European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:010OBS00102.24H.0424.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Arbeitsrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 602,54 EUR (darin 100,42 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
[1] Der Kläger war von 1. Juli 2020 bis 21. Dezember 2021 bei der * GmbH in Österreich beschäftigt. Anlässlich der Geburt seiner Zwillinge am 28. September 2021 nahm er im Zeitraum von 4. Oktober 2021 bis 3. November 2021 eine Freistellung nach § 1a VKG in Anspruch. Von 22. Dezember 2021 bis 22. Juni 2022 befand er sich in Karenz. Während der Karenz lebte der Kläger gemeinsam mit seiner Frau und seinen Kindern mit gemeinsamem Lebensmittelpunkt in Polen, wo sie auch gemeldet waren.
[2] Die Frau des Klägers ist im Rahmen einer freiwilligen Versicherung aufgrund des als Landgrundstück gewidmeten Gemüsegartens als Selbständige versichert, sie übt aber keine selbständige (oder unselbständige) Erwerbstätigkeit aus. Sie bezog von den zuständigen polnischen Trägern einmalige Beihilfen aus Anlass der Geburt der beiden Kinder iHv insgesamt 1.000 polnische Zloty (PLN), „Mutterschaftsgeld“ für den Zeitraum von 28. September 2021 bis 26. Dezember 2022 iHv 1.000 PLN monatlich sowie „Erziehungsleistungen“ für den Zeitraum von 28. September 2021 bis 31. Mai 2022 iHv jeweils 500 PLN monatlich.
[3] Der zuständige polnische Träger erklärte sich aufgrund von Anträgen der Ehefrau des Klägers mit vorläufiger Entscheidung vom 29. Dezember 2021 hinsichtlich des Zeitraums von 28. September 2021 bis 27. September 2025 bzw mit späterer Entscheidung für den Zeitraum von 1. Jänner 2022 bis 31. Oktober 2023 für die Gewährung von Familienleistungen vorrangig zuständig.
[4] Mit Bescheid vom 23. November 2023 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Gewährung von pauschalem Kinderbetreuungsgeld als Konto in der Variante 365 Tage für das Kind T* für den Zeitraum von 15. März 2022 bis 14. Juni 2022 ab. Da für den Kläger in diesem Zeitraum keine Erwerbstätigkeit in Österreich und auch keine gleichgestellte Situation vorliege sowie der Wohnort des Kindes in Polen sei, liege kein grenzüberschreitender Sachverhalt vor. Der Antrag sei daher nach den inländischen Rechtsvorschriften zu prüfen und bestehe mangels Lebensmittelpunktes in Österreich kein Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld.
[5] Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger fristgerecht Klage.
[6] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Die Inanspruchnahme einer Freistellung nach § 1a VKG sei als vorübergehende Unterbrechung der zuvor mindestens 182 Kalendertage andauernden Erwerbstätigkeit im Sinne des § 24 Abs 2 KBGG zu qualifizieren. Der Kläger sei somit als erwerbstätig nach § 24 Abs 2 KBGG anzusehen und Österreich nach Art 11 Abs 3 lit a iVm Art 68 Abs 1 lit a VO (EG) 883/2004 als Beschäftigungsstaat vorrangig zuständig.
[7] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge und bestätigte das Urteil mit der Maßgabe, dass das pauschale Kinderbetreuungsgeld ziffernmäßig konkretisiert wurde. Es sei zweifelhaft, ob das Erfordernis einer durchgehenden sechsmonatigen (182 Tage dauernden) Beschäftigung vor einem Gleichstellungstatbestand nicht dem unionsrechtlichen Kern des Beschäftigungsbegriffs nach § 11 Abs 2 VO (EG) 883/2004 widerspreche und folglich wegen des Anwendungsvorrangs der Verordnung hinsichtlich der Festlegung der nationalen Zuständigkeit bei grenzüberschreitenden Sachverhalten unbeachtlich zu bleiben habe. Die Freistellung des Klägers nach § 1a VKG bei gleichzeitigem Bezug des Familienzeitbonus im Zeitraum von 4. Oktober 2021 bis 3. November 2021 gelte jedenfalls als Beschäftigung im Sinne des Art 11 Abs 2 VO (EG) 883/2004 , der Kläger sei damit in kollisionsrechtlicher Hinsicht im genannten Zeitraum – und damit auch im beantragten Bezugszeitraum – als in Österreich erwerbstätig anzusehen.
