OGH 9ObA23/25k

OGH9ObA23/25k25.6.2025

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Mag. Ziegelbauer als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Hargassner und die Hofrätin Mag. Korn sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Thomas Stegmüller (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Birgit Riegler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei P*, vertreten durch Dr. Peter Schaden und Mag. Werner Thurner, Rechtsanwälte in Graz, gegen den Beklagten Mag. B* als Masseverwalter im Konkursverfahren über das Vermögen des N*, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 13. Februar 2025, GZ 6 Ra 45/24w‑47, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:009OBA00023.25K.0625.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision der beklagten Partei wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Am 2. 4. 2022 ereignete sich auf der Baustelle eines Einfamilienhauses ein Arbeitsunfall, bei dem sich der beim Arbeitgeber beschäftigt gewesene Versicherte tödliche Verletzungen zuzog. Der Unfall ereignete sich dadurch, dass der Versicherte von einer Trapezleiter, die er als Aufstiegshilfe verwendete, um damit auf ein daneben stehendes Gerüst zu gelangen und von dort Arbeiten im Deckenbereich des Hauses zu verrichten, aufgrund eines plötzlichen Krampfanfalls ohne jede Abwehrbewegung zu Boden fiel.

[2] Über das Vermögen des Arbeitgebers wurde mit Beschluss des Landesgerichts * vom 4. 11. 2022 das Konkursverfahren eröffnet.

[3] Mit Zwischenurteil sprach das Erstgericht aus, dass das Klagebegehren, dem klagenden Sozialversicherungsträger stehe im Insolvenzverfahren eine unbedingte Insolvenzforderung von 10.088,70 EUR sowie eine bedingte Forderung (künftige Pflichtaufwendungen) von 359.208,81 EUR zu, dem Grunde nach zu Recht besteht. Der Arbeitgeber habe den Arbeitsunfall infolge mehrfacher Verstöße gegen Arbeitnehmerschutzvorschriften grob fahrlässig verschuldet.

[4] Das Berufungsgericht gab der dagegen erhobenen Berufung des Beklagten nicht Folge und ließ die Revision nicht zu.

Rechtliche Beurteilung

[5] Die außerordentliche Revision des beklagten Masseverwalters zeigt keine erhebliche Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO auf.

[6] 1. Nach § 334 Abs 1 ASVG hat der Dienstgeber oder ein ihm gemäß § 333 Abs 4 ASVG Gleichgestellter den Trägern der Sozialversicherung alle nach diesem Bundesgesetz zu gewährenden Leistungen zu ersetzen, wenn er den Arbeitsunfall oder die Berufskrankheit vorsätzlich oder durch grobe Fahrlässigkeit verursacht hat.

[7] 2.1. Grobe Fahrlässigkeit im Sinne des § 334 Abs 1 ASVG ist dem Begriff der auffallenden Sorglosigkeit im Sinne des § 1324 ABGB gleichzusetzen (RS0030510). Grobe Fahrlässigkeit ist immer dann anzunehmen, wenn eine außergewöhnliche und auffallende Vernachlässigung einer Sorgfaltspflicht (Pflicht zur Unfallverhütung) vorliegt und der Eintritt des Schadens als wahrscheinlich und nicht bloß als möglich voraussehbar war (RS0030644). Nicht jede Übertretung von Unfallverhütungsvorschriften bedeutet für sich allein aber bereits das Vorliegen grober Fahrlässigkeit (RS0052197). Entscheidendes Kriterium für die Beurteilung des Fahrlässigkeitsgrades ist auch nicht die Zahl der übertretenen Vorschriften, sondern die Schwere des Sorgfaltsverstoßes und die für den Arbeitgeber erkennbare Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts (RS0085332). Im Wesentlichen ist zu prüfen, ob nach objektiver Betrachtungsweise ganz einfache und naheliegende Überlegungen in Bezug auf den Arbeitnehmerschutz nicht angestellt wurden (RS0030644 [T34], RS0085228). Bei der Einschätzung der Schwere des Sorgfaltsverstoßes kommt es insbesondere auch auf die Gefährlichkeit der Situation an (RS0022698). Erhöhte Gefahr erfordert auch erhöhte Aufmerksamkeit (RS0022698 [T1]).

