Mitgliedstaat und berücksichtigt dessen Interessen; der Aufenthaltstitel wird nur bei Vorliegen gewichtiger Gründe erteilt, insbesondere aus humanitären Gründen oder aufgrund internationaler Verpflichtungen.
Wird der Aufenthaltstitel erteilt, so zieht der ausschreibende Mitgliedstaat die Ausschreibung zurück, wobei es ihm unbenommen bleibt, den betroffenen Drittausländer in die nationale Ausschreibungsliste aufzunehmen.
(1a) Vor einer Ausschreibung zum Zwecke der Einreiseverweigerung im Sinne von Artikel 96 prüfen die Mitgliedstaaten ihre nationalen Register von erteilten Visa für den längerfristigen Aufenthalt oder Aufenthaltstiteln.
(2) Stellt sich heraus daß der Drittausländer, der über einen von einer der Vertragsparteien erteilten gültigen Aufenthaltstitel verfügt, zum Zwecke der Einreiseverweigerung ausgeschrieben ist, konsultiert die ausschreibende Vertragspartei die Vertragspartei, die den Aufenthaltstitel erteilt hat, um zu prüfen, ob ausreichende Gründe für die Einziehung des Aufenthaltstitels vorliegen.
(3) Ist der Aufenthaltstitel nicht eingezogen, so zieht die ausschreibende Vertragspartei die Ausschreibung zurück, wobei es ihr unbenommen bleibt, den betroffenen Drittausländer in die nationale Ausschreibungsliste aufzunehmen.
(3) Die Absätze 1 und 2 finden auch auf Visa für den längerfristigen Aufenthalt Anwendung.
...“
Die in Art. 21 Abs. 1 SDÜ erwähnte Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex a.F.) wurde durch Art. 44 der Verordnung (EU) Nr. 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex n.F.; SGK) aufgehoben.
Nach Art. 44 iVm Anhang X SGK sind u.a. Bezugnahmen auf Artikel 5 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex a.F. als Bezugnahmen auf Artikel 6 Abs. 1 SGK zu lesen.
Der SGK lautet (Art. 6 Abs. 1 idF der Verordnung Nr. 2018/1240 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. September 2018 u.a. über die Einrichtung eines Europäischen Reiseinformations‑ und genehmigungssystems) auszugsweise:
„ ...
Artikel 2
Begriffsbestimmungen
Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck
...
7. ‚zur Einreiseverweigerung ausgeschriebene Person‘ einen Drittstaatsangehörigen, der gemäß den Artikeln 24 und 26 der Verordnung (EG) Nr. 1987/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates und für die in jenem Artikel genannten Zwecke im Schengener Informationssystem (SIS) ausgeschrieben ist;
...
Artikel 6
Einreisevoraussetzungen für Drittstaatsangehörige
(1) Für einen geplanten Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten von bis zu 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen, wobei der Zeitraum von 180 Tagen, der jedem Tag des Aufenthalts vorangeht, berücksichtigt wird, gelten für einen Drittstaatsangehörigen folgende Einreisevoraussetzungen:
a) Er muss im Besitz eines gültigen Reisedokuments sein, das seinen Inhaber zum Überschreiten der Grenze berechtigt und folgende Anforderungen erfüllt:
...
c) Er muss den Zweck und die Umstände des beabsichtigten Aufenthalts belegen, und er muss über ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts sowohl für die Dauer des beabsichtigten Aufenthalts als auch für die Rückreise in den Herkunftsstaat oder für die Durchreise in einen Drittstaat, in dem seine Zulassung gewährleistet ist, verfügen oder in der Lage sein, diese Mittel rechtmäßig zu erwerben.
d) Er darf nicht im SIS zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben sein.
e) Er darf keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder die internationalen Beziehungen eines Mitgliedstaats darstellen und darf insbesondere nicht in den nationalen Datenbanken der Mitgliedstaaten zur Einreiseverweigerung aus denselben Gründen ausgeschrieben worden sein.
...“
Die Verordnung (EG) Nr. 1987/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems der zweiten Generation (SIS II) lautet auszugsweise:
„ ...
Artikel 24
Voraussetzungen für Ausschreibungen zur Einreise‑ oder Aufenthaltsverweigerung
1. Die Daten zu Drittstaatsangehörigen, die zur Einreise‑ oder Aufenthaltsverweigerung ausgeschrieben sind, werden aufgrund einer nationalen Ausschreibung eingegeben, die auf einer Entscheidung der zuständigen Verwaltungsbehörden oder Gerichte beruht, wobei die Verfahrensregeln des nationalen Rechts zu beachten sind; diese Entscheidung darf nur auf der Grundlage einer individuellen Bewertung ergehen. Rechtsbehelfe gegen diese Entscheidungen richten sich nach den nationalen Rechtsvorschriften.