[8] Die ordentliche Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil zur Frage, ob die Inanspruchnahme einer Freistellung nach § 1a VKG bei Bezug des Familienzeitbonus als der Erwerbstätigkeit gleichgestellte Zeit nach Art 11 Abs 2 VO (EG) 883/2004 gelte, noch keine oberstgerichtliche Rechtsprechung vorliege.
[9] Dagegen richtet sich die Revision der Beklagten mit dem Antrag auf Abänderung der Entscheidung der Vorinstanzen im Sinn einer Klagsabweisung, hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[10] Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[11] Die Revision ist zur Klarstellung zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.
[12] Auf die Frage einer Bindungswirkung der vorrangigen Zuständigkeitserklärung des polnischen Trägers kommt die Revision nicht mehr zurück, eine Anrechnung der polnischen Leistungen wird von der Beklagten nicht behauptet. Zudem ist weder die Höhe des begehrten pauschalen Kinderbetreuungsgeldes strittig, noch das Vorliegen der sonstigen Anspruchsvoraussetzungen.
[13] Die Beklagte meint aber, dass die Karenz des Klägers aufgrund der Unterbrechung der Erwerbstätigkeit im Zeitraum des „Papamonats“ nicht gemäß § 24 Abs 3 KBGG einer Erwerbstätigkeit gleichgestellt werden könne, weshalb keine Zuständigkeit Österreichs vorliege. Es liege für den gegenständlichen Zeitraum ein rein polnischer Sachverhalt vor, die VO (EG) 883/2004 komme nicht zur Anwendung.
[14] 1. Der im streitgegenständlichen Zeitraum in Polen wohnhafte Kläger beansprucht Leistungen aus dem österreichischen System der sozialen Sicherheit, es liegt somit ein den persönlichen Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit eröffnender Sachverhalt vor. Auch der sachliche Geltungsbereich der Verordnung ist eröffnet, weil das österreichische Kinderbetreuungsgeld – sowohl pauschal als auch einkommensabhängig – eine zu koordinierende Familienleistung iSd Art 1 lit z und Art 3 Abs 1 lit j der VO (EG) 883/2004 ist (RS0122905 [T3, T4]).
[15] 2.1. Gemäß Art 1 lit a VO (EG) 883/2004 ist „Beschäftigung“ jede Tätigkeit oder gleichgestellte Situation, die für die Zwecke der Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, als solche gilt.
[16] Nach § 24 Abs 2 KBGG ist unter Erwerbstätigkeit im Sinne dieses Bundesgesetzes die tatsächliche Ausübung einer in Österreich sozialversicherungspflichtigen (kranken- und pensionsversicherungspflichtigen) Erwerbstätigkeit zu verstehen. Als der Ausübung einer sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit gleichgestellt gelten Zeiten der vorübergehenden Unterbrechung dieser zuvor mindestens 182 Kalendertage andauernden Erwerbstätigkeit während eines Beschäftigungsverbots nach dem MSchG oder gleichartigen anderen österreichischen Rechtsvorschriften, sowie Zeiten der vorübergehenden Unterbrechung dieser zuvor mindestens 182 Kalendertage andauernden Erwerbstätigkeit zum Zwecke der Kindererziehung während Inanspruchnahme einer Karenz nach dem MSchG oder VKG oder gleichartigen anderen österreichischen Rechtsvorschriften, bis maximal zum Ablauf des zweiten Lebensjahres eines Kindes.
