European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0030OB00071.25Z.0528.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Zivilverfahrensrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
[1] Der Kläger (des hier vorliegenden Verfahrens) war ab dem Jahr 2019 Mieter eines im Eigentum der beklagten gemeinnützigen Wohnungsgenossenschaft stehenden Objekts. Im Jahr 2023 brachte die Beklagte gegen ihn zu 401 C 94/23a des Erstgerichts eine Mietzins‑ und Räumungsklage ein (im Folgenden: Vorverfahren). Am 7. September 2023 zog der Kläger aus dem Bestandobjekt aus und stellte dieses der (hier) Beklagten zurück, worauf diese ihr Begehren um das Räumungsbegehren einschränkte. In der Folge schränkte sie ihr Zahlungsbegehren von zuletzt 11.740,54 EUR sA (aushaftende Mietzinse für den Zeitraum November 2022 bis Mai 2023 und Juli bis September 2023) auf restliche Kosten ein. Sie brachte dazu vor, dass sich der vom Kläger geleistete Finanzierungsbeitrag aufgrund der Abschreibung gemäß § 17 WGG zum Stichtag 30. September 2023 auf 14.389,11 EUR reduziert habe. Die Rückzahlung dieses Betrags sei binnen acht Wochen nach Rückstellung des Objekts, somit am 2. November 2023 fällig. Die Beklagte rechne den dem Kläger zustehenden Finanzierungsbeitrag auf die im Vorverfahren eingeklagte Forderung derart an, dass damit das gesamte eingeklagte Kapital von 11.740,54 EUR, die gesamten bisher aufgelaufenen Zinsen von 186,18 EUR und die gesamten Kosten der Klage sowie ein Teil der Kosten des vorbereitenden Schriftsatzes vom 26. Mai 2023 (insgesamt 2.462,39 EUR) getilgt seien; sie schränke ihr Begehren daher auf restliche Kosten des vorbereitenden Schriftsatzes von 705,55 EUR zuzüglich der weiteren, zeitlich nachfolgenden Kosten des Verfahrens ein.
[2] Das Erstgericht verpflichtete daraufhin mit Urteil vom 26. März 2024 den Kläger (des hier vorliegenden Verfahrens) zum Ersatz der mit 4.698,12 EUR bestimmten Verfahrenskosten an die (hier) Beklagte. Dieser Entscheidung legte es insbesondere folgende Feststellungen zugrunde:
Der Kläger (des hier vorliegenden Verfahrens), der das Bestandobjekt mit seiner Ehefrau und seinem damals einjährigen Sohn bewohnte, meldete der Beklagten im Juni 2021 das Auftreten von Nässeschäden im Mietobjekt. Aufgrund einer undichten Duschrinne gelangte Wasser in das Mauerwerk, weshalb an der Wand des Kinderzimmers Schimmel und Feuchtigkeitsflecken auftraten. Die Beklagte beauftragte daraufhin ein Unternehmen mit der Behebung des Wasserschadens. Die Arbeiten begannen Anfang November 2021 und waren im Februar 2022 fertiggestellt. Bis zum Abschluss dieser Sanierungsarbeiten war das Kinderzimmer gar nicht und das Badezimmer nur eingeschränkt benutzbar. Das von der Beklagten beauftragte Sanierungsunternehmen verursachte im Bestandobjekt einen Schaden; als Abgeltung wurde vom Haftpflichtversicherer des Unternehmens eine Abgeltung in Höhe von 3.448 EUR an den Kläger bezahlt. Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Kläger im Zeitraum November 2021 bis Februar 2022 weitere (vom ihm im Verfahren konkret behauptete) Schäden entstanden wären.
Der Kläger leistete bis einschließlich Oktober 2021 den Mietzins laut Mietvertrag in vereinbarter Höhe. Ab November 2021 bis Oktober 2022 leistete er die Mietzinse jeweils unter Vorbehalt. Die Mietzinse für die Monate November 2022 bis einschließlich Mai 2023 sowie Juli bis September 2023 zahlte er trotz Mahnung nicht, und jenen für Juni 2023 wiederum unter Vorbehalt. Die Mietzinse für den Zeitraum November 2022 bis Februar 2023 betrugen jeweils 1.021,51 EUR, jene für März bis Mai 2023 jeweils 1.196,84 EUR. Der Mietzins für Juli 2023 betrug 1.238,72 EUR, jener für August 2023 1.550,43 EUR (einschließlich einer Heizkostennachzahlung und abzüglich eines Guthabens aus der Betriebskostenabrechnung), und jener für September 2023 1.274,83 EUR.
