OGH 10ObS6/25t

OGH10ObS6/25t18.3.2025

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Schober und Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Markus Schrottmeyer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und FI Veronika Bogojevic (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei S*, vertreten durch Mag. Maximilian Kocher, Rechtsanwalt in Brunn am Gebirge, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Invaliditätspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. November 2024, GZ 7 Rs 105/24 y‑15, mit dem das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 17. April 2024, GZ 14 Cgs 31/24m‑01, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:010OBS00006.25T.0318.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiete: Sozialrecht, Zivilverfahrensrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben und die Rechtssache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung über die Berufung der klagenden Partei an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Der * 1966 geborene Kläger war in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag überwiegend als Reinigungskraft tätig und erwarb bis 1. März 2024 insgesamt 308 Versicherungsmonate, davon 226 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit.

[2] Ungeachtet seiner Leidenszustände ist der Kläger seit Antragstellung weiterhin in der Lage, leichte und mittelschwere körperliche Arbeiten im Sitzen, Stehen und Gehen zu den üblichen Arbeitszeiten mit den üblichen Pausen auszuüben. Arbeiten in gebückter vorgeneigter Haltung sind lediglich drittelzeitig diskontinuierlich möglich, allerdings nur maximal fünf Minuten ununterbrochen. Arbeiten im Freien, bei Nässe, bei Hitze, an höhenexponierten Stellen, das Besteigen einer Zimmerleiter, Bildschirmarbeiten, Tastaturarbeiten und Lenken eines Fahrzeugs sind möglich. Der Weg zur Arbeit ist nicht eingeschränkt.

[3] Mit diesem medizinischen Leistungskalkül ist der Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in der Lage, beispielsweise als Tagportier tätig zu werden. Es handelt sich um Arbeiten, bei denen das medizinische Leistungskalkül des Klägers nicht überschritten wird und bei denen 10 % überdurchschnittlicher Zeitdruck anfällt. Solche Tätigkeiten kommen in Österreich in ausreichender Zahl vor (mehr als 100 Arbeitsstellen österreichweit).

[4] Mit Bescheid vom 18. Dezember 2023 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Klägers vom 24. August 2023 auf Invaliditätspension ab und sprach aus, dass vorübergehende Invalidität im Ausmaß von mindestens sechs Monaten ebenfalls nicht vorliege und kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung sowie auf medizinische oder berufliche Maßnahmen der Rehabilitation bestehe.

[5] Der (im Verfahren erster Instanz unvertretene) Kläger begehrte die Zuerkennung einer Invaliditätspension ab Antragstellung unter Hinweis auf seine körperliche Verfassung.

[6] Die Beklagte bestritt das Klagebegehren. Der Kläger sei infolge seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht außer Stande, durch eine Tätigkeit, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch bewertet werde und die ihm unter billiger Berücksichtigung der von ihm ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden könne, wenigstens die Hälfte des Entgelts zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflege.

[7] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der Kläger sei unter Berücksichtigung seiner Restarbeitsfähigkeit noch in der Lage, am Arbeitsmarkt ausreichend vorhandene Verweisungstätigkeiten wie etwa im Aufsichtsbereich auszuüben. Weil auch vorübergehend keine Invalidität bestehe oder drohe, komme auch kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld oder berufliche oder medizinische Rehabilitation in Betracht.

[8] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es verneinte die geltend gemachten Verfahrensmängel erster Instanz. Der Rechtsrüge in der Berufung, dass mangels Feststellungen zu den voraussichtlichen Krankenständen des Klägers eine abschließende Beurteilung der Invalidität nicht möglich sei, hielt es entgegen, dass das Beweisverfahren zu erwartende leidensbedingte Krankenstände von jährlich sieben Wochen und darüber nicht ergeben hätte, weil sich aus dem vom Erstgericht eingeholten medizinischen Gutachten eine solche Prognose nicht ableiten lasse. Im Gegenteil habe der Sachverständige ausgeführt, dass Krankenstände bei Kalkülseinhaltung nicht prognostizierbar seien, was sich aufgrund der auch im Sozialrechtsverfahren bestehenden objektiven Beweislast für rechtserzeugende Umstände zu Lasten des Klägers auswirke.

[9] Die ordentliche Revision ließ das Berufungsgericht nicht zu.

[10] In der außerordentlichen Revision beantragt der Kläger die Abänderung der Entscheidungen der Vorinstanzen im Sinn einer Stattgabe des Klagebegehrens; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[11] Die Beklagte hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

[12] Die Revision ist zulässig und im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.

[13] 1. Der Kläger macht in der Revision geltend, dass ein Teil der in der Berufung enthaltenen Verfahrensrüge nicht behandelt worden sei. Darin habe er bemängelt, dass seine Einvernahme unterblieben sei, die aber zweckdienlich und geboten gewesen sei, weil er – mangels Befragung durch den Sachverständigen dazu – nicht in der Lage gewesen sei, seine Leidenszustände bei seiner Befragung dem untersuchenden Sachverständigen vollständig und umfassend darzulegen.

