OGH 12Os54/25w

OGH12Os54/25w11.6.2025

Der Oberste Gerichtshof hat am 11. Juni 2025 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner‑Foregger als Vorsitzende sowie die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Oshidari, Dr. Setz-Hummel LL.M., Dr. Haslwanter LL.M. und Dr. Sadoghi in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Artner in der Strafsache gegen * H* wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs 2a SMG, § 15 StGB, AZ 151 Hv 3/24d des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom 22. Juli 2024, AZ 21 Bs 55/24b (ON 11 der Hv‑Akten), erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Schneider LL.M., zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0120OS00054.25W.0611.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

 

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird verworfen.

 

Gründe:

[1] Mit Verfügung vom 4. Dezember 2023 sah die Staatsanwaltschaft Wien zu AZ 405 St 166/23i gemäß § 6 Abs 1 JGG von der Verfolgung des nach der Verdachtslage von * H* als Jugendlicher begangenen (§ 1 Abs 1 Z 3 JGG) Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs 2a SMG, § 15 StGB ab und stellte das Ermittlungsverfahren ein (ON 1.3). Im Ermittlungsverfahren hatte die Kriminalpolizei (ua) einen Bargeldbetrag von fünf Euro sichergestellt, der nach der Verdachtslage aus einem Suchtgiftverkauf stammte (ON 2.2 S 4, 6; ON 2.5 S 4 f; ON 2.6 S 4 f; ON 2.14 S 3).

[2] Am 30. Jänner 2024 brachte die Staatsanwaltschaft beim Einzelrichter des Landesgerichts für Strafsachen Wien zu AZ 151 Hv 3/24d einen selbständigen Antrag auf Verfall (§ 445 Abs 1 StPO) dieser fünf Euro Bargeld ein (ON 7).

[3] Mit Beschluss vom 5. Februar 2024 wies das Landesgericht für Strafsachen Wien den Verfallsantrag „gemäß §§ 485 Abs 1 Z 3 iVm 212 Z 1 StPO“ zurück und stellte das Verfahren ein (ON 8).

[4] Begründend hielt der Einzelrichter (§ 445 Abs 2 StPO) fest (BS 2 f), dass sich der Ablauf des Verfahrens über einen selbständigen Antrag nach den allgemeinen Regeln des Einzelrichterverfahrens richte, weshalb auch der verfahrenseinleitende Antrag durch das Gericht von Amts wegen zu prüfen und „in entsprechender Anwendung der §§ 450 f, 485 (212) StPO zumindest in den offensichtlichen und notwendigen Fällen a limine zurückzuweisen“ sei.

[5] „Letztlich“ müsse dies „insbesondere“ für Fälle gelten, in denen bereits bei Antragstellung offensichtlich sei, dass die Voraussetzungen für einen Verfallsausspruch nicht gegeben seien, womit neben der Zurückweisung eine Einstellung des Verfahrens einhergehen müsse.

[6] Vorliegend stehe der für verfallen zu erklärende Vermögenswert (fünf Euro Bargeld) „ohne jeden Zweifel außer Verhältnis zum Verfahrensaufwand“ (§ 20a Abs 3 StGB), weil ausschließlich wegen des beantragten Verfalls eine öffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt werden müsste.

[7] § 20a Abs 3 StGB sei „dem Wortlaut nach zwingend“, sodass hier auch kein Ermessensspielraum bestehe. Zeige sich bei der Vorprüfung eines Strafantrags, dass die Verurteilung des Angeklagten aus rechtlichen Gründen ausgeschlossen sei, so sei der Strafantrag zurückzuweisen und das Verfahren einzustellen. Entsprechend sei auch bei einem selbständigen Antrag auf Verfall vorzugehen.

[8] Der dagegen von der Staatsanwaltschaft erhobenen Beschwerde (ON 9) gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 22. Juli 2024, AZ 21 Bs 55/24b (ON 11 der Hv‑Akten), Folge, hob den erstinstanzlichen Beschluss ersatzlos auf und trug dem Erstgericht die Durchführung einer Hauptverhandlung auf, in der die materiellen Voraussetzungen des § 20 StGB zu prüfen seien.

