VfGH E3608/2021 ua

VfGHE3608/2021 ua14.12.2023

Ablehnung der Beschwerden und Aufhebung der angefochtenen Erkenntnisse der Anlassfälle betreffend die Aufhebung von Bestimmungen des BBU-ErrichtungsG sowie einer Bestimmung des BFA-VG

Normen

B-VG Art144 Abs1 / Anlassfall
BBU-ErrichtungsG §2 Abs1, §3 Abs3, §7 Abs1, §7 Abs2, §8, §9 Abs1, §10 Abs2, §12 Abs2, §12 Abs4, §12 Abs5, §13, §24 Abs1, §28 Abs2
BFA-VG §52
ZPO §39, §148, §149
AsylG 2005 §3, §8, §10, §57
FremdenpolizeiG §46, §52, §55
VfGG §7 Abs1, §35

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VFGH:2023:E3608.2021

 

Spruch:

I. 1. Den zu E3608/2021 und E3958/2021 protokollierten Anträgen auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird stattgegeben.

2. Die Behandlung der zu E3608/2021 und E3958/2021 protokollierten Beschwerden wird abgelehnt.

3. Die Beschwerden werden dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

II. 1. Die Beschwerdeführer in den zu E175/2022 und E1172/2022 protokollierten Verfahren sind durch das jeweils angefochtene Erkenntnis wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt worden.

Die Erkenntnisse werden aufgehoben.

2. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer in dem zu E175/2022 protokollierten Verfahren zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

3. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer in dem zu E1172/2022 protokollierten Verfahren zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerden und Vorverfahren

1. Zu E3608/2021:

1.1. Der Beschwerdeführer in dem zu E3608/2021 protokollierten Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof, ein irakischer Staatsangehöriger, stellte am 17. Juli 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid vom 30. Jänner 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung in den Irak zulässig ist, und setzte eine 14‑tägige Frist für die freiwillige Ausreise. Das Bundesverwaltungsgericht wies die dagegen erhobene Beschwerde im zweiten Rechtsgang erneut mit Erkenntnis vom 19. Juli 2021 als unbegründet ab.

1.2. Am 20. September 2021 stellte der Beschwerdeführer beim Verfassungsgerichtshof einen Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe zur Erhebung einer Beschwerde nach Art144 B‑VG sowie einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Beschwerdefrist gemäß §35 VfGG iVm §146 ZPO. Nachdem ihm vom Verfassungsgerichtshof die Verfahrenshilfe in vollem Umfang gewährt worden war, brachte der Beschwerdeführer eine auf Art144 B‑VG gestützte Beschwerde gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes ein, in der er die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt.

Den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begründet der Beschwerdeführer damit, dass ihm das seiner Rechtsvertretung vor dem Bundesverwaltungsgericht – der Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen Gesellschaft mit beschränkter Haftung (im Folgenden: BBU GmbH) – im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs bereits am 19. Juli 2021 übermittelte (sohin am 20. Juli 2021 zugestellte) Erkenntnis auf Grund eines internen Kontrollfehlers in der BBU GmbH nicht weitergeleitet worden sei.

2. Zu E3958/2021:

2.1. Der Beschwerdeführer in dem zu E3958/2021 protokollierten Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof, ein irakischer Staatsangehöriger, stellte am 12. August 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid vom 12. Mai 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung in den Irak zulässig ist, und setzte eine 14‑tägige Frist für die freiwillige Ausreise. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 20. Juli 2021 als unbegründet ab.

2.2. Am 25. Oktober 2021 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe zur Erhebung einer Beschwerde nach Art144 B‑VG sowie einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Beschwerdefrist gemäß §35 VfGG iVm §146 ZPO und erhob, nachdem ihm vom Verfassungsgerichtshof Verfahrenshilfe in vollem Umfang gewährt worden war, eine auf Art144 B‑VG gestützte Beschwerde gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, in der er die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt.

