European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0070OB00080.25B.0925.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der Revision wirdteilweiseFolge gegeben.
Die angefochtenen Entscheidungen werden dahin abgeändert, dass das Urteil einschließlich des in Rechtskraft erwachsenen klagestattgebenden Teils insgesamt zu lauten hat:
„1. Die beklagte Partei ist schuldig der klagenden Partei 1 5.500 EUR samt 4 % Zinsen ab 7. 2. 2023 binnen 14 Tagen zu zahlen.
2. Das Mehrbegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei weitere 32.000 EUR samt 4 % Zinsen ab 7. 2. 2023 zu zahlen, wird abgewiesen.“
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 4.027,62 EUR bestimmten Prozesskosten aller drei Instanzen binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
[1] Der Kläger war Inhaber eines Restaurants, in dem der Beklagte als Koch angestellt war. Nachdem es bereits im Lokal zu verbalen und körperlichen Auseinandersetzungen zwischen den Parteien kam, verließ der Beklagte das Lokal. Der Kläger und sein Bruder beschlossen, den Beklagten aus der Personalwohnung zu werfen und gingen ihm nach. Während der Bruder des Klägers Gegenstände des Beklagten aus der Wohnung auf die Straße beförderte, verblieben der Kläger und der Beklagte vor der Wohnung und beschimpften sich wechselseitig.
[2] Der Beklagte attackierte den Kläger im Zuge der verbalen Auseinandersetzung plötzlich mit einem Steakmesser (11 cm Klingenlänge), das er aus dem Lokal mitgenommen hatte, und versetzte ihm zwei Stiche in den Kopf im Bereich des linken Ohres und der linken Schläfe sowie einen Stich in den Rücken im Nackenbereich links der Körpermitte.
[3] Der Kläger erlitt durch den Angriff des Beklagten ein penetrierendes Schädel-Hirn-Trauma und damit einhergehend eine mehrfragmentäre Impressionsfraktur des linken Schläfenbeines mit zarten streifigen Hämorrhagien im angrenzenden Hirnparenchym im Schläfen- und Scheitellappenbereich mit passagerer Wortfindungsstörung, eine Stichverletzung am Rücken bzw im Nackenbereich links der Körpermittellinie, eine Eröffnung der harten Hirnhaut mit Weichteilschaden, eine Einblutung unter die weiche Hirnhaut sowie eine Einblutung im betroffenen Hirngewebe mit umgebender, passagerer wässriger Schwellung.
[4] Aus psychiatrischer Sicht leidet der Kläger vorfallskausal an einer posttraumatischen Belastungsstörung, welche sich etwa durch erhöhte Schreckhaftigkeit mit immer wieder auftretenden Angst- und Panikattacken äußert. Zudem besteht eine Schlafstörung mit Auftreten von Albträumen.
[5] Als der Kläger im Krankenhaus mitbekam, dass er nicht mehr reden konnte, bekam er Panik und Sorge, dass dies so bleiben wird und er vielleicht nie mehr sprechen wird können. Zunächst konnte der Kläger auch nicht mehr schreiben.
[6] Eine relevante Wortfindungsstörung liegt nicht mehr vor. Durch eine psychiatrische Behandlung in Kombination mit einer traumaspezifischen Psychotherapie ist das beim Kläger noch bestehende Krankheitsbild mit guten Erfolgsaussichten in einem Zeitraum von circa sechs Monaten behandelbar. Danach ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von keiner relevanten klinischen Störung mehr auszugehen. Beim Kläger besteht vorfallskausal aber ein erhöhtes Risiko einer spätposttraumatischen Epilepsie.
[7] Der Kläger begehrt unter Abzug des ihm als Privatbeteiligten im Strafverfahren zugesprochenen Betrags von 2.500 EUR an Schmerzengeld 47.500 EUR.
[8] Der Beklagte wendet – soweit im Revisionsverfahren wesentlich – ein das begehrte Schmerzengeld sei überhöht, es lägen weder Verletzungen noch Dauerfolgen vor. Zudem treffe den Kläger ein Mitverschulden.
[9] Das Erstgericht verpflichtete den Beklagten zur Zahlung von 5.500 EUR und wies das Mehrbegehren ab.
[10] Das Berufungsgericht gab der nur vom Kläger erhobenen Berufung keine Folge. Nach den unwidersprochenen Gutachten der Sachverständigen habe der Kläger unfallskausal in Summe ein bis zwei Tage schwere, zwei Tage mittelschwere und 29 Tage leichte Schmerzen zu erdulden gehabt und mit den Verletzungen sei Lebensgefahr einhergegangen. Damit halte sich das vom Erstgericht in Ansehung der konkreten Verletzungen, nicht aber hinsichtlich der zugrunde gelegten Schmerzperioden, eher knapp ausgemittelte Schmerzengeld im Rahmen des ihm zur Verfügung stehenden Ermessensspielraums.
[11] Gegen diese Entscheidung wendet sich die Revision des Klägers mit dem Abänderungsantrag, dem gesamten Klagebegehren stattzugeben.
