OGH 3Ob126/20f

OGH3Ob126/20f23.9.2020

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Roch als Vorsitzenden sowie den Hofrat Hon. ‑ Prof. PD Dr. Rassi, die Hofrätinnen Dr. Weixelbraun‑Mohr und Dr. Kodek und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter in der Rechtssache der betreibenden Partei H***** Limited, *****, vertreten durch e/n/w/c Natlacen Walderdorff Cancola Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die verpflichtete Partei J*****, vertreten durch Dr. Christopher Straberger, Rechtsanwalt in Wels, wegen 9.249.915,62 EUR sA, im Verfahren über den außerordentlichen Revisionsrekurs der verpflichteten Partei gegen den Beschluss des Landesgerichts Linz als Rekursgericht vom 22. Juni 2020, GZ 14 R 242/19k‑31, mit dem dem Rekurs der verpflichteten Partei gegen den Beschluss des Bezirksgerichts Freistadt vom 9. Oktober 2019, GZ 1 E 788/19f‑24, nicht Folge gegeben wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:0030OB00126.20F.0923.000

 

Spruch:

A. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Sind die Bestimmungen der Verordnung (EU) Nr 1215/2012 des Europäischen Parlaments und Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (im Folgenden kurz: EuGVVO 2012), insbesondere Art 2 lit a und Art 39 EuGVVO 2012 dahin auszulegen, dass eine zu vollstreckende Entscheidung auch dann vorliegt, wenn der Titelschuldner in einem Mitgliedstaat nach summarischer Prüfung in einem kontradiktorischen Verfahren, aber nur im Hinblick auf die Bindung an die Rechtskraft eines gegen ihn in einem Drittstaat ergangenen Urteils zur Zahlung an die im Drittstaatverfahren obsiegende Partei im Sinne der drittstaatlichen Judikatschuld verpflichtet wird, wobei sich der Gegenstand des Verfahrens im Mitgliedstaat auf die Prüfung beschränkte, ob der Anspruch aus der Judikatschuld gegenüber dem Titelschuldner besteht?

2. Falls die Frage 1 verneint wird:

Sind die Bestimmungen der EuGVVO 2012, insbesondere Art 1, Art 2 lit a, Art 39, Art 45, Art 46 und Art 52 EuGVVO 2012 dahin auszulegen, dass die Vollstreckung unabhängig vom Vorliegen eines der in Art 45 EuGVVO 2012 angeführten Gründe zu versagen ist, wenn die zu prüfende Entscheidung keine Entscheidung im Sinne der Art 2 lit a, oder Art 39 EuGVVO 2012 ist oder der der Entscheidung zugrundeliegende Antrag im Ursprungsmitgliedstaat nicht in den Anwendungsbereich der EuGVVO 2012 fällt?

3. Falls die erste Frage verneint und die zweite Frage bejaht wird:

Sind die Bestimmungen der EuGVVO 2012, insbesondere Art 1, Art 2 lit a, Art 39, Art 42 Abs 1 lit b, Art 46 und Art 53 EuGVVO 2012 dahin auszulegen, dass das Gericht des ersuchten Mitgliedstaats im Verfahren über den Antrag auf Versagung der Vollstreckung bereits aufgrund der Angaben des Ursprungsgerichts in der Bescheinigung nach Art 53 EuGVVO 2012 zwingend davon ausgehen muss, dass eine in den Anwendungsbereich der Verordnung fallende und zu vollstreckende Entscheidung vorliegt?

B. Das Revisionsrekursverfahren wird bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß § 90a Abs 1 GOG ausgesetzt.

 

Begründung:

[1] I. Sachverhalt

[2] Zwischen den Parteien ist im Sprengel des Bezirksgerichts Freistadt (im Folgenden: Erstgericht) ein Exekutionsverfahren (Vollstreckungsverfahren) anhängig. Die betreibende Partei H***** Limited (im Folgenden: H*****) ist eine Bank mit Sitz in *****. Die verpflichtete Partei J***** hat ihren Wohnsitz in Österreich.

