European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0080OB00151.24Z.0812.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der Revision wird teilweise Folge gegeben.
Das Urteil des Berufungsgerichts wird dahin abgeändert, dass die stattgebende Entscheidung des Erstgerichts zum Begehren auf Feststellung einer Dienstbarkeit (Punkt 1.) wiederhergestellt wird.
Hinsichtlich des weiteren Feststellungsbegehrens (Punkt 2.) wird die klageabweisende Entscheidung des Berufungsgerichts bestätigt.
Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei die mit 604,45 EUR an Barauslagen bestimmten Kosten des Verfahrens aller drei Instanzen binnen 14 Tagen zu ersetzen. Im Übrigen werden die Kosten des Verfahrens aller drei Instanzen gegeneinander aufgehoben.
Entscheidungsgründe:
[1] Der Kläger ist grundbücherlicher Alleineigentümer der landwirtschaftlich genutzten Grundstücke Nr 1838, 1862/1 und 1872/1 KG *. Die Beklagten sind je zur Hälfte grundbücherliche Eigentümer des benachbarten Grundstücks Nr 1827.
[2] Der Kläger sowie seine Rechtsvorgänger im Eigentum der vorgenannten Klagsgrundstücke haben seit jeher, jedenfalls länger als 30 Jahre vor Schluss der Verhandlung im Verfahren 1 C 471/20t des Erstgerichts, zum Zwecke der Bewirtschaftung der Klagsgrundstücke zu sämtlichen landwirtschaftlichen Zwecken einen Weg in beide Richtungen begangen und mit Fahrzeugen aller Art befahren, der unter anderem über das Beklagtengrundstück Nr 1827 in dessen nördlichen Teil führt.
[3] Dieser Sachverhalt war dem Kläger auch bereits im Zeitpunkt der Einbringung der Klage im Verfahren 1 C 471/20t des Erstgerichts bekannt, in dem sich die Parteien mit vertauschten Parteirollen gegenüberstanden: Die Beklagten als dortige Kläger begehrten vom Kläger als dortigem Beklagten (soweit in der Folge „Kläger“ und „Beklagte“ verwendet wird, bezieht sich dies auf die Position im gegenständlichen Verfahren) die Unterlassung des Befahrens des Beklagtengrundstücks Nr 1827. Anlass dieses Verfahrens war das Befahren des Beklagtengrundstücks durch den Kläger im südwestlichen Bereich desselben. Eine Bezugnahme auf eine Servitut war dem Klagebegehren und dem Klagsvorbringen nicht zu entnehmen. Der Kläger wendete erfolglos eine Wegdienstbarkeit im südwestlichen Bereich des Beklagtengrundstücks ein. Eine solche im nördlichen Bereich desselben wurde im genannten Verfahren nicht thematisiert. Mit rechtskräftigem Urteil vom 26. 3. 2021 wurde der Kläger zur Unterlassung des Befahrens des Beklagtengrundstücks Nr 1827 verpflichtet.
[4] Auf Grundlage dieses Urteils führten die Beklagten gegen den Kläger Exekution, dies wegen einer Fahrt am 7. 4. 2022, die das Grundstück Nr 1827 im nördlichen Bereich querte. Die dagegen vom Kläger eingebrachte Impugnationsklage wurde abgewiesen (3 Ob 150/23i).
[5] Der Kläger begehrt die Feststellung, ihm als Eigentümer der Grundstücke Nr 1838, 1862/1 und 1872/1, je Grundbuch *, stehe die Dienstbarkeit des Geh- und Fahrrechts mit Fahrzeugen aller Art für die landwirtschaftliche Bewirtschaftung der genannten herrschenden Grundstücke über den im nördlichen Teil des dienenden Grundstücks Nr 1827 gelegenen Grundstücksstreifen zu, der ausgehend von der öffentlichen Straße auf Grundstück Nr 5306/2, Grundbuch *, vorerst ca in Richtung Süden über den öffentlichen Weg auf Grundstück Nr 5306/1 und ab dessen südlichen Ende weiter in ca südliche Richtung über die Grundstücke Nr 1808, 1813 und 1820 erreichbar sei (Punkt 1.). Er begehrt außerdem die Feststellung, dass das sich für ihn aus dem Urteil des Bezirksgerichts Zwettl vom 26. 3. 2021, 1 C 471/20t, ergebende Verbot des Befahrens des Grundstücks Nr 1827, Grundbuch *, ausschließlich den südwestlichen Bereich dieses Grundstücks betreffe (Punkt 2.).
[6] Die Beklagten beantragen Klagsabweisung. Das Gericht sei an die Entscheidungen im Verfahren 1 C 471/20t des Erstgerichts und im Impugnationsverfahren gebunden.
[7] Das Erstgericht gab der Klage statt. Der streitgegenständliche Bereich des Beklagtengrundstücks sei nicht Gegenstand des Vorprozesses gewesen, weshalb eine Bindungswirkung zu verneinen sei.
