VwGH Ro 2018/21/0009

VwGHRo 2018/21/00097.3.2019

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 26. Juli 2018, W186 2201382-1/9E, betreffend Schubhaft (mitbeteiligte Partei: D O, vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH in 1170 Wien, Wattgasse 48/3), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §22a Abs1
BFA-VG 2014 §22a Abs3
FrPolG 2005 §31 Abs1 Z3
SDÜ 1990 Art21
SDÜ 1990 Art21 Abs1
VwGG §42 Abs2 Z1
VwRallg
32006R0562 Schengener Grenzkodex

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RO2018210009.J00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein nigerianischer Staatsangehöriger, der in Italien als Flüchtling anerkannt worden war und über einen (am 9. Februar 2016 ausgestellten und bis zum 25. Juni 2019 gültigen) italienischen Konventionsreisepass und einen Aufenthaltstitel dieses Staates verfügte, reiste seinen Angaben zufolge erstmals Anfang April 2018 im Besitz der genannten Dokumente in das Bundesgebiet ein. Er wurde am 19. April 2018 festgenommen und anschließend in Schubhaft angehalten. Er verfügte damals über keine Unterkunft, keine behördliche Meldung und nur über geringe Barmittel.

2 Mit Bescheid vom 25. April 2018 sprach das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) aus, dass ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt werde. Gemäß § 61 Abs. 1 Z 2 FPG ordnete es seine Außerlandesbringung (nach Italien) an und stellte nach § 61 Abs. 2 FPG fest, dass seine Abschiebung dorthin zulässig sei. Dieser Bescheid ist unbekämpft in Rechtskraft erwachsen, wobei die italienischen Behörden bereits am 23. April 2018 die Zustimmung zur Übernahme des Mitbeteiligten nach dem entsprechenden bilateralen Abkommen (BGBl. III Nr. 160/1998) erteilt hatten. Der Mitbeteiligte reiste sodann am 11. Mai 2018, nachdem er sich zur freiwilligen Ausreise bereit erklärt hatte, wieder nach Italien zurück.

3 Der Mitbeteiligte kam allerdings kurz darauf - nach den Feststellungen im nunmehr angefochtenen Erkenntnis:

am 20. Mai 2018 - wieder nach Österreich. Jedenfalls verfügte der Mitbeteiligte ab 29. Mai 2018 - seinen Angaben zufolge: an der Wohnadresse eines Freundes - über eine Nebenwohnsitzmeldung. Nach seinem Aufgriff am 11. Juli 2018 gab er im Rahmen seiner Vernehmung vor dem BFA dazu befragt an, im Juni 2018 mit dem Bus eingereist zu sein; eine Zugfahrkarte, die der Mitbeteiligte bei sich hatte und auf die er sich in der Vernehmung bezog, belegte eine (offenbar: neuerliche) Einreise am 1. Juli 2018.

4 Mit am selben Tag in Vollzug gesetztem Mandatsbescheid vom 12. Juli 2018 ordnete das BFA sodann über den Mitbeteiligten gemäß § 76 Abs. 2 Z 1 FPG iVm § 57 Abs. 1 AVG die Schubhaft zur Sicherung seiner Abschiebung (nach Italien) an.

5 Das BFA ging in der Begründung dieses Bescheides insbesondere deshalb von "Fluchtgefahr" aus, weil der Mitbeteiligte entgegen der erwähnten, bis zum 11. November 2019 wirksamen Anordnung zur Außerlandesbringung neuerlich in das Bundesgebiet eingereist sei, wo er keinerlei familiäre Bindungen aufweise. Aufgrund seines bisherigen Verhaltens sei der Mitbeteiligte nicht vertrauenswürdig und es müsse deshalb angenommen werden, dass er sich auch "hinkünftig" nicht rechtskonform verhalten werde. Aus seiner "Wohn- und Familiensituation", aus der fehlenden "sonstigen Verankerung" in Österreich und im Hinblick auf sein bisheriges Verhalten bestehe ein beträchtliches Risiko des Untertauchens. Deshalb erweise sich die Schubhaft angesichts des großen öffentlichen Interesses an einem geordneten Fremdenwesen auch als verhältnismäßig und die Anordnung gelinderer Mittel wäre nicht ausreichend gewesen.