[3] Dieser Exekution liegt als Exekutionstitel der Beschluss des High Court of Justice Business and Property Courts of England & Wales Commercial Court (QBD) (im Folgenden: High Court), einem Gericht des Vereinigten Königreichs, vom 20. März 2019 zugrunde.

[4] Grundlage der englischen Entscheidung waren wiederum zwei jordanische Urteile aus dem Jahr 2013, mit denen J***** verpflichtet wurde, den Betrag von insgesamt (rund) 10.300.000 USD zu zahlen.

[5] J***** bestritt nicht, dass er nach den jordanischen Urteilen zur Zahlung verpflichtet wurde, wohl aber, dass die Beträge an die H***** zu zahlen sind. Titelgläubiger sei eine andere juristische Person. Die H***** sei nicht legitimiert, die Urteile in Jordanien oder außerhalb davon zu exekutieren. Die Urteile seien zudem in betrügerischer Absicht erwirkt worden und auch unter einer rechtsungültigen Vollmacht zustande gekommen. Es würde dem ordre public zuwiderlaufen, wenn die englischen Gerichte in Bezug auf die jordanischen Urteile ein (entsprechendes) englisches Urteil fällten.

[6] Die H***** beantragte im englischen Verfahren ua eine Verfügung im Rahmen eines summarischen Verfahrens dahingehend, dass die beiden jordanischen Urteile wie englische Urteile gegen J***** vollstreckt werden können.

[7] Mit dem erwähnten Beschluss des High Court vom 20. März 2019 wurde diesem Antrag stattgegeben und J***** in Form eines Leistungsbefehls verurteilt, 10.392.463 USD zuzüglich Zinsen und Kosten an die H***** zu zahlen. Neben der Frage, ob ein summarisches Verfahren in England zulässig war, beschäftigte sich der High Court unter Bedachtnahme auf das jordanische Recht mit der Frage, ob die H***** zu Recht die Ansprüche aus dem jordanischen Urteil geltend machen könne, was bejaht wurde. Der High Court ging davon aus, dass J***** in Jordanien dazu verpflichtet worden sei, an die H***** zu zahlen, die in Jordanien eine Zweigniederlassung und nicht eine juristisch selbständige Person in Form einer Tochtergesellschaft errichtet habe. Weiters setzte sich der High Court auch mit dem von J***** behaupteten Prozessbetrug und dem angeblichen Vollmachtsmangel im jordanischen Verfahren auseinander. Für den High Court lag auf der Hand, dass einer Anfechtung des Antrags auf Vollstreckung der jordanischen Urteile kein Erfolg beschieden werden könne.

[8] Aufgrund seines Beschlusses vom 20. März 2019 stellte der High Court eine Bescheinigung gemäß Art 53 EuGVVO 2012 aus, wonach J***** verpflichtet sei, an die H***** eine Zahlung in der Höhe von 10.392.463 USD samt Zinsen von 5.422.031,65 USD und Kosten von 125.000 GBP zu leisten.

[9] Mit Beschluss des Erstgerichts vom 12. April 2019 wurde der H***** gegen J***** aufgrund der Entscheidung des High Court vom 20. März 2019 die Exekution zur Hereinbringung einer Forderung von (umgerechnet) 9.249.915,62 EUR samt Zinsen und Kosten bewilligt.

[10] J***** beantragt die Versagung der Vollstreckung der Entscheidung des High Court vom 20. März 2019 und die Einstellung der Exekution.

[11] Gegenstand dieses Vorabentscheidungsersuchens sind Fragen zur Vollstreckbarkeit ausländischer Entscheidungen und zum Prüfungsumfang im Verfahren über den Antrag auf Versagung der Vollstreckung.

[12] II. Rechtsgrundlagen:

[13] Unionsrechtliche Grundlagen:

[14] Die unionsrechtlichen Grundlagen dieses Vorabentscheidungsersuchens liegen insbesondere in Art 1, Art 2 lit a, Art 39, Art 42 Abs 1 lit b, Art 45, Art 46, Art 52 und Art 53 EuGVVO 2012.

