OGH 12Os19/25y

OGH12Os19/25y2.4.2025

Der Oberste Gerichtshof hat am 2. April 2025 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner‑Foregger als Vorsitzende sowie die Hofräte und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Oshidari, Dr. Haslwanter LL.M., Dr. Sadoghi und Mag. Riffel in Gegenwart des Schriftführers Mag. Vogel in der Strafsache gegen * B* *wegen des Vergehens der grob fahrlässigen Tötung nach § 81 Abs 1 StGB, AZ 12 Hv 10/24y des Landesgerichts Linz, über die von der Generalprokuratur gegen die Urteile dieses Gerichts vom 30. April 2024 und des Oberlandesgerichts Linz vom 17. September 2024, AZ 8 Bs 173/24h, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Dr. Geymayer, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0120OS00019.25Y.0402.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

 

Im Verfahren AZ 12 Hv 10/24y des Landesgerichts Linz verletzen die Urteile dieses Gerichts vom 30. April 2024 sowie des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 17. September 2024 § 81 Abs 1 StGB.

 

Gründe:

[1] Im Verfahren AZ 12 Hv 10/24y des Landesgerichts Linz sprach die Einzelrichterin * B* * mit Urteil vom 30. April 2024 – abweichend von dem wegen § 81 Abs 1 StGB erhobenen Strafantrag (ON 28) – des Vergehens der fahrlässigen Tötung nach § 80 Abs 1 StGB schuldig und verurteilte ihn hiefür zu einer Geldstrafe.

[2] Danach hat er am 4. November 2023 in P* fahrlässig den Tod des * V* herbeigeführt, indem er als Lenker eines Klein‑LKWs (Fahrzeugklasse N1) unter Einhaltung einer überhöhten Geschwindigkeit von zumindest 155 km/h bei Dunkelheit und nasser Fahrbahn im Bereich der Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit auf 100 km/h die A1 Westautobahn Richtung Wien befuhr und dadurch derart massiv mit dem bei Straßenkilometer 176,5 quer über zwei Fahrstreifen stehenden Pkw des V* kollidierte, dass V* aus dem Fahrzeug gegen die Betonleitplanke geschleudert wurde und infolge des dadurch erlittenen Polytraumas in Kombination mit einem erheblichen Blutverlust nach innen und außen verstarb.

[3] Nach den insofern maßgeblichen Feststellungen (US 2 ff) befuhr der Angeklagte in Annäherung an die spätere Unfallstelle den ganz linken Fahrstreifen der Westautobahn A1, weil er zwei Fahrzeuge überholte. Die Fahrbahn war zum Unfallszeitpunkt (um cirka 02:00 Uhr nachts) nass und es war dunkel. Mit Ausnahme der von den drei Fahrzeugen aktivierten Abblendlichter waren keine weiteren die Fahrbahn ausleuchtenden Beleuchtungen vorhanden. Zur gleichen Zeit stellte der nicht angeschnallte V* auf der A1 bei Straßenkilometer 176,5 (im Bereich der späteren Kollisionsstelle) sein Fahrzeug quer zur Fahrbahn auf dem dritten Fahrstreifen ab, sodass seine Fahrzeugfront Richtung Mittelstreifen und die Fahrertür in die Richtung des herannahenden Angeklagten zeigte. Er schaltete die Zündung sowie das Licht aus und blieb so für zumindest 40 Sekunden stehen. Der Angeklagte nahm V* zwar wahr, kollidierte aber dennoch eine Sekunde später mit dessen Fahrzeug ohne Verringerung der Geschwindigkeit. Die Kollisionsgeschwindigkeit betrug daher zumindest 155 km/h. Bei der Verwendung eines durchschnittlichen Abblendlichts wie jenes am Fahrzeug des Angeklagten stellt die Sichtstrecke bei Dunkelheit 50 Meter dar. Bei einer gefahrenen Geschwindigkeit von 155 km/h legt man innerhalb einer Sekunde eine Fahrtstrecke von 50 Metern zurück. Das bedeutet, dass dem Angeklagten ab dem Zeitpunkt, zu dem er bei der gefahrenen Geschwindigkeit den auf der Fahrbahn stehenden V* entdeckte, bis zum Aufprall insgesamt bloß eine Sekunde blieb. Er hatte daher keine Zeit, auf das auf der Straße stehende Hindernis zu reagieren und ein Brems- oder Lenkmanöver einzuleiten. Zudem hätte er auch nicht ausweichen können, weil sich auf der mittleren Fahrspur eines der Fahrzeuge befand, das er gerade überholte. Der Unfall war daher mit der gefahrenen Geschwindigkeit für den Angeklagten nicht vermeidbar. Wenn der Angeklagte mit einer Geschwindigkeit von 100 km/h gefahren wäre, wäre bei einer Reaktionszeit von einer Sekunde eine Kollisionsgeschwindigkeit von 80 bis 85 km/h gegeben gewesen. Diesfalls wäre der Tod des V* ebenfalls nicht auszuschließen gewesen. Bei einer gefahrenen Geschwindigkeit von 70 km/h hätte der Angeklagte rechtzeitig anhalten können oder wäre zumindest nur mit sehr geringer Geschwindigkeit (von etwa 10 km/h) mit dem Fahrzeug des V* kollidiert, sodass dadurch dessen Tod hätte verhindert werden können.