[12] Der Beklagte wendet in der ihm freigestellten Revisionsbeantwortung ein, eine Überschreitung des Ermessensspielraums sei nicht erfolgt. Den Kläger treffe zudem ein Mitverschulden von zumindest 25 %. Er beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[13] Die Revision ist zulässig, sie ist auch teilweise berechtigt:
[14] 1. Bei der Bemessung des Schmerzengeldes ist einerseits auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen, andererseits zur Vermeidung einer völligen Ungleichmäßigkeit der Rechtsprechung ein objektiver Maßstab anzulegen. Es darf der von der Judikatur ganz allgemein gezogene Rahmen für die Bemessung im Einzelfall nicht gesprengt werden (RS0031075).
[15] 2. Auch im Fall von seelischen Schmerzen sind die einzelnen Bemessungskriterien als „bewegliches System“ zu verstehen, innerhalb dessen Grenzen ein weiter Spielraum für die den Erfordernissen des Einzelfalls jeweils gerecht werdende Ermessensausübung besteht. Schmerzperioden dienen nur als Berechnungshilfe. Somit ist auch im Fall von seelischen Schmerzen die Bemessung des Schmerzengeldes global vorzunehmen (RS0122794).
[16] Der Kläger hat hier durch mehrere Stiche des Beklagten mit Lebensgefahr verbundene schwerste Verletzungen an Kopf und Gehirn erlitten, die eine – wenn auch vorübergehende – Wortfindungsstörung und eine noch andauernde posttraumatische Belastungsstörung mit Panikattacken sowie Schlafstörung zur Folge hatten.
[17] Aufgrund der besonderen Belastungen und Ängste, die derartig massive Verletzungen des Kopfes und des Gehirns sowie die konkret beim Kläger damit einhergegangenen Beeinträchtigungen nachvollziehbar auslösen, ist selbst unter Berücksichtigung des Umstands, dass der Kläger in Anbetracht der konkreten Verletzungen außergewöhnlich geringere Schmerzen bzw Schmerzperioden zu erdulden hatte, aufgrund der Schwere der Verletzungen und des Maßes der psychischen und physischen Beeinträchtigung (RS0031040) im Wege einer Globalbemessung ein Schmerzengeld von 18.000 EUR als angemessen anzusehen.
[18] 3. Provokationen können nach der Rechtsprechung ein Mitverschulden begründen, wenn sie geeignet sind, den Verletzer in einen Gemütszustand zu versetzen, von welchem angenommen werden kann, dass er sich zu Tätlichkeiten wird hinreißen lassen (RS0027232). Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass derjenige, der den nachmaligen Angreifer schuldhaft in einen Aufregungszustand versetzt, von dem er vorauszusehen vermochte, dass er zu einem Angriff gegen ihn führen werde, Mitschuld an seinen Verletzungen trägt (7 Ob 589/81). In erster Linie ist dabei an Tätlichkeiten (etwa Stoß während einer Rangelei: 6 Ob 238/07d; Schlagen mit einem Lineal: RS0026839) oder an die Androhung von Tätlichkeiten (drohendes Erheben einer ca 40 cm langen Metallfeile: 4 Ob 143/09x) zu denken. Der Oberste Gerichtshof hat bereits mehrmals ausgesprochen, dass wörtliche Provokationen in der Regel nicht genügen (RS0027232 [T8, T10, T11]), um ein Mitverschulden des durch Tätlichkeiten Verletzten zu begründen. Es kommt aber stets auf die Umstände des Einzelfalls an (RS0027232 [T6, T9]).
[19] Unter Heranziehung dieser Grundsätze liegt im Verhalten des Klägers kein Mitverschulden. Selbst wenn er und sein Bruder beabsichtigten, den Beklagten aus der Personalwohnung zu werfen, bleibt zu berücksichtigen, dass nur der Bruder des Klägers in die Wohnung eindrang, während der Beklagte und der Kläger sich verbal vor dieser beschimpften. Dieses Verhalten des Klägers wirkt nicht so schwer, dass für ihn vorherzusehen war, dass es geeignet wäre, den Beklagten derart in Aufregung zu versetzen, dass er – noch dazu – mit einem zuvor aus dem Lokal mitgenommenen Messer mehrfach auf den Kläger einsticht.
[20] 4. Der Revision des Klägers war teilweise Folge zu geben. Von dem als angemessen ausgemittelten Schmerzengeld wurden dem Kläger bereits 2.500 EUR im Strafverfahren zugesprochen, sodass die Entscheidung wie aus dem Spruch ersichtlich abzuändern war.
[21] 5. Die Kostenentscheidung beruht für das erstinstanzliche Verfahren auf § 43 Abs 1 ZPO. Die Bekanntgaben vom 2. 8. 2023 und vom 18. 8. 2023 waren nicht zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig, worauf der Kläger in seinen Kosteneinwendungen auch hingewiesen hat.
[22] Für das Rechtsmittelverfahren gründet die Kostenentscheidung auf § 43 Abs 1 iVm § 50 ZPO.
[23] Die einzelnen Kostenzusprüche sind zu saldieren (vgl RS0035877; 2 Ob 111/21v [Rz 33]).
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