VwGH 2010/21/0459

VwGH2010/21/045920.10.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant und Dr. Pfiel als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Senft, über die Beschwerde des A, vertreten durch die Kocher & Bucher Rechtsanwälte GmbH in 8010 Graz, Friedrichgasse 31, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich vom 21. Oktober 2010, Zl. Senat-FR-10-0073, betreffend Schubhaft (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §10 Abs1 Z1;
AsylG 2005 §5;
B-VG Art130 Abs2;
FrÄG 2009;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §76 Abs2;
FrPolG 2005 §76 Abs2a idF 2009/I/122;
FrPolG 2005 §76 Abs2a Z1 idF 2009/I/122;
FrPolG 2005 §77 Abs1;
FrPolG 2005 §77;
FrPolG 2005 §83 Abs2 Z1;
PersFrSchG 1988 Art1 ;
PersFrSchG 1988 Art2 Abs1 Z7;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwRallg;
AsylG 2005 §10 Abs1 Z1;
AsylG 2005 §5;
B-VG Art130 Abs2;
FrÄG 2009;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §76 Abs2;
FrPolG 2005 §76 Abs2a idF 2009/I/122;
FrPolG 2005 §76 Abs2a Z1 idF 2009/I/122;
FrPolG 2005 §77 Abs1;
FrPolG 2005 §77;
FrPolG 2005 §83 Abs2 Z1;
PersFrSchG 1988 Art1 ;
PersFrSchG 1988 Art2 Abs1 Z7;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwRallg;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein russischer Staatsangehöriger, reiste am 28. September 2010 - nachdem er bereits davor in Polen einen Asylantrag gestellt hatte - nach Österreich ein und beantragte die Gewährung von internationalem Schutz. Dieser Antrag wurde mit (am selben Tag zugestelltem) Bescheid des Bundesasylamtes vom 12. Oktober 2010 gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 unter Hinweis auf die Zuständigkeit Polens als unzulässig zurückgewiesen. Der Beschwerdeführer wurde gemäß § 10 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen.

Mit - am selben Tag in Vollzug gesetztem - Bescheid vom 12. Oktober 2010 verhängte die Bezirkshauptmannschaft Baden über den Beschwerdeführer gemäß § 76 Abs. 2a Z. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG die Schubhaft zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung gemäß § 10 AsylG 2005 sowie seiner Abschiebung. Begründend führte sie aus, zur Sicherung der erwähnten Entscheidung der Asylbehörde bestehe das Erfordernis, jederzeit auf die Person des Beschwerdeführers zugreifen zu können. Dieser sei in Österreich nicht sozial integriert. Er habe weder eine Wohnung, noch ein Einkommen oder nahe Familienangehörige in Österreich. Durch die Anwendung gelinderer Mittel nach § 77 Abs. 1 FPG könnte der Zweck der Schubhaft somit nicht erreicht werden.

Dagegen erhob der Beschwerdeführer am 15. Oktober 2010 (ergänzt am 18. Oktober 2010) gemäß § 82 Abs. 1 Z. 3 FPG Beschwerde an die belangte Behörde. Darin brachte er u.a. vor, sein Cousin S. lebe "als anerkannter Flüchtling" in Wien; bei ihm bestünde eine Wohn- und Versorgungsmöglichkeit.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 21. Oktober 2010 wies die belangte Behörde diese Beschwerde gemäß § 83 FPG ab, stellte fest, dass die Festnahme, der Schubhaftbescheid und die bisherige Anhaltung des Beschwerdeführers seit 12. Oktober 2010 nicht rechtswidrig gewesen seien, und sprach gemäß § 83 Abs. 4 erster Satz FPG aus, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen.

Begründend bejahte sie das Vorliegen des Schubhafttatbestandes nach § 76 Abs. 2a Z. 1 FPG, bei dem grundsätzlich von einem Sicherungsbedarf auszugehen sei, und führte - soweit im vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung - weiter aus, der als "Cousin" des Beschwerdeführers auftretende S. habe bisher weder sein Verwandtschaftsverhältnis nachweisen können noch berechtigte Fragen der Behörde "nach den Umständen der Unterbringungsmöglichkeit" beantwortet. Da der Beschwerdeführer bei der Erstbefragung im Asylverfahren sowie bei seiner Einvernahme durch die Fremdenpolizeibehörde am 12. Oktober 2010 keine in Österreich lebenden Verwandten angegeben bzw. deren Existenz verneint habe, komme seinem Vorbringen in der Verwaltungsbeschwerde "absolut keine Glaubwürdigkeit" zu. Auch an seinem Verwandtschaftsverhältnis zu S. sowie zu einem weiters ins Treffen geführten "Großonkel" müsse gezweifelt werden, seien diese "Verwandten" doch erst nach der Schubhaftverhängung "aufgetaucht". Der Gefahr eines Untertauchens des Beschwerdeführers könne daher nicht durch gelindere Mittel, etwa durch Unterkunftnahme bei S., begegnet werden. Die Abhaltung der (in der Verwaltungsbeschwerde ausdrücklich beantragten) öffentlichen mündlichen Verhandlung habe - so argumentierte die belangte Behörde abschließend - gemäß § 83 Abs. 2 Z. 1 FPG unterbleiben können, weil der maßgebliche Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde hinreichend geklärt sei.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z. 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

Zu dem bei Anordnung der Schubhaft gemäß § 76 Abs. 2a Z. 1 FPG notwendigen Sicherungsbedarf und der Zulässigkeit seiner Abdeckung durch Anwendung (bloß) gelinderer Mittel wird zunächst gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf die grundlegenden Ausführungen im hg. Erkenntnis vom 26. August 2010, Zl. 2010/21/0234, insbesondere Punkt 3.2. der Entscheidungsgründe, verwiesen.

Die Beschwerde rügt in diesem Zusammenhang, dass die belangte Behörde das vom Beschwerdeführer in der Administrativbeschwerde (bzw. ihrer Ergänzung) jeweils dargestellte Verwandtschaftsverhältnis (insbesondere zu S.) nicht als erwiesen ansehe. Dann hätte sie allerdings nicht von einem geklärten Sachverhalt iSd § 83 Abs. 2 Z. 1 FPG ausgehen dürfen. Vielmehr wäre eine mündliche Verhandlung durchzuführen gewesen, um auch einen persönlichen Eindruck vom Beschwerdeführer zu gewinnen.

Damit zeigt der Beschwerdeführer einen relevanten Verfahrensmangel auf:

Das Nichtausreichen der Anwendung gelinderer Mittel zur Abdeckung des Sicherungsbedarfs wurde im angefochtenen Bescheid damit begründet, dass sowohl die Verwandtschaft des Beschwerdeführers (zu S.) als auch die Unterkunftsmöglichkeit (bei diesem Angehörigen) "bezweifelt" bzw. als nicht erwiesen angesehen wurden. Beide Umstände wurden vom Beschwerdeführer bereits in der Administrativbeschwerde geltend gemacht. Angesichts dessen hätte die belangte Behörde nicht von einem aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärten Sachverhalt ausgehen dürfen. Sie wäre daher verpflichtet gewesen, gemäß § 83 Abs. 2 Z. 1 FPG eine mündliche Verhandlung durchzuführen (vgl. zuletzt etwa das hg. Erkenntnis vom 29. September 2011, Zl. 2011/21/0099).

Infolge dieser Unterlassung hat sie den angefochtenen Bescheid mit einem Verfahrensmangel belastet, bei dessen Vermeidung sie zu einem anderen Bescheid hätte kommen können.

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 20. Oktober 2011

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