2. Eine Ausschreibung wird eingegeben, wenn die Entscheidung nach Absatz 1 auf die Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung oder die nationale Sicherheit gestützt wird, die die Anwesenheit des betreffenden Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats darstellt. Dies ist insbesondere der Fall
a) bei einem Drittstaatsangehörigen, der in einem Mitgliedstaat wegen einer Straftat verurteilt worden ist, die mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht ist;
b) bei einem Drittstaatsangehörigen, gegen den ein begründeter Verdacht besteht, dass er schwere Straftaten begangen hat, oder gegen den konkrete Hinweise bestehen, dass er solche Taten im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats plant.
3. Eine Ausschreibung kann auch eingegeben werden, wenn die Entscheidung nach Absatz 1 darauf beruht, dass der Drittstaatsangehörige ausgewiesen, zurückgewiesen oder abgeschoben worden ist, wobei die Maßnahme nicht aufgehoben oder ausgesetzt worden sein darf, ein Verbot der Einreise oder gegebenenfalls ein Verbot des Aufenthalts enthalten oder davon begleitet sein muss und auf der Nichtbeachtung der nationalen Rechtsvorschriften über die Einreise oder den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen beruhen muss.
4. Dieser Artikel findet auf Personen nach Artikel 26 keine Anwendung.
5. Die Kommission überprüft die Anwendung des vorliegenden Artikels drei Jahre nach dem in Artikel 55 Absatz 2 genannten Zeitpunkt. Auf der Grundlage dieser Überprüfung unterbreitet die Kommission in Anwendung des ihr im Vertrag zugewiesenen Initiativrechts die notwendigen Vorschläge zur Änderung der Bestimmungen des vorliegenden Artikels im Hinblick auf eine stärkere Harmonisierung der Kriterien für die Eingabe von Ausschreibungen.
...
Artikel 26
Voraussetzungen für Ausschreibungen von Drittstaatsangehörigen, gegen die im Einklang mit Artikel 15 des Vertrags über die Europäische Union eine restriktive Maßnahme erlassen wurde
1. Unbeschadet des Artikels 25 wird ein Drittstaatsangehöriger, gegen den eine restriktive Maßnahme im Einklang mit Artikel 15 des Vertrags über die Europäische Union erlassen wurde, mit der seine Einreise in das Hoheitsgebiet von Mitgliedstaaten oder seine Durchreise durch dieses Hoheitsgebiet verhindert werden soll, einschließlich Maßnahmen, mit denen ein Reiseverbot des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen durchgesetzt werden soll, zu Zwecken der Einreise- oder Aufenthaltsverweigerung im SIS II ausgeschrieben, sofern die Anforderungen an die Datenqualität erfüllt werden.
...“
Das Fremdenpolizeigesetz 2005 ‑ FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 (§ 2, § 15 und § 31 idF BGBl. I Nr. 56/2018, § 27a idF BGBl. I Nr. 145/2017, § 120 idF BGBl. I Nr. 27/2020), lautet auszugsweise:
„ ...
Begriffsbestimmungen
§ 2. (1) ...
...
(4) Im Sinn dieses Bundesgesetzes ist
...
6. Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ): das Übereinkommen vom 19. Juni 1990 zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen, https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblPdf/1997_90_3/1997_90_3.pdf ;
7. Vertragsstaat: ein Staat, für den das Übereinkommen vom 28. April 1995 über den Beitritt Österreichs zum Schengener Durchführungsübereinkommen, https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblPdf/1997_90_3/1997_90_3.pdf , in Kraft gesetzt ist;
...
Voraussetzungen für die rechtmäßige Ein- und Ausreise
§ 15. (1) ...
...
(4) Die Einreise eines Fremden ist ferner dann rechtmäßig,
...
2. wenn der Fremde, obwohl ein Vertragsstaat über ihn einen Zurückweisungsgrund mitgeteilt hat, einen Aufenthaltstitel eines Vertragsstaates oder einen Einreisetitel Österreichs besitzt;
...