[8] 2.2. § 334 Abs 3 ASVG schließt nicht aus, dass bei der Beurteilung der Frage, ob der auf Ersatz in Anspruch Genommene grob fahrlässig gehandelt habe, das Verhalten des Versicherten mitberücksichtigt wird (RS0085538 [T2]). Dieser Rechtsprechung liegt insbesondere die Überlegung zugrunde, dass der Arbeitgeber mit einem völlig unvernünftigen (Fehl-)Verhalten des Arbeitnehmers nicht rechnen muss, sofern er die gebotenen Sicherheitsvorkehrungen getroffen und die notwendigen Sicherheitsanweisungen erteilt sowie deren Einhaltung kontrolliert hat (Auer-Mayer in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV‑Komm [Stand 1. 10. 2023, rdb.at] § 334 ASVG Rz 10 mwN).

[9] 3. Ob jemand einen Arbeitsunfall durch grobe Fahrlässigkeit verursacht hat, ist nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zu beurteilen (RS0085228 [T1]) und stellt – von Fällen einer vom Obersten Gerichtshof im Sinne der Rechtssicherheit wahrzunehmenden Fehlbeurteilung abgesehen – keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO dar (RS0085228 [T15]). Die angefochtene Entscheidung, die das Fehlverhalten des Arbeitgebers als grob fahrlässig beurteilte, bewegt sich im Rahmen des den Gerichten eingeräumten Beurteilungsspielraums.

[10] 4.1. Gemäß § 4 Abs 1 ASchG sind Arbeitgeber verpflichtet, die für die Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer bestehenden Gefahren zu ermitteln und zu beurteilen. Dabei sind die Grundsätze der Gefahrenverhütung gemäß § 7 ASchG anzuwenden. Nach Abs 2 leg cit sind bei der Ermittlung und Beurteilung der Gefahren auch besonders gefährdete oder schutzbedürftige Arbeitnehmer sowie die Eignung der Arbeitnehmer im Hinblick auf Konstitution, Körperkräfte, Alter und Qualifikation zu berücksichtigen. Insbesondere ist zu ermitteln und zu beurteilen, inwieweit sich an bestimmten Arbeitsplätzen oder bei bestimmten Arbeitsvorgängen spezifische Gefahren für Arbeitnehmer ergeben können, für die ein besonderer Personenschutz besteht.

[11] 4.2. Gemäß § 6 Abs 3 ASchG dürfen Arbeitnehmer, von denen dem Arbeitgeber bekannt ist, dass sie aufgrund ihrer gesundheitlichen Verfassung bei bestimmten Arbeiten einer besonderen Gefahr ausgesetzt wären oder andere Arbeitnehmer gefährden könnten, nicht mit Arbeiten dieser Art beschäftigt werden. Dies gilt insbesondere für Anfallsleiden, Krämpfe, zeitweilige Bewusstseinstrübungen, Beeinträchtigungen des Seh- oder Hörvermögens und schwere Depressionszustände. § 5 Abs 1 BauV enthält eine beinahe gleichlautende Bestimmung.

[12] 5. Nach den Feststellungen erlitt der Versicherte bereits im ersten Beschäftigungsverhältnis beim selben Arbeitgeber im Jahr 2020 während der Arbeit zwei Krampfanfälle. Ein Anfall ereignete sich beim Lenken des Firmenfahrzeugs, wodurch der Versicherte, als sich sein Körper plötzlich krampfartig versteifte, das Gaspedal durchdrückte und gegen ein Gebäude fuhr. Nachdem der Arbeitgeber davon erfahren hatte, wies er den Versicherten an, sich medizinisch untersuchen zu lassen. Da die Ehegattin des Versicherten dem Arbeitgeber mitteilte, dass die Untersuchungen keine Diagnose ergeben hätten und der Arbeitgeber kurz danach einen weiteren Anfall des Versicherten beobachtete, bei dem dieser plötzlich zu Boden fiel, als er auf einer Baustelle neben einer Wand arbeitete, untersagte er dem Versicherten aus Sicherheitsgründen das Lenken des Firmenfahrzeugs. Einen Grund oder eine medizinische Diagnose für die beiden Krampfanfälle erfuhr der Arbeitgeber damals nicht. Da sich der Versicherte nicht an das Lenkverbot hielt, beendete der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis mit dem Versicherten noch im Jahr 2020.