Den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Beschwerdefrist begründet der Beschwerdeführer im Wesentlichen damit, dass er erst am 13. Oktober 2021 im Rahmen einer Erkundigung nach dem Verfahrensstand bei der für ihn zuständigen Rechtsberaterin der BBU GmbH erfahren habe, dass seiner Rechtsvertretung das Erkenntnis im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs bereits am 21. Juli 2021 übermittelt (sohin am 22. Juli 2021 zugestellt) worden sei.

3. Zu E175/2022:

Der Beschwerdeführer in dem zu E175/2022 protokollierten Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 27. August 2016 – als zu diesem Zeitpunkt Minderjähriger – einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid vom 11. Dezember 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als unbegründet ab, erkannte dem Beschwerdeführer jedoch den Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung. Die gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zu der weder das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl noch der Beschwerdeführer bzw seine Rechtsvertretung der BBU GmbH trotz ordnungsgemäßer Ladung erschienen waren, mit Erkenntnis vom 6. Dezember 2021 als unbegründet ab.

In der gegen diese Entscheidung gerichteten, auf Art144 B‑VG gestützten Beschwerde behauptet der Beschwerdeführer die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten und beantragt die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof. Die BBU GmbH sei fälschlicherweise davon ausgegangen, dass sie die Vollmacht gegenüber dem Bundesverwaltungsgericht zurückgelegt habe.

4. Zu E1172/2022:

4.1. Der Beschwerdeführer in dem zu E1172/2022 protokollierten Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof, ein syrischer Staatsangehöriger, stellte am 8. Jänner 2021 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid vom 22. September 2021 (zugestellt am 27. September 2021) wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab, erkannte dem Beschwerdeführer jedoch den Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Syrien zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung.

4.2. Am 17. November 2021 brachte der Beschwerdeführer beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Beschwerdefrist ein und erhob gleichzeitig Beschwerde gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten. Den Wiedereinsetzungsantrag begründete der Beschwerdeführer damit, dass er der BBU GmbH zwar eine Vollmacht zur Einbringung einer Beschwerde erteilt habe, die Vollmachtserteilung sei aber auf Grund eines internen Fehlers der BBU GmbH nicht an die zuständigen Personen weitergeleitet worden. Mit Bescheid vom 24. Jänner 2022 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Beschwerdefrist ab. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 1. April 2022 ab, weil der Fehler der BBU GmbH nicht auf einen minderen Grad des Versehens zurückzuführen sei, womit die Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten als verspätet zurückzuweisen sei.

4.3. In der gegen diese Entscheidung gerichteten, auf Art144 B‑VG gestützten Beschwerde behauptet der Beschwerdeführer die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten und beantragt die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof.

5. Aus Anlass dieser Verfahren leitete der Verfassungsgerichtshof gemäß Art140 Abs1 Z1 litb B‑VG von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des §2 Abs1 Z2, der Wort- und Zeichenfolge "2 oder" in §3 Abs3 Z2, der Wort- und Zeichenfolge "Z2 litb und" in §7 Abs1, der Wort- und Zeichenfolge "Z2 lita und" in §7 Abs2, der Wort- und Zeichenfolgen "Rechtsberater," und "die Vorgangsweise bei Pflichtverletzungen durch Rechtsberater, die gemäß §13 Abs4 Z2 sicherzustellende Gewährleistung von regelmäßigen Fortbildungen für Rechtsberater" sowie "Z2 litb und" in §8, des §9 Abs1 dritter und vierter Satz, der Wort- und Zeichenfolge "Z2 lita und b und" in §10 Abs2, des §12 Abs2 dritter Satz, des §12 Abs4 zweiter Satz und der Wort- und Zeichenfolge "Z2 lita und b und" in §12 Abs5, des §13, der Wort- und Zeichenfolge ", unbeschadet des §13 Abs1," in §24 Abs1 und des §28 Abs2 des Bundesgesetzes über die Errichtung der Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen Gesellschaft mit beschränkter Haftung (BBU‑Errichtungsgesetz – BBU‑G), BGBl I 53/2019, sowie des §52 des Bundesgesetzes, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von internationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden (BFA‑Verfahrensgesetz – BFA‑VG), BGBl I 87/2012, idF BGBl I 53/2019 ein. Mit Erkenntnis vom 14. Dezember 2023, G328/2022 ua, hob er die in Prüfung gezogenen Bestimmungen als verfassungswidrig auf.

