OGH 2Ob15/25g

OGH2Ob15/25g25.3.2025

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Musger als Vorsitzenden sowie die Hofräte MMag. Sloboda, Dr. Thunhart und Dr. Kikinger und die Hofrätin Mag. Fitz als weitere Richterin und Richter in der Rechtssache der klagenden Partei D*, vertreten durch Mag. Daniel Wolff, Rechtsanwalt in Bregenz, gegen die beklagten Parteien 1. M*, und 2. H*, beide vertreten durch Doshi Akman & Partner Rechtsanwälte OG in Feldkirch, wegen restlich 51.780 EUR sA und Feststellung, über die Revision der beklagten Parteien (Revisionsinteresse: 5.179,42 EUR sA) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 28. November 2024, GZ 1 R 134/24a‑80, womit in Folge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Feldkirch vom 2. Juli 2024, GZ 9 Cg 36/23p‑68, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0020OB00015.25G.0325.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Schadenersatz nach Verkehrsunfall

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass es unter Einschluss der bereits in Rechtskraft erwachsenen Teile als Endurteil insgesamt zu lauten hat:

„1. Die Klagsforderung besteht mit weiteren EUR 21.227,08 zu Recht.

2. Die Gegenforderung besteht nicht zu Recht.

3. Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen zusätzlich zum mit Teilanerkenntnisurteil vom 30. 8. 2023 zugesprochenen Betrag von EUR 4.290 samt Zinsen weitere EUR 21.227,08 samt 4 % Zinsen seit 30. 3. 2023 zu zahlen sowie EUR 4.680,80 an Barauslagen des erstinstanzlichen Verfahrens zu ersetzen.

4. Das Zahlungsmehrbegehren von EUR 30.552,92 samt 4 % Zinsen seit 30. 3. 2023 wird abgewiesen.

5. Es wird festgestellt, dass die beklagten Parteien der klagenden Partei für sämtliche Spät‑ und Dauerfolgen aufgrund des Unfalls vom 20. 2. 2023 auf dem Radweg * im Ausmaß von vier Fünfteln haften, wobei die Haftung der zweitbeklagten Partei mit der Versicherungssumme laut Haftpflichtversicherungsvertrag zum Unfallszeitpunkt lautend auf das Fahrzeug mit dem amtlichen Kennzeichen * begrenzt ist.

6. Das Feststellungsmehrbegehren wird abgewiesen.“

Die beklagten Parteien sind schuldig, der klagenden Partei die mit 2.286,26 EUR bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens (darin enthalten 578,46 EUR Barauslagen und 284,63 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Am 20. Februar 2023 kam es im Bereich eines Geh‑ und Radwegs auf Höhe der Zufahrt zu einer Tankstelle zur Kollision zwischen dem Kläger auf seinem E‑Bike mit einer Bauartgeschwindigkeit von 25 km/h und dem vom Erstbeklagten gelenkten und bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten PKW. Der Kläger war ohne Fahrradhelm auf dem Geh‑ und Radweg mit einer Geschwindigkeit von 20 bis 25 km/h zu einem Arzttermin unterwegs. Der Erstbeklagte benützte unter Missachtung des Verbotszeichens nach § 52 Z 2 StVO („Einfahrt verboten“) die Zufahrt zur Tankstelle als Ausfahrt, hielt an der vor dem Geh- und Radweg angebrachten Haltelinie an und fuhr ganz langsam los. Er blickte dabei vor dem Anfahren zwar in die Annäherungsrichtung des Klägers, seine Sicht war wegen einer Hecke jedoch stark eingeschränkt.

[2] Der Kläger erlitt schwere Verletzungen vor allem im Kopf‑ und Gesichtsbereich. Durch das Tragen eines Helms wären die Schmerzen des Klägers um ein Fünftel geringer ausgefallen. Die angemessenen Kosten zur Behebung der vom Kläger unfallkausal an den Zähnen erlittenen Schäden betragen 10.897,08 EUR. Weiters erlitt er einen Sachschaden von 150 EUR und hatte einen unfallkausalen Aufwand von 70 EUR.

[3] Darüber hinaus traf das Erstgericht folgende Feststellungen, die von der in der Berufung des Klägers enthaltenen und vom Berufungsgericht mangels rechtlicher Relevanz nicht erledigten Mängelrüge betroffen sind:

[4] 62 % der Erwachsenen tragen beim E‑Bike‑Fahren einen Helm. Bei Rennradfahrern sind es 74 %, bei „normalen“ Radfahrern 33 %. In Vorarlberg trugen im Jahr 2023 nur 40 % der Erwachsenen beim E‑Bike‑Fahren einen Helm.