[17] Der Familienzeitbonus ist jene Leistung, die Vätern während der Freistellung nach § 1a VKG gewährt wird (§ 1 FamZeitbG). § 2 Abs 4 FamZeitbG setzt voraus, dass sich der Vater während der Familienzeit aufgrund der kürzlich erfolgten Geburt seines Kindes ausschließlich seiner Familie widmet und dazu die Erwerbstätigkeit unterbricht, keine andere Erwerbstätigkeit ausübt, keine Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung sowie keine Entgeltfortzahlung aufgrund von oder Leistungen bei Krankheit erhält. Die Bezieher des Familienzeitbonus sind grundsätzlich in der gesetzlichen Krankenversicherung teilversichert (§ 4 Abs 2 FamZeitbG).
[18] Die Inanspruchnahme einer Freistellung anlässlich der Geburt eines Kindes nach § 1a VKG, bei der es sich nicht um eine Karenz nach dem VKG handelt (vgl dazu auch die ErläutA 576/A 26. GP , 5), stellt somit weder eine Erwerbstätigkeit noch eine dieser gleichgestellte Zeit iSd § 24 Abs 2 KBGG dar.
[19] 2.2. Wie der Oberste Gerichtshof bereits mehrfach ausführte, stellt § 24 Abs 2 KBGG auch eine Definition des Begriffs der „Beschäftigung“ iSd Art 1 lit a VO (EG) 883/2004 sowohl für das pauschale als auch für das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld dar (RS0130043). Der Umstand, dass die VO (EG) 883/2004 den Begriff der „Beschäftigung“ durch Verweisung auf das Sozialrecht des Mitgliedstaats definiert, ändert jedoch nichts daran, dass es sich bei diesem Begriff als solchen um einen unionsrechtlichen handelt (RS0130043 [T1]). Für die Anwendung des Beschäftigungsbegriffs des § 24 Abs 2 KBGG im Anwendungsbereich der VO 883/2004 ist zu beachten, dass die Regelung des Art 11 Abs 2 VO 883/2004 einen Kernbereich des unionsrechtlichen Begriffs der „Beschäftigung“ darstellt. Geldleistungen, die unter Art 11 Abs 2 VO zu subsumieren sind, sind demnach unabhängig von der nationalen Systematik als Ausübung einer Beschäftigung zu werten (RS0130043 [T2]).
[20] Art 11 Abs 2 VO 883/2004 bestimmt, dass bei Personen, die aufgrund oder infolge ihrer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit eine Geldleistung beziehen, davon auszugehen ist, dass sie diese Beschäftigung oder Tätigkeit ausüben. Dies gilt nicht für Invaliditäts-, Alters- oder Hinterbliebenenrenten oder für Renten bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten oder für Geldleistungen bei Krankheit, die eine Behandlung von unbegrenzter Dauer abdecken. Art 11 Abs 2 VO 883/2004 soll kurzfristige Zuständigkeitsänderungen bei vorübergehender Einstellung der Erwerbstätigkeit und kurzfristigem Bezug von Geldleistungen der sozialen Sicherheit, wie etwa Krankengeld oder Lohnfortzahlung, verhindern. In derartigen Fällen wird für die Bestimmung der Zuständigkeit davon ausgegangen, dass die Tätigkeit während des Bezugs der Leistung der sozialen Sicherheit weiter ausgeübt wird (10 ObS 103/18x ErwGr 3.1., 10 ObS 36/21y Rz 25). Im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 ist von der Fiktion der (weiteren) Ausübung der Erwerbstätigkeit insbesondere dann auszugehen, wenn ein Beschäftigungsverhältnis lediglich vorübergehend (für die Zeit der Karenz bzw des Bezugs von Kinderbetreuungsgeld) unterbrochen wird, dem Grunde nach aber fortbesteht und dies nach nationalem Recht zu einer Teilversicherung führt (RS0130045).
