European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0010OB00214.24P.0325.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiete: Internationales Privat- und Zivilverfahrensrecht, Unionsrecht, Zivilverfahrensrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Einrede der (internationalen) Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts hinsichtlich der zweitbeklagten Partei verworfen und dem Erstgericht die Fortsetzung des Verfahrens (auch) gegen die zweitbeklagte Partei unter Abstandnahme von diesem Zurückweisungsgrund aufgetragen wird.
Die zweitbeklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 5.004,84 EUR (darin enthalten 834,21 EUR USt) bestimmten Kosten des Zwischenstreits über die internationale Zuständigkeit binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Begründung:
[1] Die Klägerin begehrt „mit Wirkung zwischen den Streitteilen“ die Feststellung, dass die in den notariellen Angeboten vom 25. 10. 2019 und 2. 6. 2020 aufgelisteten Vermögenswerte am Tag der Anbote bis dato im Eigentum des Zweitbeklagten gestanden hätten und stünden. Dazu brachte sie im Wesentlichen vor, dass sich die miteinander zerstrittenen Beklagten uneinig seien, wer von ihnen Alleineigentümer der der Klägerin vom Zweitbeklagten rechtsverbindlich angebotenen Vermögenswerte sei. Sie würden zu dieser Frage widersprüchliche Aussagen machen und die Vorlage von Eigentumsnachweisen verweigern. Die Klägerin habe daher ein rechtliches Interesse an der Klärung der Eigentumsfrage. In der Klage gab die Klägerin für beide Beklagten österreichische Wohnorte an. Der Erst- und der Zweitbeklagte seien „materielle Streitgenossen“, sodass sich die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts am allgemeinen Gerichtsstand des Erstbeklagten hinsichtlich des Zweitbeklagten aus § 93 Abs 1 JN ergebe. Es liege – als Sonderfall der materiellen Streitgenossenschaft – eine einheitliche Streitpartei bzw notwendige Streitgenossenschaft vor, weil sich das Urteil zwangsläufig auf beide Beklagten erstrecken würde. Eine unterschiedliche Beurteilung für oder gegen die beiden Beklagten sei unmöglich, weil keiner dem jeweils anderen das Eigentumsrecht zugestehe. Nach der vom Zweitbeklagten erhobenen Einrede der internationalen Unzuständigkeit stützte die Klägerin die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts (auch) auf Art 8 Nr 1 EuGVVO 2012. Der Zweitbeklagte habe seinen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union. In seinen Feststellungen dürfe sich das Urteil für beide Beklagte nicht widersprechen. Der von Art 8 Nr 1 EuGVVO 2012 geforderte Sachzusammenhang bestehe daher selbst dann, wenn eine formelle oder materielle Streitgenossenschaft der Beklagten nicht vorliegen sollte.
[2] Der Zweitbeklagte erhob die Einrede der internationalen Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts. Er habe seinen Wohnsitz in Madrid. Eine materielle Streitgenossenschaft liege nicht vor. Da die Klägerin es unterlassen habe, die Zuständigkeit bereits in der Klage auf Art 8 Nr 1 EuGVVO 2012 zu stützen, scheide eine Berücksichtigung dieser Bestimmung aus. Im Übrigen seien auch dessen Voraussetzungen – insbesondere das Konnexitätserfordernis – nicht erfüllt. Letztlich sei auch evident, dass die Klägerin Art 8 Nr 1 EuGVVO 2012 rechtsmissbräuchlich heranziehe.
[3] Das Erstgericht wies – soweit im Revisionsrekursverfahren von Interesse – die Klage gegen den Zweitbeklagten wegen internationaler Unzuständigkeit zurück, weil die Klägerin nicht schon in der Klage auf Art 8 Nr 1 EuGVVO 2012 Bezug genommen habe. Sollte das Abstellen auf diese Bestimmung (erst) im vorbereitenden Schriftsatz beachtlich sein, sei die internationale Zuständigkeit dennoch zu verneinen, weil ein schlüssig begründeter Anspruch gegen den Erstbeklagten als „Ankerbeklagten“ nicht behauptet worden sei. Die Klägerin habe es unterlassen, ihre Eigentumsansprüche gegen den Erstbeklagten mit einem besseren Titel zu behaupten.
[4] Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 30.000 EUR übersteige und der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei.