Wiedereinreise während der Gültigkeitsdauer eines Einreiseverbotes oder Aufenthaltsverbots
§ 27a. (1) Während der Gültigkeitsdauer des Einreiseverbotes oder Aufenthaltsverbotes darf der Fremde, der nicht der Visumpflicht unterliegt, ohne Bewilligung nicht wieder einreisen.
...
Voraussetzung für den rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet
§ 31. (1) Fremde halten sich rechtmäßig im Bundesgebiet auf,
...
3. wenn sie Inhaber eines von einem Vertragsstaat ausgestellten Aufenthaltstitels sind bis zu drei Monaten (Artikel 21 SDÜ gilt), sofern sie während ihres Aufenthalts im Bundesgebiet keiner unerlaubten Erwerbstätigkeit nachgehen;
...
Rechtswidrige Einreise und rechtswidriger Aufenthalt
§ 120. (1) ...
(1a) Wer als Fremder sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit Geldstrafe von 500 Euro bis zu 2 500 Euro, im Fall ihrer Uneinbringlichkeit mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Wochen, zu bestrafen. Wer wegen einer solchen Tat bereits einmal rechtskräftig bestraft wurde, ist mit Geldstrafe von 2 500 Euro bis zu 7 500 Euro oder mit Freiheitsstrafe bis zu vier Wochen zu bestrafen. Als Tatort gilt der Ort der Betretung oder des letzten bekannten Aufenthaltes; .... Die Verwaltungsübertretung gemäß erster Satz kann durch Organstrafverfügung gemäß § 50 VStG in der Höhe von 500 Euro geahndet werden.
...“
10 Im Revisionsfall wurde der Revisionswerber bestraft, weil er sich am 3. Mai 2020 unerlaubt im Bundesgebiet aufgehalten habe, obwohl gegen ihn ein (von Norwegen erlassenes) Einreise‑ und Aufenthaltsverbot bestehe und er „nicht im Besitz einer Wiedereinreisebewilligung gemäß § 27a FPG [bzw.] eines österreichischen Aufenthaltstitels“ gewesen sei. Der Revisionswerber habe damit § 120 Abs. 1a iVm § 27a Abs. 1 FPG verletzt.
11 Die dem Revisionswerber zur Last gelegte Tathandlung besteht somit in einem nicht rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet. Der Revisionswerber bestreitet die Unrechtmäßigkeit seines Aufenthalts mit dem Hinweis auf das Vorliegen eines gültigen italienischen Aufenthaltstitels.
12 Zu prüfen ist daher, ob das Verwaltungsgericht zu Recht davon ausgegangen ist, dass der Aufenthalt des Revisionswerbers im Bundesgebiet im Tatzeitpunkt rechtswidrig war.
13 Nach § 15 Abs. 4 Z 2 FPG ist die Einreise eines Fremden rechtmäßig, wenn der Fremde, obwohl ein Vertragsstaat über ihn einen Zurückweisungsgrund mitgeteilt hat, einen Aufenthaltstitel eines Vertragsstaates oder einen Einreisetitel Österreichs besitzt. Nach § 31 Abs. 1 Z 3 FPG halten sich Fremde bis zu drei Monaten rechtmäßig im Bundesgebiet auf, wenn sie Inhaber eines von einem Vertragsstaat ausgestellten Aufenthaltstitels sind, sofern sie während ihres Aufenthalts im Bundesgebiet keiner unerlaubten Erwerbstätigkeit nachgehen, wobei diese Bestimmung auf die Geltung des Art. 21 SDÜ verweist.
14 Ein Vertragsstaat ist gemäß § 2 Abs. 4 Z 7 FPG ein Staat, für den das SDÜ in Kraft gesetzt ist. Zu den Vertragsstaaten zählen daher u.a. Italien (vgl. das Übereinkommen über den Beitritt der Italienischen Republik zu dem am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux‑Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen, ABl. L 239 vom 22.9.2000, S. 63 ff) und der assoziierte Schengen‑Staat Norwegen (vgl. den Beschluss des Rates vom 17. Mai 1999 über den Abschluss eines Übereinkommens mit der Republik Island und dem Königreich Norwegen über die Assoziierung dieser beiden Staaten bei der Umsetzung, Anwendung und Entwicklung des Schengen‑Besitzstandes, ABl. L 176 vom 10.7.1999, S. 35).