[14] 1.1. Angebliche Mängel des Verfahrens erster Instanz, die vom Berufungsgericht nicht als solche anerkannt worden sind, bilden nach ständiger Rechtsprechung – auch in Sozialrechtssachen (RS0043061) – keinen Revisionsgrund (RS0042963). Nur wenn das Berufungsgericht infolge unrichtiger Anwendung verfahrensrechtlicher Vorschriften eine Erledigung der Mängelrüge unterlassen oder sie mit einer durch die Aktenlage nicht gedeckten Begründung verworfen hat, liegt ein Mangel des Berufungsverfahrens selbst vor (RS0040597 [T4]; RS0043086 [T5]).

[15] 1.2. Das Berufungsgericht verneinte die vom Kläger geltend gemachte Mangelhaftigkeit ausdrücklich (Punkt 1.8. des Berufungsurteils). Aus der Gliederung der Entscheidungsbegründung (die der Gliederung der Berufung folgt) und dem Inhalt der Ausführungen des Berufungsgerichts ist zu erkennen, dass es den vom Kläger als nicht behandelt behaupteten Teil der Verfahrensrüge der Berufung in den Punkten 1.4. und 1.5. der Entscheidungsbegründung adressieren wollte. Unter Punkt 1.5. ging es ausdrücklich auf die vom Kläger im revisionsgegenständlichen Teil der Verfahrensrüge relevierte Unmöglichkeit der tiefen Hockstellung ein. Unter Punkt 1.4. führte es aus, dass die Methodenwahl für die Ermittlung des entscheidungswesentlichen Sachverhalts im Zusammenhang mit der Befundung und der Begutachtung ausschließlich dem allgemein beeideten und gerichtlich zertifizierten Sachverständigen obliege. Es obliege also dem fachlichen Ermessen des bestellten Sachverständigen, auf welche Weise er zu dem für sein Gutachten erforderlichen Informationen gelange, was auch für die Anamneseerhebung gelte.

[16] Darin liegt (zumindest noch erkennbar) die Beurteilung, dass es (auch) einer Einvernahme des Klägers nicht bedurft habe (weil der Sachverständige über die Art und Weise der Informationsgewinnung entscheide).

[17] 1.3. Die Verfahrensrüge des Klägers in der Revision beschränkt sich auf den Vorwurf, dass die Verfahrensrüge der Berufung (zum Teil) nicht behandelt worden sei, was nach dem Gesagten aber nicht zutrifft. Der geltend gemachte Mangel des Berufungsverfahrens liegt daher insofern nicht vor. Ob die Beurteilung des Berufungsgerichts die Verneinung des geltend gemachten Verfahrensmangels trägt, unterliegt – wie ausgeführt – nicht der Kognitionsbefugnis des Obersten Gerichtshofs und kann daher nicht geprüft werden.

[18] 2. Als weiteren Mangel des Berufungsverfahrens macht der Kläger in der Revision geltend, dass das Berufungsgericht hinsichtlich der Krankenstandsprognose ergänzende Feststellungen ohne Beweiswiederholung getroffen habe.

[19] 2.1. Nach ständiger Rechtsprechung ist ein Versicherter vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen, wenn in Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit und trotz zumutbarer Krankenbehandlung leidensbedingte Krankenstände in einer Dauer von sieben Wochen und darüber im Jahr zu erwarten sind (RS0113471). Für die Beurteilung der Frage, ob der Versicherte – wie der Kläger im Verfahren erster Instanz erkennbar behauptete – vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen ist, ist daher (auch) die Krankenstandsprognose maßgebend (vgl RS0084429 [T16]). Grundsätzlich sind somit klare Feststellungen über die wirkliche Dauer von mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartender Krankenstände zu treffen (RS0084429 [T22]).

[20] 2.2. Solche Feststellungen hat das Erstgericht jedoch nicht getroffen. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs hätte das Berufungsgericht daher nach den §§ 488 und 496 Abs 3 ZPO vorgehen, also die fehlenden Feststellungen nach Beweiswiederholung, allenfalls ‑ergänzung selbst treffen und dann erst durch Urteil in der Sache selbst erkennen sollen, weil nicht anzunehmen ist, dass dadurch im Vergleich zur Zurück‑(ver‑)weisung die Erledigung verzögert oder ein erheblicher Mehraufwand an Kosten verursacht würde (10 ObS 166/88; vgl nunmehr auch § 90 Abs 2 ASGG).

[21] 2.3. Dass das Berufungsgericht die Sachverhaltsgrundlage ohne Durchführung eines Beweisverfahrens dahin ergänzte, dass es das Vorliegen leidensbedingter Krankenstände in entsprechender Dauer verneinte, begründet somit einen Verfahrensmangel (RS0043026 [T7]; RS0043057; vgl auch RS0043088) und folglich auch eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO (RS0043057 [T11]).

[22] 3. Der diesen Verfahrensmangel geltend machenden Revision war daher Folge zu geben, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Rechtssache zur Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

[23] Das Berufungsgericht wird in weiterer Folge nach den §§ 488 und 496 Abs 3 ZPO (iVm § 90 Abs 2 ASGG) vorgehen, also die fehlenden Feststellungen nach Beweiswiederholung, allenfalls ‑ergänzung treffen müssen. Eine (anschließende) Zurückverweisung der Sache an das Erstgericht durch das Berufungsgericht käme (nur) in Betracht, wenn sich aufgrund des eingeholten Gutachtens Weiterungen des Verfahrens ergeben (§ 90 Abs 2 Satz 3 ASGG).

[24] 3.1. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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