[3] In rechtlicher Hinsicht gelangte das Erstgericht zum Ergebnis, dass der Kläger nur für die Monate November 2021 bis einschließlich Februar 2022 eine Mietzinsminderung geltend machen könne, die im Umfang von 25 % angemessen sei; in diesem Zeitraum habe der Kläger daher um 1.021,51 EUR zu viel gezahlt. Da weitere Schäden des Klägers nicht feststellbar seien, wäre die Beklagte, hätte sie ihre Klage nicht auf Kosten eingeschränkt, mit ihrem Zahlungsbegehren im Betrag von 10.719,03 EUR sA durchgedrungen; auch ihr Räumungsbegehren wäre erfolgreich gewesen. Ausgehend davon errechnete das Erstgericht einen (restlichen) Kostenersatzanspruch der Beklagten in Höhe von 4.698,12 EUR.
[4] Das Rekursgericht gab dem vom Kläger erhobenen Kostenrekurs Folge und sprach der Beklagten Kosten von lediglich 3.171,25 EUR zu. Das Erstgericht habe bei seiner Berechnung übersehen, dass die Beklagte selbst aufgrund der von ihr vorgenommenen Aufrechnung in ihrer Kostennote einen Abzug in Höhe von 2.462,39 EUR vorgenommen habe. Ziehe man diesen Betrag von den vom Erstgericht ausgehend von der Obsiegensquote der Beklagten in den einzelnen Verfahrensabschnitten errechneten Kosten ab, so ergebe sich ein Anspruch der Beklagten von (nur) 2.236,73 EUR. Da der Kläger die Kostenentscheidung allerdings lediglich in einem 3.171,25 EUR übersteigenden Umfang bekämpfe, seien der Beklagten infolge eingetretener Teilrechtskraft Kosten in dieser Höhe zuzusprechen, ohne dass auf die weiteren Rekursgründe einzugehen sei.
[5] Im hier vorliegenden Verfahren begehrte der Kläger mit seiner am 13. November 2023 (also noch während des Vorverfahrens) eingebrachten Klage nach Einschränkung zuletzt den Betrag von 5.256,63 EUR sA. Dazu brachte er – wie bereits im Vorverfahren – vor, er habe infolge Auflösung des Bestandverhältnisses Anspruch auf Rückzahlung des Finanzierungsbeitrags in Höhe von (abgezinst) 14.389,11 EUR gehabt; durch die im Vorverfahren erfolgte Verrechnung mit den dort eingeklagten Mietzinsen seien in Wahrheit lediglich 9.132,49 EUR „verbraucht“. Von den offenen Mietzinsen sei nämlich die ihm zustehende Mietzinsminderung in Höhe von 1.021,51 EUR abzuziehen. Darüber hinaus stehe der Beklagten vom geltend gemachten Mietzins für August 2023 ein Teilbetrag von 311,71 EUR nicht zu, weil die Erhöhung (einschließlich Heizkostennachzahlung abzüglich Guthaben aus der Betriebskostenabrechnung) nicht nachgewiesen worden sei. Für September 2023 stehe ihr überhaupt kein Mietzins zu, weil der Kläger ihr bereits im August 2023 die Rückstellung des Bestandobjekts angeboten habe, worauf sie allerdings nicht reagiert habe.
[6] Die Beklagte wendete insbesondere ein, dass sämtliche Forderungen des Klägers infolge der Gegenverrechnung im Vorverfahren getilgt seien.
[7] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Über das Sachvorbringen des Klägers sei bereits im Vorverfahren rechtskräftig und damit bindend entschieden worden.
[8] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Das Erstgericht habe die Bindungswirkung der Entscheidung im Vorverfahren zutreffend bejaht. Die Entscheidung zu 6 Ob 61/05x(= RS0039843 [T17]) sei hier nicht einschlägig. Im Vorverfahren seien die Berechtigung der dort eingeklagten Ansprüche der Beklagten und damit auch die Einwände des Klägers inhaltlich geprüft worden.
[9] Das Berufungsgericht erklärte die ordentliche Revision für zulässig, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage fehle, ob die Grundsätze der Entscheidung zu 6 Ob 61/05x über die Bindungswirkung materiell rechtskräftiger Zivilurteile auch auf einen nach Einschränkung des Klagebegehrens auf Kosten in Urteilsform ergangenen Kostenbestimmungsbeschluss anzuwenden seien, wenn in diesem entscheidungswesentliche Feststellungen zur Individualisierung des Urteilsspruchs getroffen worden seien.
[10] Mit seiner Revision strebt der Kläger die Stattgebung seines Klagebegehrens an; hilfsweise stellt er einen Aufhebungsantrag.
[11] Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise dieser nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[12] Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig; sie ist im Sinn des Aufhebungsantrags auch berechtigt.
