OGH 3Ob71/22w

OGH3Ob71/22w19.5.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Höllwerth als Vorsitzenden sowie den Hofrat Hon.‑Prof. Dr. Brenn, die Hofrätinnen Dr. Weixelbraun‑Mohr und Dr. Kodek und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter in der Exekutionssache der betreibenden Partei H* Ltd, *, Vereinigte Arabische Emirate, vertreten durch E/N/W/C Natlacen Walderdorff Cancola Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die verpflichtete Partei J* S*, vertreten durch Dr. Christopher Straberger, Rechtsanwalt in Wels, wegen 9.249.915,62 EUR sA, über den Revisionsrekurs der verpflichteten Partei gegen den Beschluss des Landesgerichts Linz als Rekursgericht vom 22. Juni 2020, GZ 14 R 242/19k‑31, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Freistadt vom 9. 10. 2019, GZ 1 E 788/19f‑24, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0030OB00071.22W.0519.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

I. Das Verfahren wird fortgesetzt.

II. Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Der betreibenden Partei werden die Kosten der Revisionsrekursbeantwortung mit 15.077,56 EUR (darin enthalten 2.512,93 EUR USt) als weitere Exekutionskosten bestimmt.

 

Begründung:

[1] Die Betreibende ist eine Bank mit Sitz in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Der Verpflichtete hat seinen Wohnsitz in Österreich. Die Betreibende führt gegen den Verpflichteten vor dem Erstgericht ein Exekutionsverfahren zur Hereinbringung von Geldforderungen. Dieser Exekution liegt als Titel der Beschluss des High Court of Justice, Business and Property Courts of England & Wales, Commercial Court (im Folgenden: High Court) vom 20. März 2019 zugrunde. Dabei handelt es sich um eine in einem summarischen Verfahren ergangene Verfügung, die ausspricht, dass ausländische Urteile im Vereinigten Königreich vollstreckt werden. Mit diesem (Vollstreckungs‑)Beschluss wurde der Verpflichtete in Form eines Leistungsbefehls verurteilt, 10.392.463 USD zuzüglich Zinsen und Kosten an die Betreibende zu zahlen. Grundlage dieses Beschlusses waren zwei jordanische Urteile aus dem Jahr 2013, mit denen der Verpflichtete schuldig erkannt wurde, den Betrag von zusammen rund 10.300.000 USD zu zahlen. Aufgrund des Vollstreckungsbeschlusses vom 20. März 2019 stellte der High Court eine Bescheinigung gemäß Art 53 EuGVVO 2012 aus, wonach der Verpflichtete schuldig sei, an die Betreibende eine Zahlung in Höhe von 10.392.463 USD samt Zinsen von 5.422.031,65 USD und Kosten von 125.000 GBP zu leisten.

[2] Mit Beschluss vom 12. April 2019 bewilligte das Erstgericht der Betreibenden gegen den Verpflichteten aufgrund der Entscheidung des High Court vom 20. März 2019 die Exekution zur Hereinbringung einer Forderung von (umgerechnet) 9.249.915,62 EUR samt Zinsen und Kosten.

[3] Mit dem hier angefochtenen Beschluss vom 9. Oktober 2019 wies das Erstgericht die Anträge des Verpflichteten, dem Beschluss des High Court vom 20. März 2019 die Anerkennung und Vollstreckung in Österreich gemäß Art 45 und 46 EuGVVO 2012 zu versagen und das anhängige Exekutionsverfahren einzustellen, ab. Da eine anzuerkennende und zu vollstreckende Entscheidung aus dem vereinigten Königreich vorliege, seien die Bestimmungen der EuGVVO 2012 anwendbar. Der High Court habe nicht nur die jordanischen Urteile für vollstreckbar erklärt, sondern nach einem umfangreichen kontradiktorischen Verfahren einen Leistungsbefehl gegen den Verpflichteten erlassen.

[4] Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Das Verfahren im Vereinigten Königreich sei kontradiktorisch geführt worden, weshalb nicht lediglich eine Exequaturentscheidung vorliege. Die Entscheidung aus dem Vereinigten Königreich falle daher unter Art 2 lit a EuGVVO 2012. Ein Verstoß gegen den Ordre public liege nicht vor, weil sich der High Court mit den Einwänden des Verpflichteten auch inhaltlich befasst habe.

[5] Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs des Verpflichteten mit dem Antrag, dem Beschluss des High Court vom 20. März 2019 die Anerkennung und Vollstreckung in Österreich gemäß Art 45 und 46 EuGVVO 2012 zu versagen.

[6] Mit ihrer Revisionsrekursbeantwortung beantragt die Betreibende, das Rechtsmittel der Gegenseite zurückzuweisen, in eventu, diesem den Erfolg zu versagen.

Zu I.:

[7] Mit Beschluss vom 23. September 2020, 3 Ob 126/20f, legte der Senat dem Gerichtshof der Europäischen Union (im Folgenden: EuGH) mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vor und setzte das Revisionsrekursverfahren bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des EuGH aus.

