10.1. Vorläufigkeit (§ 200 BAO)
10.1.1. Allgemeines
Die Abgabenbehörde kann die Abgabe vorläufig festsetzen, wenn nach den Ergebnissen des Ermittlungsverfahrens die Abgabepflicht zwar noch ungewiss, aber wahrscheinlich oder wenn der Umfang der Abgabepflicht noch ungewiss ist (§ 200 Abs. 1 erster Satz BAO). Die Abgabe kann auch dann vorläufig festgesetzt werden, wenn die Abgabepflicht oder der Umfang der Abgabepflicht auf Grund einer noch ausstehenden Entscheidung einer Rechtsfrage in einem bereits anhängigen Beschwerdeverfahren, welches die gleiche Partei (§ 78 BAO) betrifft, noch ungewiss ist (§ 200 Abs. 1 zweiter Satz BAO). Vorläufig dürfen ua. erlassen werden:- Abgabenbescheide (§ 198 BAO),
- Bescheide, mit denen festgestellt wird, dass eine Veranlagung unterbleibt (zB Nichtveranlagungsbescheide bei der Einkommensteuer),
- Bescheide über die Feststellung von Einkünften (§ 188 BAO),
- Bescheide des Inhaltes, dass eine Feststellung von Einkünften zu unterbleiben hat.
Nicht vorläufig dürfen beispielsweise Haftungsbescheide (§ 224 BAO), Bescheide über die Verfügung bzw. Bewilligung der Wiederaufnahme des Verfahrens und Aufhebungen gemäß § 299 BAO ergehen.
Wenn die Ungewissheit beseitigt oder das Rechtsmittel rechtskräftig entschieden ist, ist die vorläufige durch eine endgültige Festsetzung zu ersetzen. Ergibt sich aus der Beseitigung der Ungewissheit oder der rechtskräftigen Entscheidung des Rechtsmittels kein Grund für eine Berichtigung der vorläufigen Festsetzung, so ist ein Bescheid zu erlassen, der den vorläufigen zum endgültigen Abgabenbescheid erklärt (§ 200 Abs. 2 BAO).
Bescheide dürfen nur dann vorläufig erlassen werden, wenn vorübergehende Hindernisse in Form von Ungewissheiten im Tatsachenbereich der zweifelsfreien Klärung der Abgabepflicht oder deren Höhe entgegenstehen (zB VwGH 17.9.1996, 95/14/0052).Daher dürfen Bescheide beispielsweise dann vorläufig ergehen, wenn noch Ungewissheit besteht, ob nach dem Gesamtbild der Umstände eine Betätigung unter § 1 Abs. 1 LVO fällt (wenn etwa beim in Rz 13 erwähnten Beispiel die Kenntnis in der Zukunft liegender Umstände zur Beurteilung, ob nach dem Gesamtbild der Umstände die Viehzucht bloßes "Anhängsel" ist, erforderlich erscheint).
Die Vorläufigkeit ist ein Spruchbestandteil (vgl. VwGH 28.2.2012, 2010/15/0164; VwGH 17.2.2000, 99/16/0090); der Bescheid ist daher nicht nur in seiner Überschrift, sondern auch in seinem Spruch als vorläufig zu bezeichnen.In der Begründung (§ 93 Abs. 3 lit. a BAO) des vorläufigen Bescheides ist die für die Vorläufigkeit maßgebende Ungewissheit anzugeben. Die bloße Wiedergabe des Gesetzestextes des § 200 Abs. 1 erster Satz BAO reicht nicht aus, weil für den Abgabepflichtigen erkennbar sein muss, welche Pflichten ihn im Fall des Wegfalls der Ungewissheit treffen (zB Anzeigepflichten nach den §§ 120 Abs. 3 und 139 BAO; siehe dazu Rz 203). Fehlt eine solche Bescheidbegründung, tut dies der Vorläufigkeit aber keinen Abbruch (VwGH 28.2.2012, 2010/15/0164).
Bestehen die Voraussetzungen des § 200 Abs. 1 BAO, liegt die Erlassung vorläufiger Bescheide im Ermessen der Abgabenbehörde (zB VwGH 5.3.2009, 2007/16/0142). Die Ermessensübung ist zu begründen (VwGH 26.6.2002, 2000/13/0202).
Es steht der Abgabenbehörde auch frei, einen bereits endgültig erlassenen Abgabenbescheid innerhalb der Jahresfrist gemäß § 299 BAO aufzuheben und an dessen Stelle einen vorläufigen Bescheid zu erlassen, wenn nach den Ergebnissen eines Ermittlungsverfahrens die Abgabepflicht zwar noch ungewiss, aber wahrscheinlich oder der Umfang der Abgabepflicht noch ungewiss ist.
Die Möglichkeit der Erlassung vorläufiger Bescheide ist nicht dazu bestimmt, der Behörde vorerst die Ermittlungen des Sachverhaltes zu ersparen, um sich die Abgabeneinnahmen sofort vorbehaltlich des späteren ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens zu verschaffen (zB VwGH 17.12.1992, 91/16/0137).Es ist somit etwa unzulässig, einen Bescheid deshalb vorläufig zu erlassen, weil in einiger Zeit eine abgabenbehördliche Prüfung (zB eine Außenprüfung gemäß § 147 BAO) beabsichtigt ist.
Die Erlassung eines endgültigen Bescheides (nach einem vorläufigen) ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch dann zulässig, wenn die Erlassung des vorläufigen Bescheides zu Unrecht erfolgt sein sollte, weil im vorläufigen Bescheid die Bezeichnung der Ungewissheit fehlte (vgl. VwGH 27.2.2014, 2010/15/0073, mwN).Ein endgültiger Bescheid nach § 200 Abs. 2 BAO kann auch dann ergehen, wenn die Erlassung des (rechtskräftigen) vorläufigen Bescheides erfolgt ist, obwohl eine Ungewissheit nicht bestanden hat (VwGH 21.4.2023, Ra 2022/15/0093).
Es steht den Abgabepflichtigen offen, die Bescheide in ihrem Ausspruch der Vorläufigkeit mit Beschwerde anzufechten und auf diesem Weg ihr Recht auf Ergehen endgültiger Bescheide geltend zu machen (VwGH 29.11.2006, 2004/13/0075) bzw. die Endgültigerklärung anzuregen (vgl. UFS 5.11.2007, RV/0809-G/07).
Das BFG ist berechtigt, einen vorläufigen Bescheid im Falle der Beseitigung der Ungewissheit (vgl. § 200 Abs. 2 BAO) für endgültig zu erklären (vgl. VwGH 6.11.2023, Ra 2021/16/0085; VwGH 26.2.2020, Fr 2019/13/0005).
Bei einem sich als inhaltlich falsch erweisenden Bescheid ist auch im Zuge der Aufhebung nach § 299 BAO und Neuerlassung des Bescheides bzw. auch im Zuge einer Wiederaufnahme nach § 303 BAO und Neuerlassung des Bescheides die endgültige Erlassung des Bescheides vorzunehmen.
Gemäß § 200 Abs. 2 BAO endgültig erlassene oder für endgültig erklärende Bescheide sind nach § 251 zweiter Satz BAO in vollem Umfang anfechtbar (keine Teilrechtskraft).
Zusatzinformationen:
Betroffene Normen:
- § 200 BAO, Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961