[5] Der Kläger begehrte – nach Ergehen eines Teilanerkenntnisurteils über Schmerzengeld in Höhe von 4.290 EUR sA – die Zahlung von 51.780 EUR sA an Schadenersatz und die Feststellung der Haftung der Beklagten für Spät‑ und Dauerfolgen. Neben Schmerzengeld begehrt er den Ersatz der unfallkausalen Zahnbehandlungskosten, des Zeitwerts des Fahrrads und von pauschalen Unkosten. Da er nicht „sportlich ambitioniert“ unterwegs gewesen sei und sich noch kein allgemeines Bewusstsein „normaler“ Fahrradfahrer zum Tragen eines Helms gebildet habe, treffe ihn in Ermangelung einer gesetzlichen Helmpflicht für Erwachsene kein Mitverschulden wegen des Nichttragens eines Fahrradhelms. Rein hypothetische Statistiken könnten kein Mitverschulden begründen.

[6] Die Beklagten anerkannten ein Schmerzengeldbegehren von 4.290 EUR sA. Im Übrigen – und soweit für das Revisionsverfahren noch von Relevanz – wandten sie ein, dass den Kläger wegen Nichttragens eines Fahrradhelms auf dem E‑Bike ein Mitverschulden treffe. Das deutlich höhere Beschleunigungspotenzial von E‑Bikes stelle eine erhöhte Gefahr dar. Die Helmtragequote unter E‑Bike‑Fahrern betrage bereits 57 % bzw 90 %.

[7] Das Erstgericht erließ ein Teilanerkenntnisurteil über 4.920 EUR und gab mit Endurteil dem Zahlungsbegehren unbekämpft mit weiteren 15.701,66 EUR sA statt. Auch die Entscheidung über das Feststellungsbegehren, dem es zu vier Fünfteln stattgab und das es (erkennbar) im Umfang eines Fünftels abwies, erwuchs in Rechtskraft. Das Erstgericht ging vom Alleinverschulden des Erstbeklagten am Zustandekommen des Unfalls aus. Allerdings sei dem Kläger ein Mitverschulden von 20 % wegen Nichttragens des Fahrradhelms anzulasten. Er sei mit überdurchschnittlicher Radfahrgeschwindigkeit unterwegs gewesen. Nach den Feststellungen bestehe unter E‑Bike‑Fahrern mittlerweile ein allgemeines Bewusstsein zum Tragen eines Helms. Auf dieser Grundlage kürzte das Erstgericht alle Ansprüche des Klägers um die angenommene Mitverschuldensquote und sprach auch aus, dass eine – im Revisionsverfahren nicht mehr relevante – Gegenforderung in diesem Umfang zu Recht bestehe.

[8] Das nur vom Kläger gegen die Abweisung eines Zahlungsbegehrens von 6.125,42 EUR sA angerufene Berufungsgericht gab der Berufung Folge und ließ die ordentliche Revision zu. Es sprach dem Kläger Schadenersatz in Höhe von 21.827,08 EUR sA zu, wobei es ausgehend vom alleinigen Auslösungsverschulden des Erstbeklagten die von den Beklagten eingewendete Gegenforderung als nicht zu Recht bestehend erkannte. Ein Mitverschulden des Klägers wegen des Nichttragens eines Helms sei zu verneinen. Der Kläger sei wegen der von ihm gewählten Geschwindigkeit und seiner Fahrweise nicht als sportlich ambitioniert einzuschätzen. Er sei zudem auf einem Geh‑ und Radweg unterwegs gewesen. Ein E‑Bike sei im Hinblick auf die konkret zu beurteilende Situation nicht anders zu bewerten als ein „normales“ Fahrrad. Ein allgemeines Bewusstsein von der Wichtigkeit des Tragens eines Fahrradhelms lasse sich aus den vom Erstgericht getroffenen Feststellungen, die von der Mängelrüge tangiert seien, nicht ableiten. Eine Behandlung der Mängelrüge könne daher unterbleiben.

[9] Die ordentliche Revision sei zur Klärung der Frage des Mitverschuldens eines E‑Bike‑Fahrers aufgrund des Nichttragens eines Helms zulässig.