[15] Nationales Recht:

[16] Das Gesetz vom 27. Mai 1896 über das Exekutions- und Sicherungsverfahren (Exekutionsordnung), im Folgenden kurz EO, lautet auszugsweise:

 

Erster Teil.

Exekution.

[...]

Exekutionstitel.

§. 1.

Exekutionstitel im Sinne des gegenwärtigen Gesetzes sind die nachfolgenden im Geltungsgebiete dieses Gesetzes errichteten Akte und Urkunden:

[…]

 

Ausländische Exekutionstitel

§. 2.

[...]

(2) Den in § 1 genannten Akten und Urkunden stehen auch solche Akte und Urkunden gleich, die zwar außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes errichtet wurden, aber aufgrund einer völkerrechtlichen Vereinbarung oder eines Rechtsakts der Europäischen Union ohne gesonderte Vollstreckbarerklärung zu vollstrecken sind.

 

Dritter Teil

Internationales Exekutionsrecht

 

Erster Abschnitt

Allgemeine Bestimmungen

 

Allgemeines

 

§ 403. Akte und Urkunden, die im Ausland errichtet wurden (ausländische Exekutionstitel), bedürfen zur Vollstreckung einer Vollstreckbarerklärung im Inland, soweit sie nicht aufgrund einer völkerrechtlichen Vereinbarung oder eines Rechtsakts der Europäischen Union ohne gesonderte Vollstreckbarerklärung zu vollstrecken sind.

 

[...]

Dritter Abschnitt

Exekution auf Grund von Akten und Urkunden supranationaler Organisationen

 

§ 417. Akte und Urkunden supranationaler Organisationen, denen Österreich angehört, sind, unabhängig davon, ob sie im Geltungsgebiet oder außerhalb des Geltungsgebiets dieses Gesetzes errichtet worden sind, ausländischen Akten und Urkunden gleichgestellt.

 

Vierter Abschnitt

Keine Vollstreckbarerklärung

 

Frist für Versagungsanträge

§ 418. (1) Setzt die Bewilligung der Exekution aufgrund von ausländischen Exekutionstiteln nicht eine Vollstreckbarerklärung voraus, so kann die verpflichtete Partei Gründe, die der Vollstreckung im Inland entgegenstehen (Versagungsgründe), mit Einstellungsantrag geltend machen.

 

(2) Die Einstellung nach Abs. 1 kann nur innerhalb von acht Wochen nach Zustellung der Exekutionsbewilligung beantragt werden.

 

(3) Sofern Versagungsgründe auf Tatsachen beruhen, die erst nach Zustellung der Exekutionsbewilligung entstanden sind oder von denen die verpflichtete Partei durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis ohne ihr Verschulden oder auf Grund eines minderen Grades des Versehens keine Kenntnis erlangt hat, beginnt die Frist mit dem Tag zu laufen, an dem die verpflichtete Partei von diesen Tatsachen Kenntnis erlangen konnte. Die verpflichtete Partei hat diese Umstände in ihrem Einstellungsantrag anzuführen und die Mittel zu ihrer Glaubhaftmachung anzugeben.

 

(4) Ein weiterer Rekurs gegen die Entscheidung, mit der über einen Rekurs gegen die Entscheidung über die Versagung der Vollstreckung oder Abweisung eines solchen Antrags entschieden wird, ist nicht deshalb unzulässig, weil das Gericht zweiter Instanz die angefochtene Entscheidung zur Gänze bestätigt hat.

