OGH 6Ob84/25h

OGH6Ob84/25h16.9.2025

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Hofer-Zeni-Rennhofer als Vorsitzende sowie die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Faber, Mag. Pertmayr, Dr. Weber und Mag. Nigl LL.M. als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei N*, vertreten durch die Prutsch-Lang & Damitner Rechtsanwälte OG in Graz, gegen die beklagte Partei S* GmbH, *, vertreten durch Dr. Uwe Niernberger und Dr. Angelika Kleewein, Rechtsanwälte in Graz, sowie deren Nebenintervenienten Dr. D*, vertreten durch die Zöllner & Zöllner Rechtsanwälte GmbH in Mödling, wegen 31.103,32 EUR sA und Feststellung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 12. März 2025, GZ 3 R 33/25k‑81, womit das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 17. Dezember 2024, GZ 62 Cg 73/19g‑74, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0060OB00084.25H.0916.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil, das im Umfang einer Klageabweisung von 803,32 EUR sA mangels Anfechtung in Rechtskraft erwuchs, wird im darüber hinausgehenden Umfang einschließlich der Kostenentscheidung aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens bilden weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

 

Begründung:

[1] Die Klägerin unterzog sich im Jahr 2014 im Landeskrankenhaus * mehreren Operationen. Aufgrund von Beschwerden wurde sie am 2. 10. 2015 in der Universitätsklinik für Chirurgie des von der Beklagten betriebenen Krankenhauses vorstellig, wo die Klägerin mit dem Nebenintervenienten als zum Zeitpunkt des Eingriffs bei der Beklagten angestellten Facharzt eine Narbenkorrektur im Bereich der Brust und des Oberschenkels, eine Schamlippenkorrektur und eine Liposuktion im Bereich der Oberschenkel und Waden besprach.

[2] Diese Eingriffe wurden bei der Klägerin am 6. 6. 2016 tagesklinisch im Zuge einer einzigen Operation von den Ärzten der Beklagten nach Maßgabe der ärztlichen Wissenschaft und den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt.

[3] Nach den Regeln der ärztlichen Kunst und der medizinischen Wissenschaft können die Eingriffe entweder an einem Operationstermin durchgeführt oder auf zwei Operationstermine aufgeteilt werden, wobei beide Vorgehensweisen jeweils unterschiedliche Risiken bergen. Das Risiko, dass ein lagerungsbedingter Nervenschaden eintritt, ist ab einer Operationsdauer von etwa einer Stunde gegeben. Dieses Risiko wäre durch eine Aufteilung der am 6. 6. 2016 durchgeführten Eingriffe auf zwei Operationstermine nicht vermindert worden. Durch diese Aufteilung wäre aber das Risiko, dass ein eingetretener Nervenschaden dauerhaft verbleibt, verringert worden. Der Nachteil einer Aufteilung auf zwei Operationstermine wäre in den höheren Kosten, einem zweimaligen allgemeinen Narkoserisiko und der nachträglichen Notwendigkeit mehrerer Kompressionsbehandlungen gelegen.

[4] Es kann nicht festgestellt werden, ob die Klägerin über die Möglichkeit der Aufteilung der geplanten Eingriffe auf zwei Operationstermine und die mit den jeweiligen Vorgangsweisen verbundenen Risiken sowie Vor- und Nachteilen aufgeklärt wurde.

[5] Im Zuge der postoperativen Untersuchung durch den Nebenintervenienten am 7. 6. 2016 zeigte sich bei der Klägerin eine Fußheberschwäche resultierend aus einer beidseitigen Peroneusschädigung mit rezidivierenden neuropathischen Schmerzen. Bei diversen Untersuchungsterminen zwischen 10. 6. 2016 und 21. 3. 2018 zeigte sich eine bestehende Schädigung des Peroneusnervs links, die als Dauerfolge in Form einer Fußheberschwäche nach wie vor besteht. Die Peroneusschwäche rechts hat sich vollständig zurückgebildet.