[10] Gegen die Stattgebung eines Zahlungsbegehrens von 5.179,42 EUR sA wendet sich die Revision der Beklagten mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn der Abweisung des Klagebegehrens im bekämpften Umfang. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[11] Der Kläger beantragt, die Revision mangels erheblicher Rechtsfrage zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.

[12] Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig und teilweise berechtigt.

[13] Die Beklagten argumentieren, dass zum Zeitpunkt des Unfalls bereits ein allgemein verankertes Bewusstsein für die Wichtigkeit des Tragens eines Helms bei der Nutzung eines E‑Bikes bestanden habe. Die vom Erstgericht festgestellte Quote von 62 % sei zur Annahme eines solchen Bewusstseins ausreichend. E‑Bikes wiesen wegen der höheren Geschwindigkeit und der schnellen Beschleunigung eine erhöhte Gefährlichkeit auf. Die vom Erstgericht vorgenommene Mitverschuldensquote von einem Fünftel erscheine sachgerecht. Es seien das gesamte Schmerzengeld und die Kosten der Zahnbehandlung um diese Quote zu kürzen.

Dazu hat der Fachsenat erwogen:

Rechtliche Beurteilung

[14] 1. Unstrittig ist im Revisionsverfahren, dass den Erstbeklagten das Alleinverschulden am Unfall trifft. Ebenso unstrittig ist die Höhe des angemessenen Schmerzengelds mit (ungekürzt) 15.000 EUR. Unstrittig ist auch die Höhe der zu Recht bestehenden weiteren Positionen des Zahlungsbegehrens. Den einzigen Streitpunkt im Revisionsverfahren bildet die Frage, ob den Kläger wegen Nichttragens eines Fahrradhelms ein „Helmmitverschulden“ trifft und welche Folgen die Annahme eines solchen Mitverschuldens gegebenenfalls hat.

[15] 2. Das Mitverschulden im Sinn des § 1304 ABGB setzt kein Verschulden im technischen Sinne voraus. Auch Rechtswidrigkeit des Verhaltens ist nicht erforderlich. Es genügt vielmehr eine Sorglosigkeit gegenüber den eigenen Gütern, worunter auch die Gesundheit fällt (RS0022681). Eine gesetzliche Verpflichtung zum Tragen eines Fahrradhelms besteht seit dem Jahr 2011 für Kinder unter 12 Jahren. Für Erwachsene gibt es (nach wie vor) keine gesetzliche Verpflichtung zum Tragen eines Fahrradhelms.

[16] 2.1. Der Fachsenat hat zum Mitverschulden wegen des unterbliebenen Tragens eines Fahrradhelms in folgenden Entscheidungen Stellung genommen:

[17] 2.1.1. In der Entscheidung 2 Ob 135/04y sprach der Senat zu einem Unfall im Jahr 2000 aus, dass dem Kläger in Ermangelung einer gesetzlichen Verpflichtung nur dann eine Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten vorzuwerfen wäre, wenn er Schutzmaßnahmen unterlassen hätte, die nach dem allgemeinen Bewusstsein der beteiligten Kreise von jedem Einsichtigen und Vernünftigen anzuwenden gewesen wären (vgl RS0026828). Es sei – unter Hinweis auf einen in ZVR 1997, 173 publizierten Artikel, in dem eine „geringe Helmtragequote“ ermittelt worden sei – „nicht hervorgekommen“, dass sich bereits ein solches allgemeines Bewusstsein gebildet habe.

[18] 2.1.2. Im (ganz kurzen) Zurückweisungsbeschluss zu 2 Ob 42/12h, der einen Unfall im Jahr 2006 betraf, erachtete der Senat die Verneinung eines Helmmitverschuldens durch das Berufungsgericht als vertretbar und wies auf einen in einer juristischen Fachzeitschrift publizierten Artikel über die (geringe) „Tragquote“ der Österreicher hin.

[19] 2.1.3. In der Entscheidung 2 Ob 99/14v bejahte der Senat im Zusammenhang mit dem Unfall eines sportlich ambitionierten Radfahrers im Jahr 2008 nach umfassender Darstellung deutscher Rechtsprechung ein allgemeines Bewusstsein der beteiligten Kreise in Österreich, wonach Einsichtige und Vernünftige wegen der erhöhten Eigengefährdung beim sportlich ambitionierten Radfahren einen Radhelm tragen. Er wies dabei auf in juristischen Fachzeitschriften publizierte Artikel und eine Umfrage des Kuratoriums für Verkehrssicherheit (KfV) hin, wonach über 90 % der Befragten das Tragen eines Helms bei Radsportlern als wichtig erkannt hätten.

