European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0090OB00013.25I.0319.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Spruch:
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Die Ehe der Eltern des am * 2011 geborenen Kindes R* wurde am * 2016 einvernehmlich geschieden, die gemeinsame Obsorge blieb vereinbarungsgemäß aufrecht, wobei die hauptsächliche Betreuung bei der Mutter festgelegt wurde.
[2] Am 12. 9. 2018 setzte die Bezirkshauptmannschaft K* als Kinder‑ und Jugendhilfeträger gemäß § 211 Abs 1 ABGB eine Maßnahme wegen Gefahr in Verzug aufgrund einer Einschränkung der Erziehungsfähigkeit der Mutter vor allem im Bereich der Bindungstoleranz und ordnete die Unterbringung des Kindes bei seinem Vater an. Seither lebt R* bei seinem Vater. Am 27. 9. 2018 übertrug das Erstgericht die Obsorge einstweilig und am 29. 10. 2018 endgültig an den Vater. Zuletzt (2. 3. 2023) vereinbarten die Eltern ausgedehnte Kontaktrechte der Mutter jeweils von Mittwoch auf Donnerstag, in geraden Wochen an den Wochenenden jeweils von Freitag Schulende bis Montag Schulbeginn und ein gleichteiliges Ferienkontaktrecht.
[3] Am 21. 9. 2022 beantragte die Mutter die Festlegung der gemeinsamen Obsorge mit Hauptbetreuung des Kindes in ihrem Haushalt. Für den Fall, dass die hauptsächliche Betreuung des Kindes nicht in ihrem Haushalt festgelegt werde, beantragte die Mutter am 30. 4. 2024 ihr Kontaktrecht 14‑tägig von jedem Dienstag nach Schulende bis folgenden Montag nach Schulbeginn, in eventu ein „Doppeldomizil“ festzulegen.
[4] Die Vorinstanzen wiesen die Anträge der Mutter übereinstimmend ab.
Rechtliche Beurteilung
[5] In ihrem dagegen gerichteten außerordentlichen Revisionsrekurs zeigt die Mutter keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 62 Abs 1 AußStrG auf.
[6] 1. Für die Entscheidung, ob eine Alleinobsorge eines Elternteils oder eine Obsorge beider Eltern anzuordnen ist, kommt es ausschließlich darauf an, welche Regelung dem Wohl des Kindes besser entspricht (RS0128812 [T13]). Dabei darf nicht nur von der momentanen Situation ausgegangen werden, sondern es sind auch Zukunftsprognosen zu stellen (RS0048632). Die nachträgliche Änderung einer Obsorgeregelung setzt zwar keine Gefährdung des Kindeswohls voraus. Die Änderung der Verhältnisse muss aber derart gewichtig sein, dass das zu berücksichtigende Postulat der Erziehungskontinuität in den Hintergrund tritt (RS0132056). Die Frage, ob die Obsorge beider Eltern dem Kindeswohl entspricht und ob mit einer sinnvollen Ausübung der beiderseitigen Obsorge zu rechnen ist, hängt regelmäßig von den Umständen des Einzelfalls ab, sofern auf das Kindeswohl ausreichend Bedacht genommen wurde (RS0128812 [T8]).
[7] 2. Der Wille eines Kindes stellt zwar für die Frage, wem die Obsorge zukommen soll, grundsätzlich ein relevantes Kriterium dar (§ 138 Z 5 ABGB), allerdings ist der Wunsch des Kindes nicht allein entscheidend, wenn schwerwiegende Gründe dagegen sprechen oder seiner Berücksichtigung das Wohl des Kindes entgegensteht (RS0048820 [T11, T12]).