[13] Am 1. 4. 2022 ersuchte der Versicherte den Arbeitgeber, ihn neuerlich zu beschäftigen. Befragt nach seinem Gesundheitszustand, erklärte der Versicherte, dass es ihm gut gehe. Damit gab sich der Arbeitgeber zufrieden. Aufgrund der Angaben des Versicherten, sein Gesundheitszustand sei in Ordnung, er habe keine Diagnose erhalten sowie der Umstände, dass der Versicherte weiterhin über einen Führerschein verfügte und zuvor bereits auf anderen Baustellen gearbeitet hatte, ging der Arbeitgeber davon aus, dass der Versicherte als Arbeiter auf Baustellen eingesetzt werden könne. Er stellte ihn daher wieder als Facharbeiter ein. Da der Arbeitgeber aufgrund von Aussagen von Arbeitskollegen und Freunden des Versicherten, die darüber spekulierten, ob er allenfalls Epileptiker sei, und aufgrund der beiden Anfälle aus dem Jahr 2020 Bedenken hatte, ob der Versicherte gefahrlos ein Fahrzeug lenken könne, untersagte er ihm das Lenken des Firmenfahrzeugs. Sonstige Anweisungen für Einschränkungen bei der Ausübung seiner Arbeitstätigkeit oder für besondere Sicherheitsvorkehrungen erteilte er dem Versicherten hingegen nicht. Eine Evaluierung durch einen Arbeitsmediziner oder den Unfallverhütungsdienst der AUVA mit der besonderen Berücksichtigung des Anfallsleidens des Versicherten hätte zur Empfehlung geführt, dass dieser keine Arbeiten in exponierten Lagen durchführen solle.

[14] 6. Das Berufungsgericht hat dem Arbeitgeber als gravierenden Verstoß gegen Arbeitnehmerschutzvorschriften vorgeworfen, dass er seiner Verpflichtung als Arbeitgeber, für die Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer bestehende Gefahren zu ermitteln und zu beurteilen (§§ 4, 7 ASchG) nicht nachgekommen sei. Hätte er vor Beginn der dem Versicherten aufgetragenen konkreten Tätigkeit, die zu dessen Unfalltod geführt habe, eine Ermittlung und Beurteilung der Gefahren vorgenommen und dabei nach § 4 Abs 2 ASchG berücksichtigt, dass der Versicherte aufgrund seiner gesundheitlichen Verfassung bei bestimmten Arbeiten einer besonderen Gefahr ausgesetzt wäre oder andere Arbeitnehmer gefährden könnte, hätte er ihn gemäß § 6 Abs 3 ASchG nicht mit Arbeiten dieser Art beschäftigen dürfen. Da der Arbeitgeber befürchten musste, der Versicherte könnte einen neuerlichen Anfall erleiden, zumal die Ursache für die Anfälle unklar geblieben sei, hätte er den Versicherten nicht für Tätigkeiten einsetzen dürfen, die die Benützung einer Stehleiter oder Arbeiten in exponierten Lagen erfordern. Es sei auf der Hand gelegen, dass der Versicherte aufgrund seines Anfallsleidens bei Verrichtung von Tätigkeiten auf einer Stehleiter in einem ganz besonderen Maße gefährdet gewesen sei. Darauf, welche Aufstiegshilfe für die Arbeitnehmer einen sicheren begehbaren Aufstieg für das fahrbare Standgerüst dargestellt hätten (innenliegende Stufenleiter oder Treppe), komme es daher nicht mehr an. Abzustellen sei ausschließlich auf die konkrete Situation des aufgrund seines Anfallsleidens besonders gefährdeten und schutzbedürftigen Versicherten.

[15] Diese Beurteilung ist nicht zu beanstanden.

[16] 7. Der Revisionswerber vermisst eine höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage, ob und inwieweit die Verpflichtungen des Arbeitgebers nach § 4 Abs 2 ASchG und § 6 Abs 3 ASchG durch unrichtige Angaben des Versicherten über seinen Gesundheitszustand (hier: als „gut“ beschrieben) eingeschränkt werden.