[20] 2.1.4. Zuletzt verneinte der Senat in der Entscheidung 2 Ob 8/20w zu einem Unfall auf einem Geh- und Radweg im Jahr 2017 mit einer Geschwindigkeit von 15 bis 20 km/h ein Helmmitverschulden eines „normalen“ Radfahrers. Er wies dabei auf eine in einer juristischen Fachzeitschrift veröffentlichte Studie des ÖAMTC hin, wonach die Tragequote nur bei etwa 25 bis 30 % liege.

[21] 2.2. Der Senat bejahte aus folgenden Erwägungen eine zur Anwendung des § 1304 ABGB führende Obliegenheit zum Tragen von Motorradschutzbekleidung trotz fehlender gesetzlicher Verpflichtung:

[22] 2.2.1. In der Entscheidung 2 Ob 119/15m war ein Verkehrsunfall im Freilandgebiet im Jahr 2013 zu beurteilen. Der Senat bejahte es bei lebensnaher Einschätzung, dass ein einsichtiger und vernünftiger Motorradfahrer wegen der erhöhten Eigengefährdung auch bei einer nur kurzen Überlandfahrt entsprechende Motorradschutzkleidung trägt. Er wies darauf hin, dass nach einer Onlinebefragung des KfV nur knapp 18 % der Motorradlenker keine Form einer Schutzbekleidung tragen würden.

[23] 2.2.2. In der Entscheidung 2 Ob 144/17k weitete der Senat die Obliegenheit zum Tragen von Schutzbekleidung auch auf Fahrten im Ortsgebiet aus, weil die mit Motorrädern erreichbare starke Beschleunigung gerade im urbanen Gebiet ein besonderes Risiko darstelle und im Ortsgebiet tendenziell ein dichteres und größeres Verkehrsaufkommen herrsche. Er verwies erneut auf die bereits in der Entscheidung 2 Ob 119/15m erwähnte Onlinebefragung des KfV.

[24] 2.3. In anderen Zusammenhängen verneinte der Senat, dass sich ein ausreichendes Bewusstsein der beteiligten Verkehrskreise gebildet habe.

[25] 2.3.1. In der Entscheidung 2 Ob 52/21t war ein Unfall einer Fahrschülerin, die eine Motorradjacke, feste Schuhe und einen Helm, aber keine Motorradhose mit Protektoren trug, bei der Prüfung für den Führerschein der Klasse A2 zu beurteilen. Der Senat verneinte, dass sich bei Fahrschulen und Fahrschülern bereits ein ausreichendes Bewusstsein gebildet hätte, dass jeder einsichtige und vernünftige Fahrschüler bei Übungen im verkehrsfreien Raum vollständige Motorradschutzbekleidung tragen sollte.

[26] 2.3.2. In der Entscheidung 2 Ob 98/21g war ein Unfall eines nach einem Verkehrsunfall in einem elektrisch unterstützten Rollstuhl sitzenden Geschädigten zu beurteilen, bei dem der Verletzte den Rückhalte- bzw Beckengurt nicht angelegt hatte. Der Senat verwies darauf, dass weder feststehe noch offenkundig sei, dass sich unter Rollstuhlfahrern ein allgemeines Bewusstsein über die Verwendung solcher Gurte herausgebildet habe.

[27] 3. Grundsätzlich handelt es sich bei der Frage, ob sich in den beteiligten Kreisen ein allgemeines Bewusstsein herausgebildet hat, dass eine bestimmte Schutzmaßnahme – hier das Tragen eines Fahrradhelms beim E‑Bike‑Fahren – von jedem Einsichtigen und Vernünftigen anzuwenden gewesen wäre, um eine Tatfrage (8 Ob 106/15v Punkt 4.2.). Allerdings kann in diesem Zusammenhang auf die Rechtsprechung des lauterkeitsrechtlichen Fachsenats verwiesen werden, wonach Beweisaufnahmen zur Frage der Anschauung der angesprochenen Verkehrskreise nicht erforderlich sind, wenn die allgemeine Lebenserfahrung zur Beurteilung ausreicht, wobei es nicht einmal erforderlich ist, dass der Richter oder die Richterin selbst den Verkehrskreisen angehört. Bei Ausreichen der Erfahrungen des täglichen Lebens liegt damit im Ergebnis eine Rechtsfrage vor (ausführlich 17 Ob 27/11m Punkt 1.2.; zuletzt 4 Ob 152/23s Rz 18 mwN).