[8] Der EuGH hat mit Urteil vom 7. April 2022 zu C‑568/20 , H Limited, die Vorabentscheidung getroffen. Das Revisionsrekursverfahren ist daher fortzusetzen.

Zu II.:

[9] Der Revisionsrekurs ist zulässig, nach dem Ergebnis des Vorabentscheidungsverfahrens aber nicht berechtigt.

[10] 1. Vorweg wird darauf hingewiesen, dass die Anwendbarkeit der EuGVVO 2012 auf die Vollstreckung einer Entscheidung aus dem Vereinigten Königreich im Anlassfall nicht in Frage steht (siehe dazu Art 67 Abs 2 lit a des Austrittsabkommens des Vereinigten Königreichs aus der EU).

Rechtliche Beurteilung

[11] 2.1 Der EuGH hat mit Urteil vom 7. April 2022 das Vorabentscheidungsersuchen des Senats wie folgt beantwortet:

„Art 2 lit a und Art 39 EuGVVO 2012 sind dahin auszulegen, dass ein Beschluss mit einer Zahlungsanordnung, den ein Gericht eines Mitgliedstaats auf der Grundlage von in einem Drittstaat ergangenen rechtskräftigen Urteilen erlässt, eine Entscheidung darstellt und in den anderen Mitgliedstaaten vollstreckbar ist, wenn er am Ende eines kontradiktorischen Verfahrens im Ursprungsmitgliedstaat erlassen und dort für vollstreckbar erklärt wurde, wobei dieser Charakter als Entscheidung dem Vollstreckungsschuldner nicht das Recht nimmt, nach Art 46 EuGVVO 2012 die Versagung der Vollstreckung aus einem der in Art 45 EuGVVO 2012 genannten Gründe zu beantragen.“

[12] Der EuGH begründete dieses Ergebnis vor allem damit, dass eine restriktive Auslegung des Begriffs „Entscheidung“ im Sinn von Art 2 lit a EuGVVO 2012 zur Folge hätte, dass eine Kategorie von gerichtlichen Maßnahmen geschaffen würde, die zwar nicht zu den in Art 45 EuGVVO 2012 abschließend aufgezählten Ausnahmen gehörten, aber nicht unter den Begriff „Entscheidung“ fallen könnten und zu deren Vollstreckung die Gerichte der anderen Mitgliedstaaten daher nicht verpflichtet wären. Das Bestehen einer solchen Kategorie von Maßnahmen wäre mit dem System gemäß den Art 39, 45 und 46 EuGVVO 2012 unvereinbar, das die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen von Rechts wegen vorsieht und die Nachprüfung der Zuständigkeit der Gerichte des Ursprungsmitgliedstaats durch die Gerichte des ersuchenden Mitgliedstaats ausschließt (Rn 31).

[13] 2.2 Aufgrund der Vorabentscheidung des EuGH ist für den Anlassfall geklärt, dass es sich bei dem zu beurteilenden (Vollstreckungs-)Beschluss des High Court vom 20. März 2019 um eine vollstreckbare Entscheidung im Sinn des Art 2 lit a EuGVVO 2012 handelt, im österreichischen Vollstreckungsverfahren nicht geprüft werden darf, ob eine (anzuerkennende und) zu vollstreckende Entscheidung vorliegt, und eine Versagung der Vollstreckung nur im Rahmen der Versagungsgründe der EuGVVO (Art 45) in Betracht kommt. Demnach ist nur mehr das Vorliegen des vom Verpflichteten behaupteten Versagungsgrundes zu prüfen.

[14] 3.1 Die in Art 45 EuGVVO 2012 genannten Versagungsgründe sind nach der Rechtsprechung des EuGH taxativ angeführt und eng auszulegen (C‑302/13 , fly LAL Lithuanian Airlines, Rn 46). Die abschließende Aufzählung und die eng umrissenen Gründe sind Ausprägung des gegenseitigen Vertrauens der Mitgliedstaaten. Das Ziel der möglichst weitgehenden Freizügigkeit europäischer Entscheidungen soll dabei stets beachtet werden (C‑681/13 , Diageo Brands, Rn 40 f).

[15] 3.2 Der Verpflichtete behauptet in seinem Rechtsmittel einen offensichtlichen Widerspruch der Anerkennung des Beschlusses des High Court vom 20. März 2019 gegen den österreichischen Ordre public (Art 45 Abs 1 lit a EuGVVO 2012).