6 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 26. Juli 2018 gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) einer vom Mitbeteiligten dagegen erhobenen Schubhaftbeschwerde gemäß § 22a Abs. 1 BFA-VG statt, hob den Schubhaftbescheid vom 12. Juli 2018 auf und erklärte die Anhaltung des Mitbeteiligten in Schubhaft seit 12. Juli 2018 für rechtswidrig (Spruchpunkt A.I.). Gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG stellte das BVwG des Weiteren fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen nicht vorlägen (Spruchpunkt A.II.). Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für zulässig (Spruchpunkt B.).

7 Die Entscheidung zu Spruchpunkt A.I. begründete das BVwG in tragender Weise damit, dass der Mitbeteiligte unter Verwendung seines italienischen Konventionsreisepasses "in Ausübung seines Rechtes auf Bewegungs-/Reisefreiheit in Österreich eingereist" sei. Er sei im Besitz eines Reisedokuments, das ihn "zum Grenzübertritt (auch) nach Österreich" berechtige. In einem solchen Fall trete der Tatbestand der Einreise entgegen einem (noch dazu zeitlich begrenzten) Titel zur Außerlandesbringung gegenüber dem "Recht auf Freizügigkeit" zurück und diese Umstände seien insgesamt jedenfalls nicht geeignet, eine die Verhängung von Schubhaft rechtfertigende "Fluchtgefahr" zu begründen. Aus den gleichen Erwägungen erweise sich die Schubhaft auch als nicht verhältnismäßig, überwiege doch das Interesse des Mitbeteiligten an der Schonung seiner persönlichen Freiheit das öffentliche Interesse. Diese Überlegungen hätten auch für den mit Spruchpunkt A.II. getroffenen Fortsetzungsausspruch zu gelten.

8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende (ordentliche) Amtsrevision des BFA, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, und nach Aktenvorlage erwogen hat:

9 Das BFA erachtet in der Amtsrevision - im Ergebnis wie das BVwG im angefochtenen Erkenntnis - die Rechtsfrage für entscheidungsrelevant, ob die rechtskräftige und weiter aufrechte Anordnung zur Außerlandesbringung der Einreise und dem Aufenthalt des Mitbeteiligten trotz Besitz eines italienischen Konventionsreisepass und eines italienischem Aufenthaltstitels im Sinne des Art. 21 SDÜ iVm § 31 Abs. 1 Z 3 FPG entgegenstand. Dazu fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.

10 Das trifft zu. Die Revision ist aus diesem Grund zulässig; sie ist auch berechtigt:

11 Der erwähnte § 31 Abs. 1 Z 3 FPG idF des FNG-AnpassungsG lautet:

"§ 31. (1) Fremde halten sich rechtmäßig im Bundesgebiet auf,

...

3. wenn sie Inhaber eines von einem Vertragsstaat

ausgestellten Aufenthaltstitels sind bis zu drei Monaten (Artikel 21 SDÜ gilt), sofern sie während ihres Aufenthalts im Bundesgebiet keiner unerlaubten Erwerbstätigkeit nachgehen;"

Der Abs. 1 des eben angesprochenen Art. 21 SDÜ (Schengener Durchführungsübereinkommen), dessen "Geltung" im Zusammenhang mit § 31 Abs. 1 Z 3 FPG ausdrücklich angeordnet wurde und der somit bei der Auslegung dieser Bestimmung einzubeziehen ist (vgl. dazu VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0103, mwN), lautet wie folgt:

"Drittausländer, die Inhaber eines gültigen, von einem der Mitgliedstaaten ausgestellten Aufenthaltstitels sind, können sich aufgrund dieses Dokuments und eines gültigen Reisedokuments bis zu 90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen frei im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten bewegen, sofern sie die in Artikel 5 Absatz 1 Buchstaben a, c und e der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 (...) (Schengener Grenzkodex) (nunmehr: Art. 6 Abs. 1 lit. a, c und e VO (EU) 2016/399 (Schengener Grenzkodex n.F.)) aufgeführten Einreisevoraussetzungen erfüllen und nicht auf der nationalen Ausschreibungsliste des betroffenen Mitgliedstaats stehen."

Art. 6 Abs. 1 der erwähnten Verordnung (EU) Nr. 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex n.F. - SGK) ordnet (auszugsweise) an:

"Einreisevoraussetzungen für Drittstaatsangehörige

(1) Für einen geplanten Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten von bis zu 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen, wobei der Zeitraum von 180 Tagen, der jedem Tag des Aufenthalts vorangeht, berücksichtigt wird, gelten für einen Drittstaatsangehörigen folgende Einreisevoraussetzungen:

a) Er muss im Besitz eines gültigen Reisedokuments sein,

das seinen Inhaber zum Überschreiten der Grenze berechtigt und

folgende Anforderungen erfüllt:

i) Es muss mindestens noch drei Monate nach der geplanten

Ausreise aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten gültig (sein).