[5] Art 8 Nr 1 EuGVVO 2012 setze auf Beklagtenseite eine Streitgenossenschaft voraus. Die Voraussetzungen für die passive Streitgenossenschaft regle das nationale Recht, dh die §§ 11 und 14 ZPO. Weder stünden die Beklagten in Ansehung des Streitgegenstands in Rechtsgemeinschaft, noch seien sie solidarisch oder aus demselben tatsächlichen Grund verpflichtet, liege doch kein einheitlicher rechtserzeugender Sachverhalt vor. Die Beklagten bildeten auch keine (anspruchs- oder wirkungsgebundene) einheitliche Streitpartei bzw notwendige Streitgenossenschaft. Der Umstand, dass beide (aufgrund unterschiedlicher Sachverhalte) das Eigentum an den in Rede stehenden Vermögenswerte behaupteten, mache sie nicht zur einheitlichen Streitpartei. Hätte die Klägerin das Feststellungsbegehren nur gegenüber dem Erstbeklagten erhoben (der Zweitbeklagte stehe ohnehin auf dem Standpunkt, Eigentümer der maßgeblichen Vermögenswerte zu sein), hätte sich nicht die Frage gestellt, ob sie den Zweitbeklagten gemeinsam mit dem Erstbeklagten hätte klagen müssen. Es bestehe auch kein einheitliches Rechtsverhältnis zwischen der Klägerin und den Beklagten. Da die von der Klägerin auf Beklagtenseite behauptete Streitgenossenschaft nicht vorliege, könne sie sich hinsichtlich des Zweitbeklagten nicht auf den Gerichtsstand des Art 8 Nr 1 EuGVVO 2012 berufen. Auf die Frage, ob der in Art 8 Nr 1 EuGVVO 2012 geforderte Sachzusammenhang vorliege und die Klage gegen den Erstbeklagten als „Ankerbeklagten“ schlüssig sei, müsse daher nicht mehr eingegangen werden.
Rechtliche Beurteilung
[6] Der (von der Zweitbeklagten nach Freistellung beantwortete) außerordentliche Revisionsrekurs der Klägerin ist entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Ausspruch des Rekursgerichts zulässig, weil diesem bei Beurteilung des Gerichtsstands nach Art 8 Nr 1 EuGVVO 2012 eine auch im Einzelfall aufzugreifende Fehlbeurteilung unterlaufen ist. Er ist überdies berechtigt.
[7] 1. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs kann der Kläger Zuständigkeitsgründe, die in der Klage noch nicht geltend gemacht wurden, „nachschieben“, wenn die beklagte Partei die internationale Zuständigkeit bestreitet (RS0046219). Es schadet daher nicht, dass sich die Klägerin erstmals in ihrem vorbereitenden Schriftsatz auf den Gerichtsstand nach Art 8 Nr 1 EuGVVO 2012 berufen hat.
[8] 2. Nach Art 8 Nr 1 EuGVVO 2012 kann eine von mehreren beklagten Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, auch vor dem Gericht des Orts verklagt werden, an dem einer der Beklagten seinen Wohnsitz hat, sofern zwischen den Klagen eine so enge Beziehung gegeben ist, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten.
[9] Ziel dieser Bestimmung ist es, einander widersprechende Entscheidungen zu verhindern (RS0115274 [T10]). Diese Gefahr ist bei einem – verordnungsautonom zu bestimmenden (EuGH C‑352/13 , CDC Hydrogen Peroxide, ECLI:EU:C:2015:335, Rn 16; C‑103/05 , Reisch Montage, ECLI:EU:C:2006:471, Rn 29; C‑189/87 , Kalfelis, ECLI:EU:C:1988:459, Rn 10; ua) – inhaltlichen Zusammenhang zwischen den jeweiligen Ansprüchen gegeben (vgl RS0115274). Ein ausreichender Zusammenhang, der nach dem anwendbaren Recht (der lex causae) zu beurteilen ist (RS0121290), wird etwa regelmäßig bejaht, wenn Klagen im Wesentlichen tatsächlich oder rechtlich gleichartig sind, wenn die Entscheidung über den einen Anspruch von dem anderen abhängt oder wenn beide Ansprüche von der Lösung einer gemeinsamen Vorfrage abhängen (RS0115274 [insb T9]; 4 Ob 221/12x [Pkt 1.2.] mwN).