 

 

[17] III. Anträge und Vorbringen der Parteien

[18] J***** stützte sich in seinem Versagungsantrag (Einstellungsantrag) zum einen auf einen Verstoß gegen den ordre public. Für dieses Vorabentscheidungsersuchen relevant ist aber sein weiteres Vorbringen, dass die englische Entscheidung auf Basis bzw zur Vollstreckung zweier jordanischen Urteile ergangen sei und daher eine sogenannte „Merger-Entscheidung“ darstelle. Ein Beschluss eines Mitgliedstaats, der eine Leistungsentscheidung trifft, die einer drittstaatlichen Judikatschuld entspricht, dürfe in einem anderen Mitgliedstaat nicht im Rahmen der EuGVVO 2012 vollstreckt werden. Der Umstand, dass keine vollstreckbare Entscheidung vorliege, könne im Versagungsverfahren des Vollstreckungsstaats geltend gemacht werden. Im Versagungsverfahren bestehe keine Bindung des ersuchten Mitgliedstaats an die Angaben des Ursprungsgerichts in der Bescheinigung nach Art 53 EuGVVO 2012.

[19] Die H***** vertritt den Standpunkt, dass der zu vollstreckende Titel eine eigenständige Entscheidung eines englischen Gerichts sei. Zudem seien die Gerichte im ersuchten Mitgliedstaat an den Inhalt der vom High Court ausgestellten Bescheinigung gebunden. Die ausländische Entscheidung dürfe nur im Rahmen des Art 45 EuGVVO 2012 geprüft werden. Dabei scheide eine Prüfung aus, ob die nach ausländischem Verfahrensrecht ergangene Entscheidung tatsächlich ein nach der EuGVVO 2012 vollstreckbares Urteil sei.

[20] IV. Bisheriges Verfahren

[21] Das Erstgericht wies die Anträge von J***** ab. Es ging davon aus, dass die EuGVVO 2012 hier anwendbar sei bzw ein anzuerkennendes und zu vollstreckendes englisches Urteil vorliege. Der High Court habe nach einem umfangreichen, kontradiktorischen Verfahren einen Leistungstitel geschaffen und nicht lediglich die jordanischen Urteile für vollstreckbar erklärt. Zudem gingen die Ausführungen zur Nichtanwendbarkeit der EuGVVO 2012 ins Leere, weil dies vom Ursprungsgericht zu prüfen sei, an dessen Bescheinigung gemäß Art 53 EuGVVO 2012 das Erstgericht im Versagungsverfahren gebunden sei.

[22] Das Gericht zweiter Instanz gab dem dagegen von J***** erhobenen Rekurs nicht Folge. Das Verfahren in England sei kontradiktorisch geführt worden, weshalb schon deshalb ein Exequaturverfahren auszuschließen sei. Die englische Entscheidung falle unter Art 2 lit a EuGVVO 2012. J***** habe vor dem High Court die Forderungen der H***** nicht bestritten. Der Vorwurf, der High Court habe den gegen ihn geltend gemachten Anspruch nicht geprüft, sei daher nicht nachvollziehbar. Hinsichtlich der Bescheinigung nach Art 53 EuGVVO 2012 lägen keine Bedenken vor, die auf einen Versagungsgrund nach Art 45 EuGVVO 2012 hinweisen. Eine Prüfung der englischen Entscheidung sei nur im Rahmen des Art 45 EuGVVO 2012 zulässig.

Rechtliche Beurteilung

[23] V. Vorlagefragen

[24] Frage 1 (Umfang des Verbots der Doppelexequatur):

[25] In Anknüpfung an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (vgl EuGH 129/92 , Owens Bank , Rn 25) zum Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVÜ) ist davon auszugehen, dass auch die EuGVVO 2012 in Verfahren oder auf Streitpunkte in Verfahren in Mitgliedstaaten nicht anwendbar ist, die die Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen in Zivil- und Handelssachen aus Drittstaaten betreffen (L'exequatur sur l'exequatur ne vaut) (vgl zB Gottwald , MünchKommZPO 5 III Art 2 Brüssel Ia‑VO Rz 7 mwN; Kodek in Czernich/Kodek/Mayr , EuGVVO 4 Art 36 EuGVVO Rz 24). Damit soll verhindert werden, dass mit der sogenannten „Doppelexequatur“ jene Regeln umgangen werden, die bei der direkten Vollstreckung der Drittstaatentscheidung im Vollstreckungsstaat zu beachten wären.