[8] Das Berufungsgericht änderte diese Entscheidung im klagsabweisenden Sinn ab. Mit der Behauptung aufgrund eines bei Titelschaffung bereits ersessenen Fahrtrechts werde das begriffliche Gegenteil des Unterlassungsbegehrens des ersten Verfahrens zum Gegenstand des Streits erhoben. Dem Erfolg der gegenständlichen Klage stehe die Bindungswirkung entgegen.
[9] Das Berufungsgericht ließ die Revision zu, weil Rechtsprechung zur Frage fehle, ob Rechtskraft und Bindungswirkung von Unterlassungsurteilen nur die im Verfahren konkret angeführten Grundstücksteile (Störungsort) oder das gesamte Grundstück erfassten.
[10] Mit seiner Revision strebt der Kläger die Wiederherstellung des erstgerichtlichen Urteils an.
[11] Die Beklagten beantragen, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[12] Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, sie ist auch teilweise berechtigt.
[13] 1.1. Bei der Bindungswirkung handelt es sich ebenso wie bei der Einmaligkeitswirkung um einen Aspekt der materiellen Rechtskraft des Urteils (RS0102102). Während die Einmaligkeitswirkung eine neuerliche Verhandlung und Entscheidung über die bereits entschiedene Hauptfrage verhindert, macht die Bindungswirkung den Folgeprozess nicht unzulässig, sondern verbietet es dem dortigen Gericht, die im Vorprozess – als Hauptfrage – rechtskräftig entschiedene Vorfrage selbständig zu beurteilen (9 Ob 290/97f; 8 Ob 126/12f).
[14] 1.2. Eine Bindungswirkung der Vorentscheidung ist dann anzunehmen, wenn sowohl die Identität der Parteien als auch des rechtserzeugenden Sachverhalts, verbunden mit notwendig gleicher rechtlicher Qualifikation, gegeben sind, aber an Stelle der inhaltlichen und wörtlichen Identität der Begehren ein im Gesetz gegründeter Sachzusammenhang zwischen beiden Begehren besteht. Ein solcher Zusammenhang ist anzunehmen, wenn die Entscheidung über den neuen Anspruch vom Inhalt der bereits rechtskräftig entschiedenen Streitsache (Präjudizialität der rechtskräftigen Entscheidung) abhängt, oder wenn – und soweit – das Begehren das begriffliche Gegenteil des rechtskräftig entschiedenen Anspruchs darstellt (RS0041572 [T1]).
[15] 1.3. Die Wirkung der materiellen Rechtskraft einer Vorentscheidung für den Folgeprozess wird nach § 411 ZPO grundsätzlich durch den Urteilsspruch bestimmt. Sie erstreckt sich nach herrschender Auffassung (nur) so weit auch auf die Entscheidungsgründe einschließlich der Tatsachenfeststellungen, als sie zur Individualisierung des Urteilsspruchs notwendig sind (RS0041357; RS0041331; RS0112731). Eine Heranziehung der Entscheidungsgründe zur Auslegung des Spruchs ist nicht geboten, wenn der Spruch keiner Individualisierung bedarf (RS0102102 [T8]).
[16] 1.4. Die Bindungswirkung einer rechtskräftigen Entscheidung ist dementsprechend nur anzunehmen, wenn der im zweiten Prozess zu beurteilende Anspruch im Vorprozess als Hauptfrage entschieden wurde (RS0127052). Wenn eine bestimmte Frage im Vorprozess hingegen nicht den Hauptgegenstand des Verfahrens bildete, sondern lediglich als Vorfrage zu beurteilen war, kommt der Entscheidung dieser Vorfrage im folgenden Prozess nach mittlerweile ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs keine bindende Wirkung zu (RS0041342; RS0039128; RS0039843 [T21]; RS0042554; RS0041157 [T13, T15, T18]; RS0127052 [T1]). Auch „das Gebot der Entscheidungsharmonie“ oder „das Bedürfnis der Rechtssicherheit“ sind keine Argumente dafür, die Rechtskraft eines Urteils „als Sonderfall der Präjudizialität“ über den entschiedenen Anspruch hinaus auf Vorfragen desselben zu erweitern (RS0102102 [T6]; RS0041572 [T30]; RS0039843 [T42]; RS0041157 [T26]).
[17] 2.1. Ein sich durch Fremdbenützung gestört fühlender Grundeigentümer hat auch dann, wenn sich die Störungshandlung etwa als Anmaßung einer Grunddienstbarkeit zugunsten eines im Miteigentum stehenden Grundstücks darstellen sollte, die Wahl, gemäß § 362 ABGB mit „schlichter“ Unterlassungsklage den Störer allein zu belangen, oder mit einer auf § 523 ABGB gestützten, gegen alle Miteigentümer des angeblich herrschenden Grundes erhobenen Negatorienklage eine der Rechtskraft teilhaft werdende Entscheidung über den Bestand der angeblichen Dienstbarkeit herbeizuführen (RS0010425; RS0010426).