[28] Diese Überlegungen lassen sich auf den vorliegenden Fall übertragen, weil sich die Frage, ob sich in den beteiligten Kreisen ein allgemeines Bewusstsein herausgebildet hat, dass jeder Einsichtige und Vernünftige beim E-Bike-Fahren einen Fahrradhelm tragen würde, nach der allgemeinen Lebenserfahrung beantworten lässt. Es bedarf daher weder einer Beweisaufnahme noch Feststellungen zu dieser Frage (in diese Richtung argumentieren erkennbar auch Karner, EAnm zu 2 Ob 99/14v, ZVR 2014/218, 395 [396] und Jahn, EAnm zu 2 Ob 98/21g, ZVR 2022/143, 311 [312]; aA offenbar Fluch/Druml, Mitverschulden wegen [fehlender] Motorradschutzkleidung, Zak 2019/558, 304 [305]), sodass die Nichtbehandlung der Mängelrüge durch das Berufungsgericht einer Sacherledigung nicht entgegen steht.

[29] 4. Beim E‑Bike‑Fahren ist eine Obliegenheit zum Tragen eines Helms zu bejahen.

[30] 4.1. Der Senat hat bereits darauf hingewiesen, dass es nicht argumentierbar ist, dem Einzelnen immer strengere Sorgfaltspflichten gegenüber anderen aufzuerlegen, dagegen aber die Obliegenheit, Sorgfalt gegenüber seinen eigenen Gütern anzuwenden, zunehmend abzubauen. Es geht dabei nicht darum, dem Einzelnen Freiheiten zu nehmen, sondern um die Abwägung der Frage, wie das damit eingegangene Risiko zu verteilen ist und inwieweit es von demjenigen, der sich für das Eingehen eines erhöhten Verletzungsrisikos entschieden hat, auf seinen Schädiger abgewälzt werden kann (2 Ob 52/21t Rz 38 mwN).

[31] Der Vorwurf der Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten ist nach dem Sorgfaltsmaßstab des § 1297 ABGB (allenfalls des § 1299 ABGB) zu beantworten (RS0026828 [T2]), wobei es darauf ankommt, ob der Geschädigte jene Sorgfalt außer Acht gelassen hat, die ein ordentlicher und verständiger Mensch (der maßstabgerechte Durchschnittsmensch) in der konkreten Lage zur Vermeidung des Schadens anzuwenden pflegt (7 Ob 56/87; auf diesen Maßstab hinweisend auch Schwaighofer, Rad‑ und Schihelme: Das allgemeine Bewusstsein verkehrsbeteiligter Kreise als bewegliches System, VbR 2018/118, 223 [226]).

[32] 4.2. Auch „schwache“ E-Bikes (also solche mit einer – wie hier – Bauartgeschwindigkeit von höchstens 25 km/h [§ 1 Abs 2a KFG]) weisen gegenüber konventionellen Fahrrädern bauliche Abweichungen auf, was die Annahme eines angepassten und damit im Vergleich zum herkömmlichen Fahrrad graduell höheren Sorgfaltsmaßstabs im Sinn vorausschauender Fahrweise, frühzeitigen Bremsverhaltens wegen der Motorkraftverstärkung und einer erhöhten Vorsicht bei Berg‑ und Kurvenabfahrten aufgrund des höheren Fahrradgewichts rechtfertigt (Fluch/Druml, Der Unfall mit dem E‑Bike – Praxisfragen, Zak 2018/547, 288 [289]). Es tritt damit beim E‑Bike‑Fahren ein im Vergleich zum konventionellen Radfahren besonderes Gefahrenmoment hinzu (vgl Karner, ZVR 2014/218, 395 [396]). Folgerichtig fällt die Helmtragequote bei E‑Bike‑Fahrern auch wesentlich höher aus als unter anderen Radfahrenden (Aigner‑Breuss/Mayer/Breuss/Robatsch, Herausforderung E‑Bike? ZVR 2023/163, 378 [380]). Überdies zeigt die Lebenserfahrung, dass in der Bevölkerung die Wichtigkeit und Bedeutung des Helmtragens beim E‑Bike‑Fahren schon im Hinblick auf die gesteigerte Unfallhäufigkeit (Aigner‑Breuss/ Mayer/Breuss/Robatsch, ZVR 2023/163, 378 [379 f]) allgemein verankert ist. Insgesamt ist damit eine Obliegenheit zum Helmtragen für E‑Bike‑Fahrende zu bejahen (idS auch Vogl, Helmobliegenheiten im Sommersport – eine Rundschau, ZVR 2017/125, 249 [250]). Das galt auch schon im Zeitpunkt des hier strittigen Unfalls (Februar 2023).