[17] Dass ein gleichartiger oder hinreichend ähnlicher Sachverhalt vom Obersten Gerichtshof noch nicht entschieden wurde, begründet noch nicht das Vorliegen einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung (RS0107773).

[18] Zutreffend ist, dass der Arbeitgeber grundsätzlich nicht zu allgemeinen und regelmäßigen Kontrollen des Gesundheitszustands seiner Arbeitnehmer verpflichtet ist. Voraussetzung für die Verpflichtung des Arbeitgebers, Arbeitnehmer, die aufgrund ihrer gesundheitlichen Verfassung bei bestimmten Arbeiten einer besonderen Gefahr ausgesetzt sein könnten, mit Arbeiten dieser Art nicht zu beschäftigen, ist die Kenntnis des Arbeitgebers von den gesundheitlichen Problemen des Arbeitnehmers (Streithofer in Milanovic/Streithofer, ASchG8 [2025] § 6 ASchG Rz 4). Aber auch wenn der Arbeitgeber bereits ausreichende Anhaltspunkte dafür hat, dass der Arbeitnehmer aufgrund seiner gesundheitlichen Verfassung bei bestimmten Arbeiten einer besonderen Gefahr ausgesetzt sein könnte, hat er die jeweils im konkreten Fall erforderliche Gefahrenevaluierung vorzunehmen.

[19] Dass der Arbeitnehmer schon aufgrund seiner Treuepflicht gegenüber dem Arbeitgeber wahrheitsgemäße Angaben über seinen Gesundheitszustand machen muss, wenn aus seiner Krankheit in Verbindung mit der Arbeitsleistung eine Gefahr für Leben und Gesundheit für sich selbst oder von anderen Personen resultiert, mag durchaus richtig sein. Wenn die Revision aber zentral darauf abstellt, dass der Versicherte dem Arbeitgeber seinen Gesundheitszustand mit „gut“ beschrieben hat, lässt sie weitere für die Beurteilung wesentliche Feststellungen außer Betracht. Vor allem wusste der Arbeitgeber von den Anfällen des Versicherten und dass deren Ursache nicht diagnostiziert wurde und verbot ihm aufgrund seiner Bedenken über dessen gesundheitliche Eignung auch im neuen Arbeitsverhältnis wiederum das Lenken eines Firmenfahrzeugs. Es ist daher vertretbar, anzunehmen, dass der Arbeitgeber aufgrund der gesamten ihm bekannten Umstände die Verpflichtung gehabt hätte, eine Gefahrenevaluierung unter besonderer Berücksichtigung des Gesundheitszustands des Versicherten im Hinblick auf die ihm aufgetragenen Arbeiten vorzunehmen, und zwar bereits bevor er dem Versicherten Arbeiten unter Verwendung einer Leiter auftrug. Eine Überspannung der Sorgfaltspflicht des Arbeitgebers liegt darin nicht.

[20] 8. Die vom Revisionswerber behauptete Informationspflichtverletzung des Versicherten stellt unter Berücksichtigung der konkreten Kenntnisse des Arbeitgebers über dessen Gesundheitszustand auch kein so gravierendes Mitverschulden des Verletzten dar, das etwas am hervorgekommenen groben Verschulden des Arbeitgebers ändern würde. Dem Arbeitgeber musste aufgrund der während des vorangehenden Arbeitsverhältnisses erlittenen Anfälle des Versicherten die potentiellen, massiven (bis zur Todesfolge gehenden) Auswirkungen allfälliger weiterer Krankheitsschübe bekannt sein. Wie vom Berufungsgericht zutreffend ausgeführt, hat der Arbeitgeber dennoch nicht bloß unzureichende, sondern überhaupt keine Maßnahmen getroffen, um eine allfällige Gefährdung für den Versicherten bei Erbringung seiner Arbeiten hintanzuhalten. Er hat insbesondere keine Maßnahmen gesetzt bzw veranlasst, um den Gesundheitszustand des Versicherten und damit dessen Eignung für die konkret ihm aufgetragenen Arbeiten zu überprüfen.

[21] Mangels Geltendmachung einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision des Beklagten zurückzuweisen. Einer weiteren Begründung bedarf diese Zurückweisung nicht (§ 510 Abs 3 Satz 3 ZPO).

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