15 Da die „Geltung“ des Art. 21 SDÜ in § 31 Abs. 1 Z 3 FPG ausdrücklich angeordnet wurde, ist bei der Auslegung des § 31 Abs. 1 Z 3 FPG diese Bestimmung heranzuziehen (vgl. dazu VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0103, mwN). Das SDÜ ist darüber hinaus durch Kundmachung im Bundesgesetzblatt zu einer innerstaatlich verbindlichen Norm geworden. § 31 Abs. 1 Z 3 FPG ist daher im Hinblick auf das SDÜ zu interpretieren (vgl. VwGH 5.4.2005, 2005/18/0093).
16 Nach Art. 21 Abs. 1 SDÜ können Drittausländer, die Inhaber eines gültigen, von einem der Mitgliedstaaten ausgestellten Aufenthaltstitels sind, sich aufgrund dieses Dokuments und eines gültigen Reisedokuments im Reiseverkehr (d.h. bis zu 90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen) frei im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten bewegen, sofern sie die in Artikel 6 Absatz 1 Buchstaben a, c und e SGK aufgeführten Einreisevoraussetzungen erfüllen und nicht auf der nationalen Ausschreibungsliste des betroffenen Mitgliedstaats stehen.
17 Einreisevoraussetzungen nach Art. 6 Abs. 1 lit. a, c und e SGK sind im Wesentlichen der Besitz eines gültigen Reisedokuments und ausreichender Mittel sowie die Prognose, dass von dem Drittausländer keine Gefahr u.a. für die öffentliche Ordnung und die innere Sicherheit ausgeht und der Drittausländer auch nicht aus denselben Gründen in den nationalen Datenbanken der Mitgliedstaaten zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben ist. Das Vorliegen der Voraussetzung gemäß Art. 6 Abs. 1 lit. d SGK (d.h. dass der Drittausländer nicht im Schengener Informationssystem ‑ SIS zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben ist) ist hingegen nach Art. 21 Abs. 1 SDÜ für den Reiseverkehr von Drittausländern nicht erforderlich. Das bedeutet, dass der bloße Umstand, dass ein Drittausländer im SIS zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben ist, noch nicht zwingend zur Folge hat, dass sich dieser nicht im Reiseverkehr frei im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten bewegen dürfte.
18 Im Revisionsfall wäre somit der Aufenthalt des Revisionswerbers im Bundesgebiet dann nicht rechtmäßig gewesen, hätte er im Tatzeitpunkt eine der in Art. 21 Abs. 1 SDÜ genannten Voraussetzungen nicht erfüllt, indem er etwa über kein gültiges Reisedokument bzw. keinen Aufenthaltstitel oder nicht über ausreichende Mittel zur Bestreitung seines Lebensunterhalts verfügt hätte, die in Art. 21 Abs. 1 SDÜ genannten zeitlichen Grenzen überschritten hätte oder in der inländischen Ausschreibungliste zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben gewesen wäre. Auch die Ausübung einer unerlaubten Erwerbstätigkeit hätte nach § 31 Abs. 1 Z 3 FPG zur Folge gehabt, dass sein Aufenthalt als nicht rechtmäßig zu beurteilen gewesen wäre.
19 Dass im Revisionsfall einer dieser Fälle vorgelegen wäre, hat das Verwaltungsgericht nicht festgestellt. Das Verwaltungsgericht stützte seine Beurteilung, wonach sich der Revisionswerber nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten habe, ausschließlich darauf, dass ein von Norwegen ausgesprochenes Einreiseverbot bestehe, welches „bis dato nicht zurückgezogen“ worden sei, weshalb auch Art. 25 Abs. 3 SDÜ nicht zur Anwendung komme.
20 Das Konsultationsverfahren nach Art. 25 SDÜ regelt jene Fälle, in denen eine Vertragspartei beabsichtigt, einem zur Einreiseverweigerung ausgeschriebenen Drittausländer einen Aufenthaltstitel zu erteilen bzw. einen Drittausländer, der über einen von einer anderen Vertragspartei erteilten gültigen Aufenthaltstitel verfügt, zum Zwecke der Einreiseverweigerung auszuschreiben.
21 Mit diesem Konsultationsverfahren soll die widersprüchliche Situation vermieden werden, dass ein Drittstaatsangehöriger über einen von einem Vertragsstaat erteilten gültigen Aufenthaltstitel verfügt und gleichzeitig zur Einreiseverweigerung im SIS ausgeschrieben ist. Nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) sollte dieses Konsultationsverfahren so früh wie möglich eingeleitet werden. Es steht einem Vertragsstaat frei, das Konsultationsverfahren noch vor Erlass einer mit einem Einreiseverbot versehenen Rückkehrentscheidung einzuleiten, dieses Verfahren muss jedoch eingeleitet werden, sobald eine derartige Entscheidung erlassen wurde (EuGH 16.1.2018, E, C‑240/17 , Rn. 38 f, 52).