[9] Dazu führte das Beschwerdegericht aus, dass über einen Antrag auf Verfall auch im selbständigen Verfahren immer nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung durch Urteil zu entscheiden sei. Eine – dem Vorgehen bei Einbringung eines Strafantrags entsprechende – amtswegige Vorprüfung des selbständigen Antrags auf Erlassung einer vermögensrechtlichen Anordnung samt der Möglichkeit einer Zurückweisung a limine sei in der StPO nicht ausdrücklich geregelt und das Beschwerdegericht gehe auch nicht von einer planwidrigen Lücke aus.

[10] Einschränkend hielt das Beschwerdegericht unter Hinweis auf die von Fuchs/Tipold (WK‑StPO § 445 Rz 20/3) vertretene Ansicht, wonach eine Zurückweisung ohne Verhandlung (nur, aber immerhin) bei Unzuständigkeit des Gerichts oder bei Fehlen der für eine inhaltliche Behandlung unerlässlichen Angaben im Antrag zu erfolgen habe, fest, dass kein Zurückweisungsgrund gegeben sei, „zumal“ keinerdieser beiden Mängel vorliege (Seiten 4 f der Beschwerdeentscheidung).

[11] Zusammengefasst vertrat das Beschwerdegericht somit die Ansicht, dass grundsätzlich eine öffentliche mündliche Verhandlung über einen selbständigen Antrag auf Verfall durchzuführen ist und eine Zurückweisung nur bei Unzuständigkeit des Gerichts oder bei Fehlen der für eine inhaltliche Behandlung unerlässlichen Angaben im Antrag in Betracht kommt.

[12] Mit (sogleich rechtskräftigem) Urteil vom 15. November 2024 sprach das Landesgericht für Strafsachen Wien sodann den Verfall der fünf Euro Bargeld aus (ON 16).

[13] In ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde führt die Generalprokuratur Folgendes aus:

Der Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom 22. Juli 2024, AZ 21 Bs 55/24b (ON 11 der Hv‑Akten), steht in seiner Begründung mit dem Gesetz nicht im Einklang:

1./ Während § 71 Abs 5 letzter Satz StPO in Ansehung eines selbständigen Antrags des Privatanklägers auf Erlassung vermögensrechtlicher Anordnungen (§ 71 Abs 3 StPO iVm § 445 StPO) ausdrücklich eine Vorprüfung durch das Gericht – soweit hier von Interesse – nach den Kriterien des § 485 StPO vorsieht (vgl [zu § 485 Abs 1 Z 2 und 3 StPO] 11 Os 99/10h = JBl 2011, 334 mit Anm Heigenhauser), fehlen besondere Regeln, ob und in welchen Grenzen (auch) ein solcher selbständiger Antrag der Staatsanwaltschaft einer Vorprüfung zu unterziehen und allenfalls von vornherein zurückzuweisen ist (vgl auch Fuchs/Tipold, WK‑StPO § 445 Rz 20/2 f).

Da aber auch ein Antrag gemäß § 445 Abs 1 StPO der Staatsanwaltschaft unter Determinierung des Prozessgegenstands ein Verfahren vor dem (sachlich zuständigen) Einzelrichter des Landesgerichts in Gang bringt (§ 445 Abs 2 StPO), in welchem nach öffentlicher mündlicher Verhandlung mit Urteil über die Sache abzusprechen ist und in dem die Staatsanwaltschaft und die von der Anordnung Bedrohten (§ 64 StPO) Beteiligte sind, ist – mit Blick auf das sich andernfalls im Vergleich zu einem durch Strafantrag eingeleiteten Hauptverfahren vor dem Einzelrichter ergebende Rechtsschutzdefizit der Beteiligten – von einer planwidrigen Lücke auszugehen (vgl [zu örtlicher Unzuständigkeit und zur analogen Anwendung des § 485 Abs 1 Z 1 iVm § 450 StPO] 15 Ns 25/21a = SSt 2021/30).

Dieses Rechtsschutzdefizit (im Vergleich zu einem durch Strafantrag eingeleiteten Hauptverfahren) bestünde nicht nur im – der Entscheidung 15 Ns 25/21a zugrundeliegenden – Falle örtlicher Unzuständigkeit (§ 485 Abs 1 Z 1 iVm § 450 StPO) zur Verhandlung über den selbständigen Antrag auf vermögensrechtliche Anordnungen, sondern ebenso in den von § 485 Abs 1 Z 2 und 3 StPO (im Privatanklageverfahren sogar explizit) erfassten Fällen. Auch in diesem Umfang ist daher von einer planwidrigen Lücke auszugehen, die durch sinngemäße Anwendung der Bestimmungen über die Vorprüfung des Strafantrags zu schließen ist.