[4] Der Angeklagte ließ die gebotene Sorgfalt außer Acht, zu der er als Lenker eines Kraftfahrzeugs in der konkreten Situation verpflichtet sowie nach seinen geistigen und körperlichen Verhältnissen befähigt und die ihm – „wie jedem durchschnittlichen Autofahrer auch“ – zuzumuten war. Deshalb erkannte der Angeklagte nicht, dass er den angeführten Sachverhalt verwirklichen könnte, wobei er aufgrund seiner geistigen und körperlichen Fähigkeiten voraussehen hätte können, dass sein Verhalten zu einer Tötung eines anderen Verkehrsteilnehmers führen könnte.

[5] In rechtlicher Hinsicht beurteilte das Erstgericht den Sachverhalt als fahrlässige Tötung nach § 80 Abs 1 StGB. Die Qualifikation des § 81 Abs 1 StGB nahm es nicht an, weil es das Einhalten einer überhöhten Geschwindigkeit auf einer Autobahn allein nicht als derart ungewöhnlich und „pflichtwidrig“ erachtete, wie dies für grobe Fahrlässigkeit erforderlich wäre (US 11).

[6] Dagegen richtete sich die Berufung der Staatsanwaltschaft – soweit hier relevant – wegen Nichtigkeit, mit der sie einen Schuldspruch nach § 81 Abs 1 StGB anstrebte (ON 50).

[7] Nach dem Rechtsmittelvorbringen stelle die Geschwindigkeitsüberschreitung von 85 km/h im Vergleich zu „normaler“ objektiver Sorgfaltswidrigkeit eine erhöhte Gefährlichkeit für den Eintritt eines tödlichen Verkehrsunfalls dar. Sie sei daher als auffallende und ungewöhnliche Sorgfaltswidrigkeit und damit als eine grobe Fahrlässigkeit im Sinne des § 81 Abs 1 StGB zu beurteilen.

[8] Das Oberlandesgericht Linz als Berufungsgericht gab dem Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft mit Urteil vom 17. September 2024, AZ 8 Bs 173/24h (= ON 55), nicht Folge:

[9] Im konkreten Fall sei bei der Beurteilung der Fahrlässigkeit darauf abzustellen (US 4 f), dass der Angeklagte bei eklatanter Überschreitung der für ihn in Anschlag zu bringenden Höchstgeschwindigkeit auf einer dreispurigen Autobahn am dritten Fahrstreifen einen Lkw (auf dem rechten Fahrstreifen) und einen Pkw (auf dem mittleren Fahrstreifen) überholt habe und sodann mit dem am linken Fahrstreifen querstehenden und unbeleuchtet abgestellten Fahrzeug des Opfers ungebremst kollidiert sei. Bei Autobahnen handle es sich um Verkehrsflächen, auf denen der Verkehr nur mit Kraftfahrzeugen ab einer gewissen Bauartgeschwindigkeit erlaubt sei und die regelmäßig keine den Verkehrsfluss verlangsamenden Einrichtungen aufweisen würden. Ein Anhalten sei auf diesen Straßen nur in absoluten Notfällen (und dann auch nur abgesichert auf Pannenstreifen) erlaubt. Gerade die dritte Fahrspur diene in der Regel dazu, schnelleren Fahrzeugen eine zusätzliche Überholspur zur Verfügung zu stellen, um den Verkehrsfluss zu verbessern. Zwar dürften Kraftfahrer auch auf Autobahnen und bei Dunkelheit nur so schnell fahren, dass innerhalb einer überschaubaren Strecke rechtzeitig angehalten werden könne und sei auch auf Autobahnen mit unbeleuchteten Hindernissen auf der Fahrbahn zu rechnen, dennoch sei – trotz der massiven Geschwindigkeitsüberschreitung – im konkreten Fall noch nicht von einem derart massiv gesteigerten Handlungsunwert auszugehen, der grobe Fahrlässigkeit im Sinne des § 6 Abs 3 StGB begründe. Es sei nämlich ein am dritten Fahrstreifen einer Autobahn querstehend abgestelltes, unbeleuchtetes Fahrzeug mit einer darin sitzenden, nicht angeschnallten Person „(in geradezu wartender Position)“ nicht mit außergewöhnlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten gewesen. Der Eintritt eines dem gesetzlichen Tatbild entsprechenden Sachverhalts sei daher als nicht gesteigert vorhersehbar anzusehen gewesen.

Rechtliche Beurteilung

[10] Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, steht die rechtliche Verneinung grober Fahrlässigkeit (§ 6 Abs 3 StGB) des Angeklagten und somit der Schuldspruch nach § 80 Abs 1 StGB mit dem Gesetz nicht im Einklang:

[11] Nach § 6 Abs 3 StGB verhält sich grob fahrlässig, wer ungewöhnlich und auffallend sorgfaltswidrig handelt, sodass der Eintritt eines dem gesetzlichen Tatbild entsprechenden Sachverhalts (hier: die Herbeiführung des Todes des V*) als geradezu wahrscheinlich vorhersehbar war. Das Gesetz verknüpft also zwei Elemente miteinander: Zum einen ist ein gesteigertes Maß an Abweichen von der gebotenen Sorgfalt („auffallend und ungewöhnlich sorgfaltswidrig“), zum anderen eine erhöhte Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts gefordert. Letztere muss sich aus dem auffallend und ungewöhnlich sorgfaltswidrigen Verhalten ergeben (arg „sodass“; vgl Hinterhofer/Wirth, Begriff und Bedeutung der groben Fahrlässigkeit nach dem Strafrechtsänderungsgesetz 2015, ÖJZ 2016, 764 [770]; Leukauf/Steininger/Huber, StGB4 § 6 Rz 26; ähnlich Burgstaller/Schütz in WK² StGB § 6 Rz 56 [„an eine ungewöhnliche und auffallende Sorgfaltswidrigkeit gebunden“]; Stricker, StRÄG 2015 – Neuerungen im Allgemeinen Teil des StGB, ÖJZ 2016, 16 [18]; vgl auch RIS‑Justiz RS0117930).

[12] Die Bestimmung des § 20 Abs 1 (und Abs 2) StVO stellt eine Schutznorm dar, die allen Gefahren des Straßenverkehrs vorbeugen soll, die eine überhöhte Geschwindigkeit mit sich bringt. Dazu gehört (unter anderem) auch die Gefahr erschwerter oder nicht rechtzeitiger Reaktionsmöglichkeit auf das Verhalten (auch das Fehlverhalten) anderer Verkehrsteilnehmer (2 Ob 268/06k, 2 Ob 134/89; vgl 2 Ob 152/23a zu straßenverkehrsrechtlichen Schutzpflichten gegenüber einer [willentlich] auf der Fahrbahn liegenden Person). Die Vermeidung ihrer Gefährdung oder Verletzung durch Realisierung dieser Gefahr ist somit vom spezifischen Schutzzweck des § 20 Abs 1 (und Abs 2) StVO erfasst. Auch auf Autobahnen muss die Geschwindigkeit so gewählt werden, dass das Fahrzeug beim Auftauchen eines Hindernisses rechtzeitig angehalten oder das Hindernis zumindest umfahren werden kann (RIS‑Justiz RS0074680, RS0074750 [T9]).