22 Nach dem genannten Grundsatz sind die Behörden des konsultierten Mitgliedstaats verpflichtet, zu der Aufrechterhaltung oder der Einziehung des Aufenthaltstitels des betreffenden Drittstaatsangehörigen innerhalb einer angemessenen Frist Stellung zu nehmen; diese Frist muss an den Einzelfall angepasst sein, damit den Behörden des konsultierten Mitgliedstaats die für die Sammlung der relevanten Informationen nötige Zeit zur Verfügung steht. Ist etwa im Falle einer beabsichtigten Ausschreibung zur Einreiseverweigerung eine angemessene Frist nach Beginn des Konsultationsverfahrens verstrichen und ist keine Antwort des konsultierten Vertragsstaats, der einen Aufenthaltstitel erteilt hatte, eingegangen, ist der ausschreibende Vertragsstaat verpflichtet, die Ausschreibung zur Einreiseverweigerung zurückzuziehen und den Drittstaatsangehörigen gegebenenfalls in seine nationale Ausschreibungsliste aufzunehmen (vgl. EuGH 16.1.2018, E, C‑240/17 , Rn. 53, 55).
23 Umgekehrt darf ein Vertragsstaat nach Durchführung eines Konsultationsverfahrens nach Art. 25 SDÜ trotz des Umstandes, dass ein Drittstaatsangehöriger im SIS zur Verweigerung der Einreise in den Schengenraum ausgeschrieben ist, diesem nur aus gewichtigen Gründen einen Aufenthaltstitel erteilen. In einem solchen Fall hat der ausschreibende Staat die Ausschreibung zurückzuziehen, wobei es ihm unbenommen bleibt, den Antragsteller in die nationale Ausschreibungsliste aufzunehmen (vgl. EuGH 4.3.2021, A, C‑193/19 , Rn. 30 ff).
24 § 31 Abs. 1 Z 3 FPG verweist ausdrücklich auf die Geltung des Art. 21 Abs. 1 SDÜ, nicht aber auf jene des Art. 25 SDÜ. Nach den eindeutigen Bestimmungen des Art. 21 Abs. 1 SDÜ und des Art. 6 Abs. 1 lit. a, c und e SGK kommt es aber auf eine allfällige Ausschreibung des Drittausländers zur Einreiseverweigerung im SIS ebenso wenig wie auf das Ergebnis eines deswegen geführten Konsultationsverfahrens nach Art. 25 SDÜ an.
25 Das Verwaltungsgericht ging erkennbar davon aus, dass bereits der bloße Umstand einer schengenweiten Ausschreibung zur Einreiseverweigerung durch Norwegen bewirkt hat, dass der Revisionswerber sich im Schengenraum ausschließlich in der Republik Italien, das ihm einen Aufenthaltstitel erteilt hatte, nicht aber im Bundesgebiet hätte aufhalten dürfen. Damit hat es aber die Rechtslage verkannt. Vielmehr hätte das Verwaltungsgericht gemäß Art. 21 Abs. 1 SDÜ iVm Art. 6 Abs. 1 lit. a, c und e SGK prüfen müssen, ob im vorgeworfenen Tatzeitpunkt der Revisionswerber die dort genannten Voraussetzungen für den Reiseverkehr erfüllt hatte bzw. ob iSd § 31 Abs. 1 Z 3 FPG der Revisionswerber während seines Aufenthalts im Bundesgebiet einer unerlaubten Erwerbstätigkeit nachgegangen ist. Der Umstand, dass das BFA gegenüber dem Revisionswerber u.a. ein Einreiseverbot ausgesprochen hat, hat im Revisionsfall außer Betracht zu bleiben, weil der diesbezügliche Bescheid vom 4. Mai 2020 erst nach dem vorgeworfenen Tatzeitpunkt am 3. Mai 2020 erlassen wurde (vgl. zu den Folgen eines inländischen Einreiseverbots VwGH 7.3.2019, Ro 2018/21/0009, mwN).
26 Indem das Verwaltungsgericht in Verkennung der Rechtslage das Straferkenntnis bloß aufgrund des Vorliegens einer im SIS enthaltenen Ausschreibung zur Einreiseverweigerung durch das Königreich Norwegen bestätigte, belastete es das angefochtene Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit. Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
27 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 21. Februar 2023
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