OGH 17Ob4/25z

OGH17Ob4/25z21.7.2025

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Präsidenten Univ.‑Prof. Dr. Kodek als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Stefula und MMag. Sloboda, die Hofrätin Mag. Waldstätten und den Hofrat Dr. Stiefsohn als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Mag. Andreas Ulm, *, als Masseverwalter im Insolvenzverfahren über das Vermögen der S* GmbH *, vertreten durch die Kaan Cronenberg & Partner Rechtsanwälte GmbH & Co KG in Graz, gegen die beklagte Partei Mag. M*, vertreten durch Dr. Alexander Isola, Rechtsanwalt in Graz, wegen 1.339.000 EUR sA, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Rekursgericht vom 5. Dezember 2024, GZ 2 R 142/24f‑39, womit infolge Rekurses der klagenden Partei der Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 14. August 2024, GZ 12 Cg 87/23d‑31, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0170OB00004.25Z.0721.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Insolvenzrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben.

Die Rechtssache wird an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens bilden weitere Kosten des Zwischenstreits über die Zulässigkeit des streitigen Rechtswegs.

 

Begründung:

[1] Über das Vermögen der Schuldnerin wurde mit Beschluss des Erstgerichts vom 5. 8. 2020 das Insolvenzverfahren eröffnet und der Kläger zum Masseverwalter bestellt.

[2] Über das Vermögen des Beklagten, dessen Wohnsitz in der Slowakei liegt, wurde mit rechtskräftigem Beschluss eines slowakischen Gerichts, der im Mai 2021 im Handelsblatt und im Insolvenzregister veröffentlicht wurde, das Konkursverfahren eröffnet. Dabei sprach das Gericht aus, dass der Schuldner von allen Schulden, die nur im Konkurs oder durch einen Ratenkalender befriedigt werden können, in dem Ausmaß, in dem sie im Konkurs nicht befriedigt werden, befreit wird. Das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Beklagten ist nach wie vor anhängig.

[3] Der Kläger nimmt den Beklagten mit seiner Klage vom 2. 8. 2023 als faktischen Geschäftsführer auf Zahlung von Schadenersatz in Höhe von 1.339.000 EUR sA wegen Insolvenzverschleppung in Anspruch. Die Schuldnerin sei spätestens zum 30. 6. 2019 materiell insolvent gewesen, was dem Beklagten als faktischem Geschäftsführer mit entscheidendem Einfluss auf den handelsrechtlichen Geschäftsführer auch erkennbar gewesen wäre bzw von ihm erkannt hätte werden müssen. Die Schuldnerin habe sich ab 2018 in einer Ergebniskrise, ab Mitte 2019 in einer Liquiditätskrise befunden. Es habe laufende Umsatzrückgänge in den Shops, negative Deckungsbeiträge in neu eröffneten Shops und einen Anstieg der Marketingaufwendungen gegeben. Der Beklagte habe alleine aufgrund wöchentlicher Updates Kenntnis von der schlechten wirtschaftlichen Lage der Schuldnerin gehabt. Die schlechten Umsätze und der hohe Bestand an offenen Verbindlichkeiten hätten ein Warnsignal für den Beklagten darstellen müssen. Es hätten offenkundige, schwere Krisensymptome bei der Schuldnerin vorgelegen.

[4] Die Klage sei zulässig, weil sie eine nach slowakischem Recht – nämlich § 166 Abs 1 lit d der slowakischen Konkursordnung – vom Privatkonkursverfahren unberührt bleibende Forderung betreffe, deren Durchsetzbarkeit ungeachtet der Insolvenzeröffnung bestehen bleibe. Der Kläger mache einen Schaden geltend, der durch vorsätzliche Handlungen verursacht worden sei. Vorsatz setze nach slowakischem Recht – ebenso wie nach österreichischem Recht – eine Wissens- und eine Wollenskomponente voraus. Indirekter Vorsatz liege vor, wenn der Schädiger davon ausgehe, dass er einen Schaden verursachen könnte, und sich mit dem Schadenseintritt abfinde und die möglichen Folgen billigend in Kauf nehme. Nach slowakischem Recht könne aber auch fahrlässiges Handeln vorsätzlich sein – es reiche aus, dass der Täter den Schaden zwar nicht verursachen wolle, aber gewusst habe, dass er ihn verursachen könnte und sich ohne hinreichende Gründe darauf verlassen habe, dass er ihn nicht verursachen werde.

[5] Der Beklagte wendet (unter anderem) die Unzulässigkeit des (streitigen) Rechtswegs ein. Insolvenzforderungen, die vor Mai 2021 – also vor dem Konkurs des Beklagten – entstanden seien, seien gemäß slowakischem Recht ausnahmslos im Konkurs anzumelden. Die Durchsetzung einer solchen Forderung im Weg der Klage sei unzulässig. Der Beklagte bleibe ungeachtet der Konkurseröffnung nach slowakischem Recht postulationsfähig.