In begründeten Notfällen kann von dieser Verpflichtung abgesehen

werden.

ii) Es muss innerhalb der vorangegangenen zehn Jahre

ausgestellt worden sein.

b) ...

c) Er muss den Zweck und die Umstände des beabsichtigten

Aufenthalts belegen, und er muss über ausreichende Mittel zur

Bestreitung des Lebensunterhalts sowohl für die Dauer des

beabsichtigten Aufenthalts als auch für die Rückreise in den

Herkunftsstaat oder für die Durchreise in einen Drittstaat, in dem

seine Zulassung gewährleistet ist, verfügen oder in der Lage sein,

diese Mittel rechtmäßig zu erwerben.

d) ...

e) Er darf keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die

innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder die internationalen Beziehungen eines Mitgliedstaats darstellen und darf insbesondere nicht in den nationalen Datenbanken der Mitgliedstaaten zur Einreiseverweigerung aus denselben Gründen ausgeschrieben worden sein."

12 Das BFA erließ gegen den Mitbeteiligten eine rechtskräftige Anordnung zur Außerlandesbringung in (offenbar: analoger) Anwendung des § 61 Abs. 1 Z 2 FPG, wobei es in der Begründung - der Sache nach - von einem unrechtmäßigen Aufenthalt des Mitbeteiligten wegen Fehlens ausreichender Mittel (Art. 21 Abs. 1 SDÜ iVm Art. 6 Abs. 1 lit. c SGK) ausging. Im Hinblick auf diese aufenthaltsbeendende Maßnahme, die gemäß § 61 Abs. 2 zweiter Satz FPG "binnen 18 Monaten ab Ausreise des Drittstaatsangehörigen aufrecht" bleibt, fallbezogen somit bis 11. November 2019, wurde - wie sich den vorgelegten Akten des BVwG entnehmen lässt - am 24. Mai 2018 eine entsprechende Ausschreibung "in der nationalen Datenbank", nämlich im österreichischen "Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister", vorgenommen. Angesichts dessen waren die Einreise des Mitbeteiligten und sein Aufenthalt in Österreich im Juli 2018 wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen nach Art. 21 Abs. 1 letzter Fall SDÜ nicht rechtmäßig. Das wird in der Amtsrevision zutreffend geltend gemacht.

13 Gemäß § 76 Abs. 2 Z 1 FPG (in der hier maßgeblichen Fassung vor dem FrÄG 2018) darf Schubhaft nur dann angeordnet werden, wenn dies (unter anderem) zur Sicherung der Abschiebung notwendig ist und sofern "Fluchtgefahr" vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist. Gemäß § 76 Abs. 3 FPG liegt "Fluchtgefahr" (unter anderem) vor, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich der Fremde der Abschiebung entziehen wird oder dass der Fremde die Abschiebung wesentlich erschweren wird. Dabei ist nach der dritten Alternative der Z 2 der genannten Bestimmung zu berücksichtigen, ob der Fremde während einer aufrechten Anordnung zur Außerlandesbringung neuerlich in das Bundesgebiet eingereist ist.

14 Das BVwG ging bei seiner Entscheidung davon aus, dass die genannten Voraussetzungen nach § 76 Abs. 2 Z 1 FPG (Vorliegen von "Fluchtgefahr", Verhältnismäßigkeit der Schubhaft) deshalb nicht vorlägen, weil der Mitbeteiligte im Besitz eines Reisedokuments zur Einreise nach Österreich berechtigt gewesen sei und das ihm zukommende "Recht auf Freizügigkeit" der bloß befristeten Anordnung zur Außerlandesbringung vorgehe. Diese entscheidungswesentliche Prämisse trifft - wie oben in Rn. 12 dargelegt - jedoch nicht zu, weil dem Revisionswerber als Inhaber eines Aufenthaltstitels eines (anderen) Mitgliedsstaates und Inhaber eines gültigen Reisepapiers nur unter den - wie erwähnt:

nicht erfüllten - weiteren Voraussetzungen des Art. 21 Abs. 1 SDÜ ein Einreise- und Aufenthaltsrecht in Österreich zugekommen wäre.

15 Schon deshalb war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben. Wien, am 7. März 2019

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