[18] 2.2. Im Gegensatz zur Negatorienklage ist bei einer „schlichten“ Unterlassungklage über ein vom Störer eingewendetes Dienstbarkeitsrecht bloß als Vorfrage und nicht mit Rechtskraftwirkung zu entscheiden (RS0010425; RS0010426 [T3]; 6 Ob 209/00d; Bittner in Klang 3 [2016] § 523 ABGB Rz 8; vgl [zur Räumungsklage] RS0020806 [T2]; RS0039128).
[19] Dies steht im Einklang mit der Judikatur, wonach – im Gegensatz zur Abweisung einer Negatorienklage nach § 523 ABGB (RS0012191; RS0015026) – der Abweisung eines „schlichten“ Unterlassungsbegehrens oder Beseitigungsbegehrens aufgrund des Bestehens einer Dienstbarkeit keine Bindungswirkung für das nachfolgende Begehren auf Feststellung dieser Dienstbarkeit zukommt (6 Ob 727/87; 1 Ob 47/17v; 8 Ob 60/24t).
[20] Dementsprechend bildet ein Begehren auf Feststellung einer Dienstbarkeit auch nicht das begriffliche Gegenteil des rechtskräftig entschiedenen Anspruchs aufgrund einer „schlichten“ Unterlassungsklage, die sich nur gegen den Kläger persönlich richte.
[21] 2.3. Ob eine Negatorienklage oder eine „schlichte“ Unterlassungsklage vorliegt, bestimmt ausschließlich das das Klagebegehren stützende Vorbringen des Klägers, nicht das Einwendungsvorbringen des Beklagten oder diesbezügliche Repliken des Klägers (RS0010425; RS0039255).
[22] 2.4. Da sich die Beklagten als dortige Kläger im Verfahren 1 C 471/20t des Erstgerichts nicht auf eine angemaßte Dienstbarkeit bezogen, sondern ausschließlich die Freiheit von Störungen ihres Eigentums begehrten, lag diesem Prozess eine „schlichte“ Unterlassungsklage nach § 362 ABGB zugrunde. Ob die vom Kläger als dortigen Beklagten eingewendete Dienstbarkeit bestand, bildete daher eine bloße Vorfrage für das Urteil im genannten Verfahren. Erst recht ist eine Bindungswirkung für die gegenständliche Servitut zu verneinen, die dort gar nicht eingewendet wurde.
[23] Das Berufungsgericht hat daher zu Unrecht eine Bindungswirkung dieser Entscheidung für das gegenständliche Begehren auf Feststellung einer Dienstbarkeit angenommen.
[24] 3. Im Impugnationsverfahren wurde ebenfalls nicht bindend über das Bestehen der gegenständlichen Dienstbarkeit abgesprochen. Tragende Begründung der Entscheidung 3 Ob 150/23i war nämlich, dass einem Verpflichteten, der ein Zuwiderhandeln gegen das titelmäßige Unterlassungsgebot aus rechtlichen Gründen bestreitet, nur der Rekurs, nicht auch die Impugnationsklage zur Verfügung steht; die Frage, ob die Exekutionsbewilligung durch den Titel gedeckt war, ist im Impugnationsverfahren nicht zu prüfen. In der genannten Entscheidung wurde zudem ausgeführt, dass eine allenfalls im Titelverfahren unbeachtet gebliebene Servitut keinen Impugnationsgrund bildet.
[25] 4. Im Umfang der Feststellung der Dienstbarkeit (Punkt 1.) ist das klagsstattgebende Urteil des Erstgerichts daher wiederherzustellen.
[26] 5. Ein wesentliches Tatbestandsmerkmal des Feststellungsanspruchs ist das Vorliegen eines feststellungsfähigen Rechts oder Rechtsverhältnisses. Das Fehlen dieses Tatbestandselements führt zur Abweisung der Feststellungsklage (RS0038898).
[27] Das Begehren auf Feststellung, dass sich das aus dem Urteil im Vorverfahren ergebende Verbot des Befahrens des Grundstücks Nr 1827 ausschließlich den südwestlichen Bereich dieses Grundstücks betreffe, zielt auf eine Auslegung des Urteils im Vorverfahren ab, zumal der Kläger auch keine seitdem geänderten Verhältnisse geltend macht.
[28] Bei der Auslegung eines Urteils handelt es sich aber nicht um ein feststellungsfähiges Recht oder Rechtsverhältnis (vgl RS0039053), weshalb das Berufungsgericht dieses Begehren zutreffend abgewiesen hat (vgl auch 4 Ob 253/01m).
[29] 6. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 43 Abs 1, 50 ZPO. Der Kläger hat die beiden Begehren gleich bewertet und daher zur Hälfte obsiegt, sodass mit Kostenaufhebung vorzugehen und lediglich (saldierter) Barauslagenersatz zuzusprechen ist.
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