[8] 3. Eine sinnvolle Ausübung der Obsorge beider Eltern setzt ein gewisses Mindestmaß an Kooperations‑ und Kommunikationsfähigkeit beider voraus. Um Entscheidungen gemeinsam im Sinn des Kindeswohls treffen zu können, ist es nämlich erforderlich, in entsprechend sachlicher Form Informationen auszutauschen und einen Entschluss zu fassen. Es ist daher zu beurteilen, ob eine entsprechende Gesprächsbasis zwischen den Eltern vorhanden ist oder zumindest in absehbarer Zeit hergestellt werden kann (RS0128812 [T4]). Auch diese Beurteilung kann nur nach den Umständen des Einzelfalls erfolgen und wirft im Allgemeinen keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 62 Abs 1 AußStrG auf (RS0128812 [T5]).
[9] 3. Die Begründung der angefochtenen Entscheidung entspricht diesen in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen.
[10] 4.1. Zutreffend ist, dass sich die Familiensituation in den letzten Jahren stark beruhigt und sich dies positiv auf das Kind ausgewirkt hat. Nach den Feststellungen ist das Kind aber immer noch in den Elternkonflikt involviert und gleicht den geringen Informationsaustausch zwischen den Eltern aus. Diese sind aber freiwillig weder zu einer Mediation noch zu einer Elternberatung bereit. Ihr Austausch beschränkt sich auf die notwendigsten organisatorischen Belange des Kindes. Der Vater übt seine Obsorgepflichten verantwortungsvoll aus. Die Mutter hat es bislang dem Vater überlassen, die Kommunikation mit der Schule und außerhalb dieser zu führen und viele Entscheidungen für das Kind zu treffen. Eine gemeinsame Obsorge würde tiefer gehende Absprachen und vor allem eine Basis für gemeinsame Entscheidungen benötigen.
[11] 4.2. Bei einer gemeinsamen Obsorge besteht nach den Feststellungen die Gefahr, dass die Mutter dem Vater in der Entscheidungsfindung weniger Kompromissbereitschaft entgegenbringt als der Vater ihr. Vor allem aber wäre es dem Wohl des Kindes abträglich, wenn das Kind bei Uneinigkeit seiner Eltern neuerlich in deren Konflikte involviert und dadurch der beim Kind nach wie vor bestehende Loyalitätskonflikt verstärkt würde. Es bestünde die Gefahr, dass das Kind von seinem begonnenen positiven Weg, sich zunehmend vom Elternkonflikt zu distanzieren, abgebracht wird und sich dann nicht auf seine anstehende Entwicklungsaufgabe der Pubertät und Adoleszenz konzentrieren kann. Die für das Kind in den letzten Jahren geschaffenen stabilen und unbelasteten Kontakte zu beiden Eltern stellen aber eine wichtige Entwicklungsbedingung für das Kind dar. Gerade in der Pubertät ist es für das Kind vorrangig, unbelastete Kontakte zu beiden Eltern zu haben.
[12] 5. Auch die Rechtsauffassung des Rekursgerichts, der Wunsch des Kindes, mehr Zeit mit seiner Mutter zu verbringen bzw bei ihr zu leben, entspreche aufgrund der vorliegenden Gesamtsituation hier nicht dem Kindeswohl, sondern gefährde seine Entwicklung (Loyalitätskonflikt), ist nicht zu beanstanden. Im vorliegenden Fall musste daher die Obsorgeentscheidung gegen den in § 138 Z 5 ABGB zum Ausdruck kommenden Aspekt des Kinderwillens getroffen werden. Auch Art 4 BVG über die Rechte von Kindern (BGBl I 2011/4), wonach jedes Kind das Recht auf angemessene Beteiligung und Berücksichtigung seiner Meinung in allen das Kind betreffenden Angelegenheiten, in einer seinem Alter und seiner Entwicklung entsprechenden Weise hat, steht einer gegen den Willen des Kindes, aber zu dessen Wohle zu treffende Obsorgeentscheidung nicht entgegen.
[13] Mangels einer Rechtsfrage von der Qualität des § 62 Abs 1 AußStrG ist der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter zurückzuweisen.
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