[10] Die Gefahr widersprechender Entscheidungen besteht, wenn sich die im Verfahren zwischen denselben Parteien ergehenden Entscheidungen entweder im Spruch oder in den ihn tragenden Feststellungen widersprechen können. Entscheidungen sind also nicht schon deswegen einander „widersprechend“, weil es zu einer „abweichenden“ Entscheidung kommen kann. Vermieden werden soll eine Abweichung bei derselben Sach- und Rechtslage (8 Ob 126/19s [Pkt 11.] mwN).
[11] 3. Der (offenbar von der Revisionsrekursgegnerin geteilten) Ansicht des Rekursgerichts, der Gerichtsstand des Art 8 Nr 1 EuGVVO 2012 setze auf Beklagtenseite – noch vor Prüfung des von Art 8 Nr 1 EuGVVO 2012 geforderten Zusammenhangs – das Vorliegen einer Streitgenossenschaft nach § 11 oder § 14 ZPO voraus, kann nicht beigetreten werden: Vielmehr kommt es auf diese verfahrensrechtliche Einordnung nach nationalem Recht nicht entscheidend an, weil der erforderliche Zusammenhang unionsrechtlich autonom zu bestimmen ist.
[12] 3.1. So stellen Kropholler/von Hein (Europäisches Zivilprozessrecht9 Art 6 EuGVO Rn 10) klar, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten zur weiteren Konkretisierung des unionsrechtlich zu bestimmenden Zusammenhangs nicht einfach auf die Regeln zurückgreifen dürfen, die sie zu ihrem nationalen Zuständigkeitsrecht oder zur Streitgenossenschaft entwickelt haben. In diesem Sinne führt Czernich (in Czernich/Kodek/Mayr, Europäisches Gerichtsstands- und Vollstreckungsrecht4 [2014] zu Art 8 EuGVVO 2012 Rz 14) aus, dass die Einordnung mehrerer Beklagter als materielle Streitgenossenschaft nach § 11 Z 1 ZPO, einheitliche Streitpartei nach § 14 ZPO oder formelle Streitgenossenschaft nach § 11 Z 2 ZPO für die Frage der Anwendbarkeit des Art 8 Nr 1 EuGVVO 2012 grundsätzlich irrelevant sei.
[13] 3.2. Zwar wird bei einer einheitlichen Streitpartei nach § 14 ZPO und einer materiellen Streitgenossenschaft nach § 11 Z 1 ZPO der erforderliche Zusammenhang regelmäßig gegeben sein (Czernich aaO Rz 14). Dass das Vorliegen einer Streitgenossenschaft nach nationalem Recht einen inhaltlichen Zusammenhang im Sinn des Art 8 Nr 1 EuGVVO 2012 indiziert, bedeutet aber nicht, dass der Gerichtsstand von der Erfüllung eines solchen innerstaatlichen Tatbestands abhängt.
[14] Aus der vom Rekursgericht zitierten Literaturstelle (Simotta in Fasching/Konecny 3 V/1 Art 8 EuGVVO 2012 Rz 47) kann nichts anderes abgeleitet werden, zumal auch Simotta (aaO Rz 61) davon ausgeht, dass der Zusammenhang unionsrechtlich autonom zu bestimmen und ein Rückgriff auf innerstaatliches Recht unzulässig ist (so auch Garber/Neumayr in Wieczorek/Schütze, ZPO5 XIV Art 8 Brüssel Ia‑VO Rn 24).
[15] 4. Im vorliegenden Fall ist daher zu prüfen, ob die erforderliche Konnexität besteht.
[16] 4.1. Dies ist zu bejahen, weil das Klagebegehren (Feststellung des Eigentumsrechts des Zweitbeklagten an bestimmten Vermögensgegenständen) und die behaupteten rechtserzeugenden Tatsachen gegen beide Beklagten identisch sind. Zutreffend weist die Klägerin darauf hin, dass die Gefahr bestünde, dass es in getrennten Verfahren bei derselben Sach- und Rechtslage zu widersprechenden Entscheidungen kommen könnte, also der Klage gegen den Erstbeklagten stattgegeben werden könnte, weil der Zweitbeklagte tatsächlich (noch) Eigentümer der Gegenstände ist, die Klage gegen den Zweitbeklagten aber abgewiesen werden könnte, weil doch der Erstbeklagte Eigentümer ist, wobei das Eigentum an den Sachen entsprechend der jeweiligen lex rei sitae (§ 31 IPRG) nach demselben Recht zu beurteilen ist.