[6] Die Peroneusschwäche ist auf die Operation vom 6. 6. 2016 zurückzuführen, wobei deren genaue Ursache nicht festgestellt werden kann. Aufgrund der teilweisen Rückbildung der Schädigung ist eine direkte, durch den Arzt verursachte Verletzung der Nerven auszuschließen. Nervenschädigungen sind ein seltenes, aber typisches Behandlungsrisiko. Sie bilden sich meistens innerhalb von 24 Stunden zurück. Die Häufigkeit dieser Schädigungen kann nicht genau abgeschätzt werden.

[7] Die Klägerin begehrt Zahlung von 31.103,32 EUR sA sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für zukünftige Schäden. Sie brachte – soweit für das Revisionsverfahren von Relevanz – vor, sie sei nicht darüber aufgeklärt worden, dass die Eingriffe auch an mehreren Operationsterminen durchgeführt werden hätten können, und dass mit einer längeren Operationsdauer höhere Risiken verbunden seien. Wenn sie darüber aufgeklärt worden wäre, hätte sie sich gegen die Durchführung der Eingriffe an einem einzigen Operationstermin und für ein Vorgehen mit den geringsten Risiken entschieden.

[8] Die Beklagte beantragt Klageabweisung. Eine Aufteilung der Eingriffe auf mehrere Operationstermine sei nicht indiziert gewesen. Außerdem sei die Klägerin über sämtliche Risiken aufgeklärt worden.

[9] Das Erstgericht gab dem Zahlungsbegehren im Umfang von 30.300 EUR sowie dem Feststellungsbegehrens statt und wies das Mehrbegehren an (frustrierten) Heilbehandlungskosten (rechtskräftig) ab. Es habe nicht festgestellt werden können, ob die Klägerin vor der Operation über die Behandlungsalternativen (Durchführung aller Eingriffe an einem Operationstermin oder an zwei Operationsterminen) sowie deren Vor‑ und Nachteile aufgeklärt worden sei. Die Negativfeststellungen gingen zu Lasten der Beklagten.

[10] Das Berufungsgericht änderte diese Entscheidung über Berufung der Beklagten im Sinne einer Abweisung des Klagebegehrens ab. Ein Arzt hafte bei Verletzung der Aufklärungspflicht nur, wenn sich genau jenes Risiko verwirkliche, auf das er hätte hinweisen müssen. Die Behauptungs‑ und Beweislast für die Verwirklichung dieses Risikos treffe die Klägerin. Dieser Nachweis sei der Klägerin nicht gelungen. Es stehe nämlich nur fest, dass die Nervenschädigung auf die Operation zurückzuführen sei, jedoch sei nicht erwiesen, dass die lagerungsbedingte Druckschädigung die Ursache der Gesundheitsschädigung sei. Die Klägerin habe daher nicht nachgewiesen, dass sich das Risiko der längeren Operationsdauer verwirklicht habe, über das die Beklagte sie aufklären hätte müssen. Auf eine unterlassene Aufklärung über das allgemeine Operationsrisiko des Eintritts eines bleibenden Nervenschadens – unabhängig von der Durchführung an einem oder zwei Operationsterminen – habe sich die Klägerin nicht berufen. Ob die Beklagte bei erfolgter Aufklärung hypothetisch in die Operation eingewilligt hätte oder nicht, könne daher dahinstehen.

[11] Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Klägerin mit dem Antrag, diese dahin abzuändern, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird; hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag.

[12] Die Beklagte und der Nebenintervenient beantragen in ihren Revisionsbeantwortungen, das Rechtsmittel der Klägerin zurückzuweisen, in eventu ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[13] Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, sie ist auch im Sinn des Aufhebungsantrags berechtigt.

1. Keine Aktenwidrigkeit

[14] Die behauptete Aktenwidrigkeit des Berufungsurteils wurde geprüft, liegt jedoch nicht vor (§ 510 Abs 3 Satz 3 ZPO): Die Auslegung von Prozessvorbringen der Parteien ist nämlich als Wertungsvorgang und (rechtliche) Schlussfolgerung nicht geeignet, eine Aktenwidrigkeit zu begründen (RS0041814; 10 Ob 6/24s mwN).