[16] Die Anwendung der Ordre‑public‑Klausel nach Art 45 Abs 1 lit a EuGVVO 2012 kommt nach der Rechtsprechung des EuGH nur dann in Betracht, wenn die Anerkennung der in einem anderen Mitgliedstaat erlassenen Entscheidung eine offensichtliche Verletzung einer in der Rechtsordnung des ersuchten Staats als wesentlich geltenden Rechtsnorm oder eines dort als grundlegend anerkannten Rechts bewirken würde. Eine solche Verletzung kann insbesondere darin bestehen, dass der Verpflichtete nicht in der Lage war, sich vor dem Ursprungsgericht wirksam zu verteidigen und die Entscheidung, deren Vollstreckung begehrt wird, im Ursprungsmitgliedstaat anzufechten. Sollte der Verpflichtete daher nachweisen können, dass es ihm im Ursprungsmitgliedstaat nicht möglich war, den in Exekution gezogenen Ansprüchen, die Gegenstand der zu vollstreckenden Entscheidung sind, in der Sache entgegenzutreten, so könnte im Vollstreckungsstaat wegen offensichtlicher Unvereinbarkeit mit der nationalen öffentlichen Ordnung die Vollstreckung versagt werden (C‑568/20 , H Limited, Rn 44 bis 46 mwN).

[17] 3.3 Inhaltlich führt der Verpflichtete dazu ins Treffen, dass im englischen Verfahren zur Umsetzung eines ausländischen (hier: jordanischen) Titels nur die Voraussetzungen für die Umsetzung (Vollstreckung) geprüft würden, aber keine inhaltliche Prüfung der zu vollstreckenden Ansprüche erfolge.

[18] Mit diesen Ausführungen vertritt der Verpflichtete die durch ein Rechtsgutachten vermeintlich untermauerte ganz generelle Rechtsansicht, ein mitgliedstaatlicher Beschluss, welcher nicht formell ein Exequatur enthält, sondern selbst eine der drittstaatlichen Judikatschuld entsprechende vollstreckungsfähige Leistungsentscheidung trifft (sog „Merger-Entscheidung“) könne nicht im Rahmen der EuGVVO 2012 vollstreckt werden. Damit bezieht sich der Verpflichtete aber nicht auf das konkrete vor dem High Court abgeführte Verfahren, sondern stellt nur ganz allgemeine rechtliche Erwägungen an, die nach Maßgabe der Feststellungen zur Entscheidung des High Court vom 20. März 2019 allerdings nicht zutreffen.

[19] Nach den dargelegten Grundsätzen zum Versagungsgrund des Art 45 Abs 1 lit a EuGVVO 2012 kommt es nämlich entscheidend darauf an, ob der Verpflichtete im zu beurteilenden Verfahren im Ursprungsmitgliedstaat tatsächlich die Möglichkeit hatte, die zu vollstreckenden Ansprüche zu bekämpfen. Dies war nach den Feststellungen des Erstgerichts der Fall. Danach hat sich der High Court mit den vom Verpflichteten im englischen Verfahren gegen die zugrunde liegenden (im jordanischen Verfahren zuerkannten) Ansprüche erhobenen Einwänden – die sich auf die angeblich fehlende Aktivlegitimation der Betreibenden („Parteienidentität“: Zweigniederlassung der Betreibenden oder selbständiges Tochterunternehmen), das Erwirken der Urteile in betrügerischer Absicht und das Bestehen eines behaupteten Vollmachtmangels im jordanischen Verfahren bezogen – inhaltlich befasst. So führte der High Court in seiner Entscheidung aus, dass der Verpflichtete in Jordanien dazu verpflichtet worden sei, an die Betreibende zu zahlen, die in Jordanien eine Zweigniederlassung und nicht eine juristisch selbständige Person in Form einer Tochtergesellschaft errichtet habe, weshalb die Betreibende berechtigt sei, die Ansprüche aus dem jordanischen Urteil geltend zu machen. Außerdem verneinte der High Court auch den vom Verpflichteten behaupteten Prozessbetrug und den angeblichen Vollmachtsmangel im jordanischen Verfahren. Dem vom Verpflichteten im Revisionsrekurs vorgetragenen Argument, dass er im englischen Verfahren auch weitere Einwendungen zur Haftungsbeschränkung (die jordanische Vollstreckungsabteilung habe die Vollstreckbarkeit gegenüber dem Verpflichteten mit 50 % der Urteilsschuld beschränkt) erhoben habe, steht die Feststellung des Erstgerichts entgegen, dass das englische Gericht auch die weiteren Argumente des Verpflichteten verworfen habe. Diese Feststellung hat der Verpflichtete in seinem Rekurs nicht bekämpft. Die dazu nunmehr gerügte Aktenwidrigkeit der Rekursentscheidung liegt nicht vor.

[20] 4. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Verpflichtete den zugrunde liegenden (im jordanischen Verfahren zuerkannten) Ansprüchen im Verfahren im Vereinigten Königreich inhaltlich entgegentreten und sich wirksam verteidigen konnte. Damit scheidet ein offensichtlicher Verstoß gegen den Ordre public aus. Die Entscheidungsgrundlage wurde von den Vorinstanzen ausreichend ermittelt; auch die vom Verpflichteten behaupteten Verfahrensmängel und die geltend gemachten sekundären Feststellungsmängel liegen nicht vor. Die Entscheidung des Rekursgerichts steht mit der Rechtslage im Einklang. Dem Revisionsrekurs war daher der Erfolg zu versagen.

[21] Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 74 EO.

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