So wäre etwa mit Zurückweisung (und Einstellung) nach § 485 Abs 1 Z 3 iVm § 212 Z 1 StPO analog vorzugehen, wenn bereits die Vorprüfung des Antrags (iVm dem Akteninhalt) ergibt, dass die „Anlasstat“ für den Verfall nicht den Tatbestand einer mit Strafe bedrohten Handlung erfüllt (vgl § 20 Abs 1 StGB) oder Verjährung eingetreten ist (vgl § 57 Abs 4 StGB).

Die in der Begründung vertretene Rechtsansicht, dass die Zurückweisung eines selbständigen Antrags auf Verfall vor Verhandlung außer bei Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts oder bei Fehlen der für eine inhaltliche Behandlung unerlässlichen Angaben im Antrag nicht in Betracht komme, trifft daher nicht zu.

2./ § 20a StGB fasst Fälle zusammen, in denen der Verfall trotz Erfüllung aller Voraussetzungen des § 20 StGB zu unterbleiben hat (Fabrizy/Michel‑Kwapinski/Oshidari, StGB14 § 20a Rz 1; Leukauf/Steininger/Stricker, StGB4 § 20a Rz 1).

Nach dem Ausschlussgrund (vgl 14 Os 125/20v, EvBl‑LS 2021/84) des § 20a Abs 3 StGB ist vom Verfall abzusehen (nicht: kann vom Verfall abgesehen werden), soweit der für verfallen zu erklärende Vermögenswert (oder die Aussicht auf dessen Einbringung) außer Verhältnis zum Verfahrensaufwand steht, den der Verfall (oder die Einbringung) erfordern würde.

Liegen demnach nach Überzeugung des Gerichts die Voraussetzungen des § 20a Abs 3 StGB vor, dann hat es vom Verfallsausspruch abzusehen. Dass es sich bei der Frage, ob nach § 20a Abs 3 StGB (der „dem Opportunitätsgedanken entspringt“; vgl Leukauf/Steininger/Stricker, StGB4 § 20a Rz 11; siehe auch Fuchs/Tipold in WK2 StGB § 20a Rz 35) der Verfall außer Verhältnis zum Verfahrensaufwand steht, um eine Ermessensentscheidung handelt (vgl RIS‑Justiz RS0114233 [T7]), ändert nichts daran, dass bejahendenfalls – ähnlich einem prozessualen Verfolgungshindernis (etwa § 191 StPO [Schroll, WK‑StPO § 191 Rz 9]) bei Prüfung eines Strafantrags (§ 485 Abs 1 Z 3 iVm § 212 Z 1 StPO) – ein sonstiger rechtlicher Grund (vgl auch [zur generellen Formulierung der sonstigen rechtlichen Gründe in § 212 Z 1 StPO] Birklbauer, WK‑StPO § 212 Rz 3) vorliegt, der einen Verfallsausspruch ausschließt.

Indem das Oberlandesgericht Wien als Beschwerdegericht fallbezogen der Beschwerde der Staatsanwaltschaft mit der Begründung Folge gab, dass die Voraussetzungen des Ausschlussgrunds nach § 20a Abs 3 StGB in einer öffentlichen mündlichen Verhandlung zu prüfen und diese nicht Gegenstand einer Vorprüfung des selbständigen Antrags (und im Fall ihres Vorliegens kein Grund für eine Zurückweisung und Einstellung des Verfahrens) sind, hat es § 485 Abs 1 Z 3 iVm § 212 Z 1 StPO analog verletzt.

Mit Blick auf den sogleich erklärten Rechtsmittelverzicht des H* (ON 16 S 2) ist ein aus den Gesetzesverletzungen resultierender Nachteil für den Betroffenen auszuschließen (§ 292 vorletzter und letzter Satz StPO).