[17] 4.2. Auch wenn Art 8 Nr 1 EuGVVO 2012 keinen ausdrücklichen Missbrauchsvorbehalt wie Art 8 Nr 2 EuGVVO 2012 enthält, hat eine Missbrauchskontrolle insofern zu erfolgen, als es einem Kläger nicht erlaubt ist, eine Klage gegen mehrere Beklagte allein zu dem Zweck zu erheben, einen von diesen der Zuständigkeit der Gerichte seines Wohnsitzstaats zu entziehen. Eine Zweckentfremdung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft liegt aber nur vor, wenn beweiskräftige Indizien den Schluss zulassen, dass der Kläger die Voraussetzungen des Gerichtsstands künstlich herbeigeführt oder aufrechterhalten hat, etwa durch kollusives Zusammenwirken der betreffenden Parteien (EuGH C‑352/13 , CDC Hydrogen Peroxide,ECLI:EU:C:2015:335 Rn 27 ff mwN; 9 Ob 18/22w; 4 Ob 220/23s ua). Die Intention eines Klägers, mit der gleichzeitigen Klageführung gegen einen in Österreich wohnhaften Erstbeklagten auch eine internationale Zuständigkeit für eine Klage gegen einen Zweitbeklagten zu bewirken, die in einem sachlichen Zusammenhang mit der Klage gegen den Erstbeklagten steht, bedeutet für sich allein keine solche Zweckentfremdung (RS0134806). Die (schlüssig behauptete) Konnexität der Ansprüche ist ein ausreichender sachlicher Grund für die gleichzeitige Inanspruchnahme der Beklagten sowie des dadurch eröffneten Gerichtsstands des Art 8 Nr 1 EuGVVO 2012 und ohne zusätzliche tragfähige Indizien kein künstliches Herbeiführen (oder Aufrechterhalten) dieses Gerichtsstands (6 Ob 165/24v [Rz 17]).
[18] Die Feststellung des Erstgerichts, wonach die Klage gegen den Erstbeklagten zu dem Zweck erhoben wurde, die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts für die Klage gegen den Zweitbeklagten zu begründen, bedeutet daher für sich allein noch keinen Rechtsmissbrauch.
[19] 4.3. Entgegen der Ansicht des Erstgerichts mangelt es den Klagebehauptungen gegenüber dem Erstbeklagten („Ankerbeklagten“) auch nicht von vornherein (gänzlich) an der Schlüssigkeit. Die Klägerin macht nicht geltend, selbst Eigentümerin der Gegenstände zu sein, sondern bringt vor, dass der Zweitbeklagte (und eben nicht der Erstbeklagte) wegen Ungültigkeit der Schenkungen an den Erstbeklagten nach wie vor Eigentümer der Vermögenswerte sei, wobei sich beide Beklagten des Eigentums berühmen sollen. Inwieweit das von der Klägerin behauptete Feststellungsinteresse besteht, ist nicht im Rahmen der Zuständigkeitsprüfung zu beurteilen.
[20] 5. Dem Revisionsrekurs der Klägerin ist aus den dargelegten Gründen Folge zu geben und die Unzuständigkeitseinrede (auch) hinsichtlich des Zweitbeklagten zu verwerfen.
[21] 6. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 52 Abs 1 Satz 3 iVm §§ 41, 50 ZPO.
[22] Der Zweitbeklagte hat der Klägerin die Kosten des Zwischenstreits über die internationale Zuständigkeit zu ersetzen (RS0035955 [T4, T8, T17]; RS0036009 [T1]). Als Kosten des Zwischenstreits sind dabei nur die vom allgemeinen Verfahrensaufwand klar abgrenzbaren Kosten anzusehen (RS0036009 [T3]). Klar abgrenzbar sind hier nur die Kosten des Rechtsmittelverfahrens in zweiter und dritter Instanz. Der Ansatz nach TP 3C RATG bei einer Bemessungsgrundlage von 70.000 EUR beträgt richtig 1.515,10 EUR.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)