4.3. Als Zwischenergebnis folgt:

[33] Jedenfalls ab dem Jahr 2023 ist das Nichttragen eines Fahrradhelms beim E‑Bike‑Fahren als Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten iSd § 1304 ABGB zu werten.

[34] 5. Die gebotene Kürzung um das Helmmitverschulden wirkt sich nur auf Schmerzengeldansprüche aus.

[35] 5.1. Nach – in der Revision nicht erwähnter – gefestigter Rechtsprechung des Senats sind in einem ersten Schritt alle Anspruchspositionen um das Auslösungsmitverschulden zu kürzen. In einem zweiten Schritt ist in analoger Anwendung der Bestimmung des § 106 Abs (2 und) 7 KFG, die bei Verstößen gegen die Verpflichtung zur Verwendung eines Sturzhelms (bzw eines Sicherheitsgurts) eine Auswirkung der Pflichtverletzung nur auf Schmerzengeldansprüche anordnet („soweit“), (nur) der verbleibende Schmerzengeldanspruch noch einmal um das Helmmitverschulden zu kürzen. Diese weitere Kürzung kommt zudem nur bei jenen Verletzungen in Betracht, die bei Tragen des Helms vermieden worden wären. Wären die Verletzungsfolgen geringer ausgefallen, so sind einander die konkreten und die hypothetischen Unfallfolgen gegenüber zu stellen; die (weitere) Kürzung betrifft nur den Differenzbetrag. Der Anspruch des Geschädigten errechnet sich sodann aus der Summe des gekürzten Schmerzengeldes für die vermeidbaren Folgen und des fiktiven Schmerzengeldes für die unvermeidbaren Folgen des Unfalls (2 Ob 99/14v Punkt 3.).

[36] 5.2. Im konkreten Fall ist keine Kürzung um ein Auslösungsmitverschulden des Klägers vorzunehmen, weil den Erstbeklagten das Alleinverschulden am Zustandekommen des Unfalls trifft. Da der Kläger bei Tragen eines Helms um ein Fünftel weniger Schmerzen erlitten hätte, unterliegt im Anlassfall nur ein Betrag von 3.000 EUR (= ein Fünftel des aufgrund der konkreten Unfallfolgen angemessenen Schmerzengeldes) der Kürzung um das Helmmitverschulden, das die Beklagten in ihrer Revision mit einem Fünftel als sachgerecht ansehen. Es hat daher eine Kürzung des Schmerzengeldes um 600 EUR zu erfolgen. Die weiteren Ersatzansprüche bleiben von der zusätzlichen Kürzung infolge des Helmmitverschuldens unberührt (2 Ob 99/14v Punkt 3.6.).

[37] 6. Die Revision der Beklagten hat daher nur im Umfang von 600 EUR sA Erfolg.

[38] 7. Die Entscheidung über die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens beruht auf § 43 Abs 1 iVm § 43 Abs 2 2. Fall ZPO. Dem Kläger kommt das Kostenprivileg des § 43 Abs 2 2. Fall ZPO nur in Bezug auf die von ihm vor Klagseinbringung eingeschätzten und letztlich vom Sachverständigen ausgemittelten Kosten der unfallkausalen Zahnbehandlung zu Gute. Ausgehend davon ergibt sich in beiden Verfahrensabschnitten vor und nach Fällung des Teilanerkenntnisurteils ein zur Kostenaufhebung im Hinblick auf die Verfahrenskosten führendes Obsiegen rund zur Hälfte. Die Beklagten haben dem Kläger die Hälfte der nur von ihm getragenen Barauslagen zu ersetzen.

[39] Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens beruht auf § 43 Abs 1 iVm § 43 Abs 2 1. Fall und § 50 ZPO. Im Berufungsverfahren obsiegte der Kläger zu rund 90 %, sodass er Anspruch auf vollen Kostenersatz auf Basis des obsiegten Betrags hat, wobei kein Tarifsprung zu berücksichtigen war. Im Revisionsverfahren obsiegten die Beklagten zu rund 12 %, sodass sie 12 % der Pauschalgebühr ersetzt bekommen, dem Kläger aber 76 % der Kosten der Revisionsbeantwortung ersetzen müssen. Saldiert ergibt sich der aus dem Spruch ersichtliche Kostenersatzbetrag.

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