II. Erwägungen

1. Zu den Verfahren E3608/2021 und E3958/2021:

1.1. Den – zulässigen – Anträgen auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Beschwerdefrist ist stattzugeben:

1.1.1. Nach §35 VfGG iVm §146 ZPO ist einer Partei, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt, auf Antrag die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, wenn sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis an der rechtzeitigen Vornahme einer befristeten Prozesshandlung verhindert wurde und die dadurch verursachte Versäumung für die Partei den Rechtsnachteil des Ausschlusses von der vorzunehmenden Prozesshandlung zur Folge hatte. Dass der Partei ein Verschulden an der Versäumung zur Last liegt, hindert die Bewilligung der Wiedereinsetzung nicht, wenn es sich nur um einen minderen Grad des Versehens handelt (siehe dazu VfGH 5.10.2021, E3135/2021 mwN). Ferner muss der Antrag auf Bewilligung der Wiedereinsetzung gemäß §148 Abs2 ZPO innerhalb von vierzehn Tagen gestellt werden. Diese Frist beginnt mit dem Tage, an welchem das Hindernis, welches die Versäumung verursachte, weggefallen ist; sie kann nicht verlängert werden. Zugleich mit dem Antrag ist dem §149 Abs1 ZPO zufolge auch die versäumte Prozesshandlung nachzuholen.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zu §35 VfGG iVm §39 ZPO ist das Verschulden des Bevollmächtigten eines Beschwerdeführers einem Verschulden der Partei selbst gleichzuhalten (zB VfSlg 19.830/2013; VfGH 5.10.2021, E3135/2021; idS auch OGH 26.6.2007, 1 Ob 47/07d; 29.11.2017, 1 Ob 213/17f). Das gilt grundsätzlich auch für bevollmächtigte Rechtsberatungsorganisationen (vgl VfGH 12.6.2019, E673/2019 ua; 11.12.2019, E3342/2019; dazu, dass das Handeln des Rechtsberaters im Zuge einer Vertretung der Partei nach §52 BFA‑VG zuzurechnen ist, VwGH 22.2.2019, Ra 2019/01/0054 mwN).

1.1.2. Die Beschwerdeführer wurden in den Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht jeweils von der BBU GmbH, einer Rechtsberatungsorganisation im Sinne des §52 BFA‑VG, vertreten. Da der Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 14. Dezember 2023, G328/2022 ua, näher bezeichnete Bestimmungen des BBU‑G und des BFA‑VG betreffend die Durchführung der Rechtsberatung und ‑vertretung durch die BBU GmbH unter anderem vor dem Bundesverwaltungsgericht als verfassungswidrig aufgehoben hat, wurden die Beschwerdeführer auf Grund eines auf einer verfassungswidrigen Grundlage beruhenden Rechtsverhältnisses zur BBU GmbH vor dem Bundesverwaltungsgericht vertreten. Daher kann ihnen deren etwaiges Fehlverhalten nicht zugerechnet werden. Da die Beschwerdeführer – nach ihrem im Verfahren unbestrittenen Vorbringen – selbst kein den minderen Grad des Versehens übersteigendes Verschulden an der verspäteten Beschwerdeerhebung an den Verfassungsgerichtshof trifft und auch sonst sämtliche Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vorliegen, sind die Anträge zu bewilligen.

1.2. Die Behandlung der – somit zulässigen – Beschwerden wird aus folgenden Gründen abgelehnt:

Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B‑VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Die Beschwerden behaupten die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973), im Recht auf Leben (Art2 EMRK), im Recht, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden (Art3 EMRK), und im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK).

Der Verfassungsgerichtshof geht in Übereinstimmung mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (s etwa EGMR 7.7.1989, 14.038/88, Soering; 30.10.1991, 13.163/87 ua, Vilvarajah; 6.3.2001, 45.276/99, Hilal) davon aus, dass die Entscheidung eines Vertragsstaates, einen Fremden in welcher Form immer außer Landes zu schaffen, unter dem Blickwinkel des Art3 EMRK erheblich werden und demnach die Verantwortlichkeit des Staates nach der EMRK begründen kann, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht worden sind, dass der Fremde konkret Gefahr liefe, in dem Land, in das er gebracht werden soll, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden (vgl VfSlg 13.837/1994, 14.119/1995, 14.998/1997).