[26] Der Senat tendiert entgegen den Vorinstanzen zur Rechtsansicht, dass diese Aussage auch für Leistungsurteile anzuwenden ist, die ein ausländisches Gericht aufgrund einer Klage, die der Durchsetzung eines Urteils gilt ( actio iudicati ), erlassen hat, sofern das der Judikatschuld zugrundeliegende Rechtsverhältnis in der Sache nicht überprüft wird ( Geimer , Das Anerkennungsregime der neuen Brüssel I‑Verordnung [EU] Nr 1215/2012, Festschrift Torggler [2013] 328).

[27] Nach Ansicht des Senats ändert daran auch der Umstand nichts, dass im Anlassverfahren kontradiktorisch verhandelt wurde. Entscheidend ist der Verfahrensgegenstand. Im Anlassfall beschränkte sich die summarische Prüfung im englischen Verfahren auf die Frage, ob J***** aufgrund der jordanischen Urteile zur Zahlung an die H***** verpflichtet ist.

[28] Wegen der jedenfalls vertretbaren gegenteiligen Meinung der H***** und der Vorinstanzen ist für diese hier verfahrensrelevante Frage die Klärung durch den Europäischen Gerichtshof erforderlich.

[29] Frage 2 (Versagung der Vollstreckung abseits der in Art 45 EuGVVO 2012 angeführten Versagungsgründe):

[30] Die in Art 45 EuGVVO 2012 genannten Versagungsgründe sind nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs taxativ angeführt und eng auszulegen (EuGH C‑302/13, flyLAL , Rn 46). Das Ziel der möglichst weitgehenden Freizügigkeit europäischer Entscheidungen soll dabei stets beachtet werden (EuGH C‑681/13, Diageo Brands, Rn 40 f). Die abschließende Aufzählung und die eng umrissenen Gründe sind Ausprägung des gegenseitigen Vertrauens der Mitgliedstaaten (vgl Erwägungsgrund 26). Darüber hinaus verbietet Art 52 EuGVVO 2012 den Gerichten des ersuchten Mitgliedstaats eine in einem anderem Mitgliedstaat ergangene Entscheidung in der Sache selbst nachzuprüfen (vgl zB EuGH C‑38/98, Renault, Rn 29).

[31] Es könnte zweifelhaft sein, ob aus der geschilderten Systematik – im Sinne der Rechtsansicht der Vorinstanzen – abzuleiten ist, dass im Verfahren auf Versagung der Vollstreckung daher ausschließlich die Versagungsgründe des Art 45 EuGVVO zu prüfen sind.

[32] Die herrschende Lehre verneint diese Frage. Demnach sei aus den erwähnten Bestimmungen der EuGVVO 2012 nicht abzuleiten, dass die Prüfung der allgemeinen Voraussetzungen für eine Vollstreckung nach der EuGVVO 2012 ausgeschlossen ist. Die Frage, ob die EuGVVO 2012 überhaupt Anwendung findet oder es sich bei der ausländischen Entscheidung um eine (anzuerkennende und zu vollstreckende) Entscheidung im Sinne des Art 2 lit a EuGVVO 2012 handelt, soll demnach im ersuchten Mitgliedstaat überprüft werden können ( Garber in Burgstaller/Neumayr/Geroldinger/Schmaranzer , Internationales Zivilverfahrensrecht Art 46 EuGVVO Rz 3 und 17 sowie zu Art 52 EuGVVO Rz 8 FN 8; Gottwald , MünchKommZPO 5 III Art 45 Brüssel Ia‑VO Rz 4; Haubold in Wieczorek/Schütze , ZPO 4 XIII Art 45 Brüssel Ia‑VO Rz 15 und Rz 25; Kodek in Czernich/Kodek/Mayr , EuGVVO 4 Art 46 EuGVVO Rz 6 f; E. Peiffer/M. Peiffer in Geimer/Schütze , Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen Art 53 EuGVVO Rz 12 und Art 45 EuGVVO Rz 136 mwN).