Rechtliche Beurteilung

[14] Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:

[15] Im objektiven Verfahren nach § 445 StPO sieht das Gesetz eine amtswegige Vorprüfung von Anträgen iSd § 485 Abs 1 StPO nicht vor (Fuchs/Tipold, WK‑StPO § 445 Rz 20/2 f, die Zurückweisung allerdings bei Unzuständigkeit oder fehlender Erkennbarkeit des Prozessgegenstands zulassen wollen). Diese Vorschrift dient dem Schutz des Angeklagten (Bauer, WK‑StPO § 485 Rz 1; Kirchbacher,StPO15 § 485 Rz 1), ist aber nicht auf die Interessen des von einer Vermögensmaßnahme Betroffenen zugeschnitten (Fuchs/Tipold, WK‑StPO § 445 Rz 20/2).

[16] Für die von der Generalprokuratur vertretene analoge Anwendung des § 485 Abs 1 StPO auf das selbständige Verfahren nach § 445 StPO kann der hierfür erforderliche Nachweis einer planwidrigen Lücke aus folgenden Gründen nicht erbracht werden:

1. § 71 Abs 5 letzter Satz StPO, der nach einer in der Judikatur vertretenen Ansicht (11 Os 99/10h) auch bei Anträgen auf Erlassung vermögensrechtlicher Anordnungen eine Vorprüfung nach § 485 StPO ermöglicht, reicht als Analogiegrundlage nicht hin. Denn § 71 StPO ist als Sonderbestimmung für das Privatanklageverfahren nicht extensiv, sondern im Rahmen ihrer engen ratio auszulegen (RIS‑Justiz RS0008903 [T4]). Diese besteht vor allem darin, Personen vor unberechtigten Anklagen oder Anträgen des – nicht der Objektivität verpflichteten (§ 3 Abs 2 StPO) – Opfers zu schützen (vgl ErläutRV StPRefG 25 BlgNR 22. GP , 103) und dessen Prozessverhalten besonderer Kontrolle zu unterwerfen. Solcherart kann aus diesen Vorschriften nicht ohne weiteres darauf geschlossen werden, dass es der Gesetzgeber verabsäumt hätte, entsprechende Regelungen für das offiziose Strafverfahren vorzusehen.

2. Gleiches gilt für das auf 15 Ns 25/21a gestützte Argument, das nach § 445 StPO angerufene Gericht habe (immerhin) bei örtlicher Unzuständigkeit nach § 485 Abs 1 Z 1 StPO analog vorzugehen. Einerseits steht dieser Lösung entgegen, dass § 38 StPO dafür ohnedies Vorsorge trifft und dem Rechtsschutzbedürfnis der Beteiligten mit § 38 dritter Satz StPO Rechnung getragen wird (zur ausnahmsweisen Derogation des § 38 StPO [nur] im Umfang spezieller, im Gesetz geregelter Verfahren 13 Ns 44/09p; Oshidari, WK‑StPO § 38 Rz 2).Andererseits ließe sich auch unter Zugrundelegung der von 15 Ns 25/21a befürworteten Vorprüfungsbefugnis bei örtlicher Unzuständigkeit kein Schluss darauf ziehen, dass diese auch die materiellen Anwendungsvoraussetzungen der jeweiligen Vermögensmaßnahme umfasst.

3. Schließlich bietet auch das Argument, Rechtsschutzinteressen würden die Zulässigkeit amtswegiger Vorprüfungsbefugnis gebieten, keine taugliche Analogiebasis. In welchem Umfang Rechtsschutz zu gewähren ist, ist vorrangig Aufgabe des Gesetzgebers, der sich dabei an den verfassungsrechtlichen (insb grundrechtlichen) Rahmenbedingungen zu orientieren hat. Nur dort, wo das (einfache) Gesetz hinter diesen Vorgaben zurückbleibt, können entsprechende Defizite im Auslegungsweg bereinigt werden (vgl etwa RIS‑Justiz RS0122228). Ein solcher Befund lässt sich aber vorliegend nicht erstellen. Denn das Beschwerdevorbringen läuft im Ergebnis bloß auf das verfahrensökonomische Postulat hinaus, dass offensichtlich unberechtigte Anträge nach § 445 StPO im Vorprüfungsweg effektiver beseitigt werden könnten als bei Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung.

[17] Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher zu verwerfen.

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