[6] Das Erstgericht hob das Verfahren als nichtig auf und wies die Klage wegen Unzulässigkeit des Rechtswegs zurück. Ob der mit Klage verfolgte Anspruch richtiger Weise in der Slowakei im dort geführten Insolvenzverfahren anzumelden oder ungeachtet des über das Vermögendes Beklagten eröffneten und weiter anhängigen Konkursverfahrens eine Klage zulässig sei, sei nach Art 7 EuInsVO nach slowakischem Recht zu beurteilen. Aufgrund der von den Parteien vorgelegten, sich deckenden und mit den im Internet unter https://e-justice.europa.eu/447/DE/insolvencybankruptcy?SLOVAKIA&member=1 abrufbaren Informationen in Einklang stehenden Ausführungen zum maßgeblichen slowakischen Insolvenzrecht erübrigten sich weitere Erhebungen. Der Konkurs gelte in der Slowakei durch die Veröffentlichung im Handelsblatt als eröffnet. Forderungen, die vor dem Kalendermonat entstanden seien, in dem der Konkurs eröffnet worden sei, könnten grundsätzlich nur im Konkurs befriedigt werden und seien daher anzumelden. Von der Entschuldung bleibe aber nach § 166c Abs 1 lit d des Zákon z 9. decembra 2004 o konkurze a reštrukturalizácii a o zmene a doplnení niektorých zákonov (Gesetz vom 9. Dezember 2004 über Insolvenz und Umstrukturierung; in der Folge: ZKR) unter anderem eine Forderung unberührt, die aus einer Haftung für einen Schaden an der Gesundheit oder einen durch vorsätzliches Handeln verursachten Schaden resultiere. Der Kläger habe sich im Verfahren im Kern immer nur auf fahrlässiges Handeln des Beklagten berufen und kein hinreichendes Tatsachenvorbringen zum Vorliegen zumindest bedingten Vorsatzes erstattet.

[7] Das Rekursgericht gab einem Rekurs des Klägers Folge, behob den angefochtenen Beschluss (ersatzlos) und trug dem Erstgericht die Fortsetzung des Verfahrens unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund auf. Dem Vorbringen des Klägers lasse sich bei gebotener, nicht engherziger Auslegung entnehmen, dass er dem Beklagten zumindest bedingt vorsätzliches Handeln zum Vorwurf mache. Damit sei nach dem insoweit entscheidenden Vorbringen des Klägers der Ausnahmetatbestand nach § 166c Abs 1 lit d ZKR erfüllt.

[8] Dagegen richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs des Beklagten mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn einer Zurückweisung der Klage; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[9] Der Kläger beantragt in der ihm freigestellten Revisionsrekursbeantwortung, den Revisionsrekurs mangels erheblicher Rechtsfrage zurückzuweisen, hilfsweise, ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[10] Der außerordentliche Revisionsrekurs (vgl RS0044035) ist wegen einer aufzugreifenden Fehlbeurteilung des Rekursgerichts zulässig und im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

1. Anzuwendendes Recht

[11] 1.1. Nach Art 7 Abs 2 lit f EuInsVO regelt das Recht des Staats des Insolvenzverfahrens (lex fori concursus), unter welchen Voraussetzungen das Insolvenzverfahren eröffnet wird und wie es durchzuführen und zu beenden ist. Dieses Recht regelt insbesondere, wie sich die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens auf Rechtsverfolgungsmaßnahmen einzelner Gläubiger auswirkt; ausgenommen sind die Wirkungen auf anhängige Rechtsstreitigkeiten. Diesbezüglich gilt nach Art 18 EuInsVO ausschließlich das Recht des Mitgliedstaats, in dem der Rechtsstreit anhängig ist (lex fori processus).

[12] 1.2. Die Klageerhebung gegen den Schuldner – wie hier – nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist als Rechtsverfolgungsmaßnahme nach Art 7 Abs 2 lit f EuInsVO zu qualifizieren. Auf sie ist daher das Recht des Staats der Insolvenzeröffnung anzuwenden (4 Ob 160/15f).

[13] 1.3. Das Recht des Staats der Insolvenzeröffnung bestimmt auch den Umfang der Verfügungsbeschränkungen des Schuldners. Welche Auswirkungen die Insolvenzeröffnung auf die Partei‑ und Prozessfähigkeit des Beklagten hat, richtet sich damit ebenso nach der lex fori concursus (10 Ob 28/16i Punkt 1. mwN).

[14] 1.4. Die in den Punkten 1.2. und 1.3. angesprochenen Fragen sind zusammengefasst nach slowakischem Recht zu beantworten.

[15] 2.1. Ist fremdes Recht maßgebend, so ist es von Amts wegen zu ermitteln (§ 4 Abs 1 IPRG; RS0045163; RS0040189) und wie in seinem ursprünglichen Geltungsbereich anzuwenden (§ 3 IPRG; RS0026536). Es kommt in erster Linie auf die im Ursprungsland durch die herrschende (höchstgerichtliche) Rechtsprechung geprägte Anwendungspraxis an (RS0080958). Ist die Praxis im Ursprungsland nicht einhellig oder nicht einmal von einer Meinung deutlich dominiert, so sind subsidiär die herrschende (überwiegende) Lehrmeinung des betreffenden Staats und erst in letzter Linie der Gesetzeswortlaut im Lichte der Auslegungsregeln und allgemeinen Rechtsgrundsätze der betroffenen Rechtsordnung heranzuziehen. Sich von vornherein nur auf den fremden Gesetzeswortlaut zu beschränken, ist deshalb unzulässig (RS0109415).