[33] Auch der Senat tendiert zu dieser im Schrifttum vertretenen Auffassung, zumal sich aus dem Wortlaut der Art 45 und Art 46 EuGVVO 2012 kein Verbot ableiten lässt, dass im ersuchten Mitgliedstaat nicht auch Umstände geprüft werden können, die eine grenzüberschreitende Vollstreckung verhindern, auch wenn kein Versagungsgrund im Sinne des Art 45 EuGVVO 2012 vorliegt. Für die Versagung der Vollstreckung spricht auch Art 41 Abs 2 EuGVVO 2012 gegen eine Auffassung, dass die Versagung ausschließlich auf Gründe im Sinne des Art 45 EuGVVO 2012 gestützt werden könnte. Entsprechendes gilt für den Erwägungsgrund 30, Satz 1. Auch der nur die Versagung der Anerkennung betreffende zweite Satz im Erwägungsgrund 30, wonach die Anerkennung einer Entscheidung nur versagt werden kann, wenn mindestens einer die in dieser Verordnung genannten Versagungsgründe gegeben ist, widerlegt die herrschende Lehre nicht. Die Anwendung dieser Regel setzt das Vorliegen einer „Entscheidung“ voraus, was logischerweise als erster Schritt (also noch vor der Prüfung von Versagungsgründen im Sinne des Art 45 EuGVVO 2012) zu prüfen ist.

[34] Eine Klärung durch den Europäischen Gerichtshof erscheint auch für die Frage geboten und hat Relevanz für das weitere Verfahren, sofern die Frage 1 zu verneinen ist.

[35] Frage 3 (Bindung an die Bescheinigung nach Art 53 EuGVVO 2012):

[36] Der Europäische Gerichtshof hat zur vergleichbaren Rechtslage nach der Verordnung (EG) Nr 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen bereits geklärt, dass die Angaben der dort in Art 54 vorgesehenen Bescheinigung vom Gericht des Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats überprüft werden können (EuGH C‑619/10, Trade Agency, Rn 46).

[37] Der Senat tendiert dazu, diese Aussage auch auf die Bescheinigung nach Art 53 EuGVVO 2012 entsprechend anzuwenden, sodass der Schuldner im ersuchten Mitgliedstaat – ungeachtet der insoweit nicht bindenden Angaben in der Bescheinigung – bestreiten kann, dass die Voraussetzungen der Vollstreckung nicht vorliegen, etwa weil keine Entscheidung im Sinne des Art 2 lit a EuGVVO 2012 vorliegt oder die EuGVVO 2012 nicht anwendbar ist (idS auch Kodek in Czernich/Kodek/Mayr , EuGVVO 4 Art 46 EuGVVO Rz 6 f; E. Peiffer/M. Peiffer in Geimer/Schütze , Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen Art 53 EuGVVO Rz 12 und Art 45 EuGVVO Rz 136 mwN).

[38] Das Erstgericht ist allerdings (erkennbar) davon ausgegangen, dass es ihm aufgrund einer neueren Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (vgl EuGH C‑361/18, Weil , Rn 33) wegen der Bescheinung verwehrt sei, im Rahmen des Versagungsverfahrens die Frage zu prüfen, ob eine in den Anwendungsbereich der EuGVVO 2012 fallende und in einem anderen Mitgliedstaat zu vollstreckende Entscheidung vorliegt.

[39] Der Senat interpretiert die zitierte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs auch unter Berücksichtigung der bisherigen Judikatur nicht in diesem Sinn. Die gegenteilige Ansicht ist aber jedenfalls vertretbar. Der Europäische Gerichtshof wird auch hier um Klarstellung der Rechtslage ersucht. Letzteres allerdings nur dann, wenn die erste Frage verneint und die zweite Frage bejaht wird.

 

[40] VI. Verfahrensrechtliches

[41] Als Gericht letzter Instanz ist der Oberste Gerichtshof zur Vorlage verpflichtet, wenn die richtige Anwendung des Unionsrechts nicht derart offenkundig ist, dass kein Raum für vernünftige Zweifel bleibt. Solche Zweifel liegen hier vor. Bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs ist das Revisionsrekursverfahren auszusetzen.

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