[13] Die bloße Überschreitung der im Straßenverkehr zulässigen Höchstgeschwindigkeit begründet (für sich) zwar in der Regel noch keine grobe Fahrlässigkeit (RIS‑Justiz RS0080484, RS0030417 [T9]; RS0031127 [T4]). Vorliegend trifft den Verurteiltenjedoch der Vorwurf einer besonders ins Gewicht fallenden Überschreitung der zulässigen Fahrgeschwindigkeit, weil er anlässlich seines Überholvorgangs bei Dunkelheit die konkret einzuhaltende (relativ zulässige) Geschwindigkeit von 70 km/h eklatant, nämlich um mehr als 100 % überschritten hat, sodass ihm jede Reaktion auf das am linken Fahrstreifen stehende Fahrzeug des V* unmöglich war und die Kollisionsgeschwindigkeit daher der unverminderten Fahrgeschwindigkeit von 155 km/h entsprach.

[14] Aufgrund dieses Verhaltens war die Herbeiführung des Todes des V* als geradezu wahrscheinlich vorhersehbar (Mellauner/Zuser/Robatsch/Fischer/Soteropoulos,Auswirkungen von Geschwindigkeiten auf Unfallgeschehen und Reisezeiten – Ergebnisse einer Simulationsstudie, ZVR 2021, 437 [442]; Kienapfel/Schroll,BT I5 § 81 Rz 20 ff), sodass grobe Fahrlässigkeit (rechtlich) zu bejahen gewesen wäre (vgl 7 Ob 121/03z [Geschwindigkeit von 140 km/h statt 80 km/h auf der Südautobahn im Wechselabschnitt in einer langgezogenen Linkskurve]; 2 Ob 154/06w [eklatante Geschwindigkeitsüberschreitung auf einer notorisch gefährlichen Strecke]; 9 ObA 24/07f [Geschwindigkeit von 135 km/h auf einer regennassen Freilandstraße]; OLG Wien 20 Bs 19/97 ZVR 1998/52 [Durchfahren einer Rechtskurve mit der doppelten als der höchstzulässigen Geschwindigkeit]).

[15] Soweit sich das Oberlandesgericht unter dem Aspekt grober Fahrlässigkeit (§ 6 Abs 3 StGB) mit der Frage auseinandersetzt, ob das vom Opfer gezeigte (konkrete) Fehlverhalten „mit außergewöhnlich hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten“ war (US 5), spricht es der Sache nach den Risikozusammenhang und somit die Zurechnung des Todes des V* an (Hinterhofer/Wirth, ÖJZ 2016, 770; vgl im Speziellen zu Straßenverkehrsnormen Burgstaller/Schütz in WK² StGB § 80 Rz 86). Dazu sei lediglich der Vollständigkeit halber festgehalten, dass die Verhinderung einer Kollision mit einem sich 40 Sekunden lang bis zum Zusammenstoß auf dem Fahrstreifen befindlichen, unbeleuchteten Hindernis innerhalb des Schutzzwecks des § 20 Abs 1 (und Abs 2) StVO liegt (vgl erneut 2 Ob 268/06k, 2 Ob 134/89; anders etwa der Fall einer innerhalb des Anhaltewegs auf die „Fahrspur“ tretenden Person [2 Ob 276/76] oder eines plötzlich in die Gegenfahrbahn eindringenden Fahrzeugs [2 Ob 148/08s]; vgl dazu allgemein RIS‑Justiz RS0027564).

[16] Da sich die unrichtige rechtliche Verneinung grober Fahrlässigkeit (§ 6 Abs 3 StGB) zum Vorteil des Verurteilten ausgewirkt hat, blieb die Feststellung der Gesetzesverletzung ohne konkrete Wirkung.

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