[13] 1. Durch die materielle Rechtskraftwirkung gelangt die „Maßgeblichkeit“ einer gerichtlichen Entscheidung zum Ausdruck, durch die eine Wiederholung desselben Rechtsstreits ausgeschlossen wird und Gerichte und Parteien an die Entscheidung gebunden werden (RS0041115). Aus der materiellen Rechtskraft einer Entscheidung folgen Einmaligkeitswirkung und Bindungswirkung (RS0041115 [T1]). Nach der Rechtsprechung entfaltet die Vorentscheidung dann Bindungswirkung, wenn der im Vorverfahren als Hauptfrage entschiedene Anspruch eine Vorfrage für ein weiteres Verfahren zwischen denselben Parteien bildet (RS0039843 [T35]). Eine Bindungswirkung der Vorentscheidung ist nur dann anzunehmen, wenn sowohl die Identität der Parteien als auch des rechtserzeugenden Sachverhalts (verbunden mit notwendig gleicher rechtlicher Qualifikation) gegeben sind, aber an Stelle der inhaltlichen und wörtlichen Identität der Begehren ein im Gesetz gegründeter Sachzusammenhang zwischen beiden Begehren besteht. Ein solcher ist dann anzunehmen, wenn die Entscheidung über den neuen Anspruch vom Inhalt der bereits rechtskräftig entschiedenen Streitsache abhängig ist (Präjudizialität der rechtskräftigen Entscheidung) oder wenn das Begehren das begriffliche Gegenteil des rechtskräftig entschiedenen Anspruchs darstellt (RS0041572). Die materielle Rechtskraft einer Entscheidung erstreckt sich nach der Rechtsprechung auch auf die Entscheidungsgründe und damit die Tatsachenfeststellungen jedenfalls insoweit, als diese zur Individualisierung des Spruchs der Entscheidung notwendig und damit entscheidungswesentlich sind (RS0112731).
[14] 2. Für den Eintritt der Bindungswirkung ist maßgebend, dass die im Vorprozess rechtskräftig entschiedene Hauptfrage eine präjudizielle Vorfrage im zweiten Prozess bildet. Das Ausmaß der Bindungswirkung der materiellen Rechtskraft einer Vorentscheidung für den Folgeprozess wird durch den Urteilsspruch bestimmt; maßgebend ist der Gegenstand der spruchmäßigen Entscheidung (Brenn in Höllwerth/Ziehensack, ZPO2 § 411 Rz 19). Eine rechtskräftig entschiedene Hauptfrage erfordert somit eine spruchmäßige Entscheidung in der Hauptsache. Die Rechtskraft der Vorentscheidung setzt demgemäß einen Spruch in der Hauptsache voraus. In einem solchen Fall sind zur Auslegung und Individualisierung des Urteilsspruchs bzw zur Bestimmung des Umfangs der Rechtskraft auch die Entscheidungsgründe heranzuziehen, weshalb sich die materielle Rechtskraft insoweit auch auf die Tatsachenfeststellungen erstreckt (Brenn in Höllwerth/Ziehensack, ZPO2 § 411 Rz 19). Demgegenüber sind die Entscheidungsgründe für sich allein, also ohne Spruch in der Hauptsache, nicht der Rechtskraft fähig. In diesem Sinn wurde bereits in der vom Berufungsgericht zitierten Entscheidung zu 6 Ob 61/05x ausgesprochen, dass die Begründung einer bloßen Entscheidung im Kostenpunkt (nach Klageeinschränkung auf Kosten wie im vorliegenden Fall) – mangels spruchmäßiger Entscheidung über das Rechtsverhältnis (Brenn in Höllwerth/Ziehensack, ZPO2 § 411 Rz 20) – nicht zur Abgrenzung des dem Vorverfahren zugrunde liegenden maßgebenden Sachverhalts dient, sodass einer solchen Kostenentscheidung keine Bindungswirkung für ein Folgeverfahren zwischen den Parteien zukommt.
[15] Daran ist festzuhalten.
[16] 3. Da im zugrunde liegenden Vorverfahren nur eine Entscheidung im Kostenpunkt getroffen wurde, sind die hier vom Kläger geltend gemachten Ansprüche unabhängig von dieser Entscheidung zu lösen. Das Erstgericht, das in seinem Urteil nur die im Vorverfahren getroffenen Feststellungen wiedergegeben hat, wird daher im fortgesetzten Verfahren eigene Feststellungen zu den vom Kläger zur Begründung seines Anspruchs geltend gemachten Umständen zu treffen und anschließend eine neuerliche Entscheidung zu fällen haben.
[17] 4. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.
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