[16] 2.2. Wie sich das Gericht die notwendige Kenntnis des fremden Rechts verschafft, liegt in seinem Ermessen (RS0045163 [T11]). Neben den im Gesetz vorgesehenen Hilfsmitteln, also insbesondere der Einholung einer Auskunft des Bundesministeriums für Justiz oder eines Rechtsgutachtens (§ 4 Abs 1 IPRG; § 271 Abs 2 ZPO), stehen dem Gericht alle sonstigen Erhebungsquellen offen, etwa Informationen in- und ausländischer Vertretungsbehörden, durch die Parteien, Zeugen oder auch aus dem Internet (1 Ob 94/19h Punkt 2.2.; 7 Ob 154/21d Rz 20). Auch die Einholung einer Auskunft nach dem Europäischen Übereinkommen betreffend Auskünfte über ausländisches Recht, BGBl 1971/417 idgF, kommt in Betracht (vgl 3 Ob 104/17s Punkt 9.).

[17] 2.3. In der Rechtsrüge eines außerordentlichen Revisionsrekurses muss zumindest ansatzweise dargelegt werden, warum nach der anzuwendenden Rechtsordnung ein günstigeres als das von der zweiten Instanz erzielte Ergebnis zu erwarten ist (RS0040189 [T5]). Da der Beklagte im Revisionsrekurs darlegt, dass das Rekursgericht ohne Durchführung von Erhebungen den nicht belegten Rechtsausführungen des Klägers zum slowakischen Recht – insbesondere zur Bestimmung des § 166c Abs 1 lit d ZKR – gefolgt sei und das slowakische Verfassungsgericht im Zusammenhang mit § 166c Abs 1 lit d ZKR in erster Linie auf in einem Strafverfahren nachgewiesenes vorsätzliches Handeln abstelle, entspricht er diesen Anforderungen.

[18] Das Erstgericht ist in rechtlicher Hinsicht – von den Parteien im Revisionsrekursverfahren nicht in Zweifel gezogen – davon ausgegangen, dass eine vor dem Kalendermonat des „Stichtags“ entstandene Forderung (nach österreichischer Diktion also eine Insolvenzforderung) nach § 166a Abs 1 lit a und Abs 2 ZKR – sofern keine Ausnahme nach (unter anderem) § 166c ZKR vorliegt – nur im Konkurs befriedigt werden kann und daher im Insolvenzverfahren anzumelden ist, wobei das Insolvenzgericht nach § 166e Abs 1 ZKR mit der Konkurseröffnung auch über die Befreiung der Schulden entscheidet. Allerdings steht nach der Aktenlage nicht einmal der Wortlaut der zentralen Bestimmung des § 166c Abs 1 lit d ZKR fest. Die beglaubigten Übersetzungen der Beschlüsse slowakischer Gerichte (Beilagen ./1 und ./2) formulieren den Tatbestand wie folgt: „Eine Forderung aus der Verantwortung für den Schaden, der an Gesundheit oder durch absichtliches Handeln einschließlich der Ergänzung einer solchen Forderung verursacht wurde.“ Die vom Erstgericht als Erkenntnisquelle angeführte, von der Europäischen Union betriebene Website erwähnt wiederum nur „Haftungsansprüche für vorsätzlich herbeigeführte Personenschäden einschließlich Nebenkosten“ als von der Entschuldung durch die Insolvenz nicht betroffene (und daher nicht anzumeldende) Forderungen.

[19] 2.4. Die Vorinstanzen haben sich mit dem anzuwendenden Recht der Slowakei schon aus diesen Gründen nicht in einer den §§ 3, 4 Abs 1 IPRG entsprechenden Weise auseinandergesetzt und die maßgeblichen Grundlagen der nach diesem Recht zu treffenden Entscheidung nicht ausreichend ermittelt. Dies begründet einen Verfahrensmangel besonderer Art, der dem Rechtsmittelgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung zu unterstellen ist und zur Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen führt (RS0116580).

[20] 3. Das Erstgericht wird im fortgesetzten Verfahren das anzuwendende slowakische Recht durch geeignete Erhebungsschritte (siehe Punkt 2.2.) unter Beachtung der in Punkt 2.1. dargestellten Grundsätze zu ermitteln haben. Zu erheben ist nicht nur die Auswirkung der Eröffnung des slowakischen Insolvenzverfahrens auf die vom Kläger gesetzte Rechtsverfolgungsmaßnahme (insbesondere die Auslegung des § 166c Abs 1 lit d ZKR), sondern auch jene auf die Partei- und Prozessfähigkeit des Beklagten.

[21] Danach wird das Erstgericht auf Grundlage des Vorbringens des Klägers neuerlich darüber zu entscheiden haben, ob der streitige Rechtsweg zulässig ist.

[22] 4. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

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