[21] 2.3. Diese Voraussetzungen sind bei der Freistellung nach § 1a VKG bei gleichzeitigem Bezug des Familienzeitbonus gegeben, stellt diese doch nur eine vorübergehende (und maximal auf ein Monat begrenzte) Unterbrechung der Erwerbstätigkeit dar, wobei das Beschäftigungsverhältnis dem Grunde nach aufrecht bleibt und eine Teilversicherung weiterhin besteht.
[22] Der Familienzeitbonus ist auch eine Leistung bei Vaterschaft gemäß Titel III Kapitel 1 VO 883/2004 (ErläutRV 1110 BlgNR 25. GP 2). Ein Anspruch auf Familienzeitbonus besteht nur, wenn der Vater in den letzten 182 Tagen unmittelbar vor Bezugsbeginn durchgehend eine in Österreich kranken- und pensionsversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit tatsächlich ausgeübt sowie in diesem Zeitraum keine Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung erhalten hat (§ 2 Abs 1 Z 5 FamZeitbG). Somit ist der Familienzeitbonus eine Geldleistung der sozialen Sicherheit infolge einer Beschäftigung. Der Anspruch auf Familienzeitbonus knüpft somit an die unmittelbar vorangegangene Ausübung einer Beschäftigung an. Bezieher des Familienzeitbonus sind zudem grundsätzlich während der Bezugszeit in der gesetzlichen Krankenversicherung teilversichert (§ 4 Abs 2 FamZeitbG).
[23] Die Freistellung nach § 1a VKG mit gleichzeitigem Bezug von Familienzeitbonus nach dem FamZeitbG fällt daher ebenso in den koordinierungsrechtlichen Kernbereich der Erwerbstätigkeit nach Art 11 Abs 2 VO 883/2004 . § 24 Abs 3 KBGG hat insofern unangewendet zu bleiben (vgl 10 ObS 96/17s ErwGr 3. ff, 10 ObS 103/18x ErwGr 3.10.). Eine unionsrechtskonforme Auslegung des § 24 Abs 2 KBGG scheidet aus, weil eine derartige Auslegung ihre Grenzen in dessen eindeutigen Wortlaut (die „tatsächliche Ausübung einer in Österreich sozialversicherungspflichtigen [kranken- und pensionsversicherungspflichtigen] Erwerbstätigkeit“) findet (vgl bereits 10 ObS 117/14z ErwGr II.3.3.5.).
[24] 3. Die von der Revision behauptete Inländerdiskriminierung liegt nicht vor:
[25] Fragen der Zuständigkeit stellen sich in rein innerstaatlichen Fällen nicht. Auf innerstaatlicher Leistungsebene hat die Inanspruchnahme einer Freistellung nach § 1a VKG aber grundsätzlich keine Auswirkungen auf den Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld: Der Anspruch auf pauschales Kinderbetreuungsgeld (Abschnitt 2 KBGG) ist unabhängig von der vorherigen Ausübung einer Erwerbstätigkeit. Einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld (Abschnitt 5 KBGG) setzt zwar eine zuvor 182 Kalendertage durchgehend bestehende Erwerbstätigkeit (bzw dieser gleichgestellte Zeiten) iSd § 24 Abs 2 KBGG voraus, der maßgebliche Zeitraum liegt gemäß § 24 Abs 1 Z 2 KBGG jedoch stets unmittelbar vor der Geburt des Kindes, für das Kinderbetreuungsgeld in Anspruch genommen werden soll. Die Freistellung nach § 1a VKG ist jedoch ein Anspruch, der definitionsgemäß immer an die bereits erfolgte Geburt anschließt. Zeiten dieser Freistellung können damit nicht in den für die Erwerbstätigkeit auf Leistungsebene relevanten Zeitraum fallen.
[26] 4. Österreich ist somit entgegen der Ansicht der Revision als leistungszuständiger Staat anzusehen. Dass die übrigen Voraussetzungen für die Gewährung von pauschalem Kinderbetreuungsgeld vorliegen, wird von der Revision nicht in Zweifel gezogen.
[27] Der Revision kommt somit keine Berechtigung zu.
[28] 5. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 50, 41 ZPO.
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