Das Bundesverwaltungsgericht hat weder eine grundrechtswidrige Gesetzesauslegung vorgenommen noch sind ihm grobe Verfahrensfehler unterlaufen, die eine vom Verfassungsgerichtshof aufzugreifende Verletzung des genannten Grundrechtes darstellen (vgl VfSlg 13.897/1994, 15.026/1997, 15.372/1998, 16.384/2001, 17.586/2005). Ob ihm sonstige Fehler bei der Rechtsanwendung unterlaufen sind, hat der Verfassungsgerichtshof nicht zu beurteilen.

Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg 17.340/2004 ausgeführt hat, darf eine aufenthaltsbeendende Maßnahme nicht verfügt werden, wenn dadurch das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens des Betroffenen verletzt würde. Bei der Beurteilung nach Art8 EMRK ist eine Interessenabwägung vorzunehmen (vgl die in VfSlg 18.223/2007 und 18.224/2007 wiedergegebene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte).

Das Bundesverwaltungsgericht hat sich jeweils mit der Frage der Gefährdung der beschwerdeführenden Parteien in ihren Rechten auseinandergesetzt. Ihm kann unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht entgegengetreten werden, wenn es auf Grund der Umstände des vorliegenden Falles davon ausgeht, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts von Fremden ohne Aufenthaltstitel das Interesse am Verbleib im Bundesgebiet aus Gründen des Art8 EMRK überwiegt (vgl VfSlg 19.086/2010).

Die im Übrigen gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen, insbesondere der Frage, ob die Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichtes in jeder Hinsicht gesetzlichen Anforderungen entsprechen, nicht anzustellen.

2. Die zu E175/2022 und E1172/2022 protokollierten – zulässigen – Beschwerden sind begründet:

Die Beschwerdeführer vor dem Verfassungsgerichtshof wurden in den jeweiligen Ausgangsverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht von der BBU GmbH vertreten, deren mögliches Fehlverhalten Auswirkungen auf die Teilnahme des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (E175/2022) bzw die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes über seinen Wiedereinsetzungsantrag und eine Nachprüfung seines vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl negativ entschiedenen Antrages auf internationalen Schutz (E1172/2022) gehabt hat. Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 14. Dezember 2023, G328/2022 ua, näher bezeichnete Bestimmungen des BBU‑G und des BFA‑VG betreffend unter anderem die Durchführung der Rechtsberatung und ‑vertretung durch die BBU GmbH vor dem Bundesverwaltungsgericht als verfassungswidrig aufgehoben. Damit wurden die Beschwerdeführer auf Grund eines auf einer verfassungswidrigen Grundlage beruhenden Rechtsverhältnisses zur BBU GmbH vertreten. Es ist damit nicht ausgeschlossen, dass die Rechtsvertretung für die Rechtsstellung der Beschwerdeführer nachteilig war.

III. Ergebnis

1. Den zu E3608/2021 und E3958/2021 protokollierten Anträgen auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird stattgegeben.

2. Von der Behandlung der zu E3608/2021 und E3958/2021 protokollierten Beschwerden wird abgesehen. Diese werden jeweils gemäß Art144 Abs3 B‑VG antragsgemäß dem Verwaltungsgerichtshof abgetreten (zum System der Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof durch den Verfassungsgerichtshof nach Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 vgl VfSlg 19.867/2014).

3. Die Beschwerdeführer in den zu E175/2022 und E1172/2022 protokollierten Verfahren wurden durch die angefochtenen Erkenntnisse wegen Anwendung von verfassungswidrigen Gesetzesbestimmungen in ihren Rechten verletzt (zB VfSlg 10.404/1985).

Die Erkenntnisse sind daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

5. Die Kostenentscheidungen beruhen auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist jeweils Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil die Beschwerdeführer jeweils Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießen.

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