2. Verletzung der Aufklärungspflicht

[15] 2.1. Die Aufklärungspflicht des Arztes umfasst die Pflicht, den Patienten über mögliche Gefahren und schädliche Folgen einer Behandlung oder ihrer Unterlassung zu unterrichten; sie soll den Patienten in die Lage versetzen, die Tragweite seiner Einwilligung abzuschätzen (RS0026578; RS0026413). Die Aufklärungspflicht gilt vor allem bei Vorliegen einer typischen Gefahr. Auf typische Risiken einer Operation ist unabhängig von prozentmäßigen statistischen Wahrscheinlichkeiten, also auch bei einer allfälligen Seltenheit ihres Eintritts, hinzuweisen (RS0026581).

[16] Für die nachteiligen Folgen einer ohne ausreichende Aufklärung des Patienten vorgenommenen eigenmächtigen Behandlung haftet der Arzt unter der Voraussetzung, dass der Patient sonst in die Behandlung nicht eingewilligt hätte, selbst dann, wenn ihm bei der Behandlung kein Kunstfehler unterlaufen ist (RS0026783). Nach ständiger Rechtsprechung haftet der Arzt jedoch nur für die Verwirklichung jenes Risikos, auf welches er hätte hinweisen müssen (RS0026783 [T9]; 4 Ob 36/24h; 5 Ob 28/21k).

[17] Den Arzt oder den für das Fehlverhalten ihrer Ärzte haftenden Krankenanstaltsträger trifft die Beweislast für die rechtswirksame Zustimmung des Patienten und damit für dessen gebotene Aufklärung (RS0026777 [insb auch T1]; 3 Ob 225/11a) sowie dafür, ob der Patient auch bei ausreichender Aufklärung die Zustimmung zur Operation erteilt hätte (RS0038485; RS0108185). Der Kläger muss behaupten und beweisen, dass die ohne ausreichende Aufklärung erfolgte Behandlung den Schaden verursacht hat (5 Ob 186/11f = RS0026209 [T8]).

[18] 2.2. Die Klägerin erlitt aufgrund einer – lege artis durchgeführten – Operation im Krankenhaus der Beklagten eine dauerhafte Schädigung des Nervus peroneus links. Eine solche (dauerhafte) Nervenschädigung ist ein seltenes, aber typisches Risiko der an der Klägerin durchgeführten Operation. Durch Aufteilung der bei der Klägerin vorgenommenen Eingriffe auf zwei Operationstermine wäre das Risiko, dass ein eingetretener Nervenschaden dauerhaft verbleibt, verringert worden. Ob die Klägerin über die Möglichkeit der Aufteilung der geplanten Eingriffe auf zwei Operationstermine und die mit den jeweiligen Vorgangsweisen verbundenen Risiken sowie den jeweiligen Vor‑ und Nachteilen aufgeklärt wurde, steht nicht fest.

[19] Aus diesen Feststellungen ergibt sich, dass eine Aufklärungspflicht der Ärzte der Beklagten über das höhere Risiko für eine bleibende Nervenschädigung bestand, das mit der Durchführung der kosmetischen Eingriffe an einem Operationstermin verbunden ist. Ob die Klägerin über dieses Risiko aufgeklärt wurde, steht nicht fest. Die Beklagte konnte daher nicht nachweisen, dass sie der im konkreten Fall gebotenen Aufklärung nachgekommen ist, was zu ihren Lasten geht. Es hat sich auch jenes Risiko verwirklicht, auf das die Ärzte der Beklagten hinweisen hätten müssen, weil die dauerhafte Nervenschädigung auf die Operation vom 6. 6. 2016 zurückzuführen ist; dass deren genaue Ursache nicht festgestellt werden konnte, schadet nicht (vgl 4 Ob 172/22f Rz 23).

[20] 2.3. Der Klägerin ist somit zusammengefasst der Nachweis der Schädigung durch die rechtswidrige, ohne ausreichende Aufklärung erfolgte Behandlung gelungen.

3. Ergebnis und Kosten

[21] 3.1. Da das Berufungsgericht aufgrund seiner unrichtigen Rechtsansicht das Rechtsmittel der Klägerin nicht vollständig behandelt hat, ist das angefochtene Urteil aufzuheben, die Rechtssache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen und diesem aufzutragen, neuerlich über das Rechtsmittel zu entscheiden.

[22] 3.2. Der Kostenvorbehalt beruht auf §§ 50 Abs 1, 52 Abs 1 ZPO.

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