European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0100OB00011.25B.0318.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
I. Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art 267 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Sind Art 3 Nr 10, Art 4 Abs 2, Art 5 Abs 1 und Abs 2 VO 715/2007/EG (iVm Art 3 Durchführungs‑VO 692/2008/EG ) dahin auszulegen, dass die Bauteile eines Dieselfahrzeugs, die das Emissionsverhalten voraussichtlich beeinflussen, so konstruiert, gefertigt und montiert sein müssen, dass die Einhaltung der in Anhang I der VO 715/2007/EG angeführten Emissionsgrenzwerte nicht nur bei den vorgeschriebenen Tests im Rahmen des Typgenehmigungsverfahrens (hier: Neuer Europäischer Fahrzyklus-Test), sondern auch unter tatsächlichen Fahrbedingungen bei normaler Nutzung des Fahrzeugs (im Realbetrieb) gewährleistet ist?
II. Das Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof wird bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß § 90a Abs 1 GOG ausgesetzt.
Begründung:
Zu I.:
A. Sachverhalt
[1] Der Kläger erwarb einen von der Beklagten hergestellten PKW, der mit einem Motor vom Typ EA288 der Abgasklasse Euro 6 ausgestattet ist.
[2] Das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) als zuständige Typengenehmigungsbehörde hat ausgeführt, dass beim Motor dieses Typs keine unzulässige Abschalteinrichtung verbaut ist. Der NOx-Grenzwert (nach Anhang I VO 715/2007/EG ) von 80 mg/km wird im realen Fahrbetrieb zumeist nicht eingehalten.
B. Prozessstandpunkte der Parteien und bisheriges Verfahren
[3] Der Kläger begehrt Zahlung von 8.730 EUR sA. Die NOx-Grenzwerte würden im Realbetrieb nicht eingehalten. Da die Beklagte den Motor vorsätzlich manipuliert habe, hafte sie für den dem Kläger dadurch verursachten Schaden gemäß § 1295 Abs 2 ABGB und § 874 ABGB sowie wegen Verstoßes gegen Schutznormen der VO 715/2007/EG .
[4] Die Beklagte beantragt Klageabweisung. Die Einhaltung der in der VO 715/2007/EG festgelegten Grenzwerte sei nur auf dem Prüfstand geboten, nicht aber im Realbetrieb.
[5] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.
[6] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Die für Emissionen festgelegten Grenzwerte müssten nur unter den in der Durchführungsverordnung angegebenen Prüfbedingungen eingehalten werden.
[7] Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, dass der Klage stattgegeben werde. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[8] Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung die Revision des Klägers zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
C. Relevante Rechtsvorschriften
Verordnung 715/2007/EG vom 20. Juni 2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge (VO 715/2007/EG ):
„Artikel 3
Begriffsbestimmungen
Im Sinne dieser Verordnung und ihrer Durchführungsmaßnahmen bezeichnet der Ausdruck:
[...]
10. 'Abschalteinrichtung' ein Konstruktionsteil, das die Temperatur, die Fahrzeuggeschwindigkeit, die Motordrehzahl (UpM), den eingelegten Getriebegang, den Unterdruck im Einlasskrümmer oder sonstige Parameter ermittelt, um die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren, wodurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird.
[...]
Artikel 4
Pflichten des Herstellers
[...]
(2) [...]
Die von dem Hersteller ergriffenen technischen Maßnahmen müssen außerdem sicherstellen, dass die Auspuff- und Verdunstungsemissionen während der gesamten normalen Lebensdauer eines Fahrzeuges bei normalen Nutzungsbedingungen entsprechend dieser Verordnung wirkungsvoll begrenzt werden. [...]
[...]
Artikel 5
Anforderungen und Prüfungen
(1) Der Hersteller rüstet das Fahrzeug so aus, dass die Bauteile, die das Emissionsverhalten voraussichtlich beeinflussen, so konstruiert, gefertigt und montiert sind, dass das Fahrzeug unter normalen Betriebsbedingungen dieser Verordnung und ihren Durchführungsmaßnahmen entspricht.
(2) Die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, ist unzulässig. Dies ist nicht der Fall, wenn:
a) die Einrichtung notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten;
b) die Einrichtung nicht länger arbeitet, als zum Anlassen des Motors erforderlich ist;
c) die Bedingungen in den Verfahren zur Prüfung der Verdunstungsemissionen und der durchschnittlichen Auspuffemissionen im Wesentlichen enthalten sind.“
Verordnung 692/2008/EG der Kommission vom 18. Juli 2008 zur Durchführung und Änderung der VO 715/2007/EG (Durchführungs‑VO):
„Artikel 2
Begriffsbestimmungen
Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck:
[...]
2. 'EG-Typgenehmigung eines Fahrzeugs hinsichtlich der Emissionen und der Reparatur- und Wartungsinformationen' die EG-Typgenehmigung eines Fahrzeugs in Bezug auf Auspuffemissionen, Kurbelgehäuseemissionen, Verdunstungsemissionen, Kraftstoffverbrauch und Zugang zu OBD- sowie Reparatur- und Wartungsinformationen;
[...]
8. 'Typ einer emissionsmindernden Einrichtung' Katalysatoren und Partikelfilter, die sich in folgenden wesentlichen Merkmalen nicht unterscheiden: [...]
[...]
Artikel 3
Vorschriften für die Typgenehmigung
1. Für die EG-Typgenehmigung eines Fahrzeugs hinsichtlich der Emissionen und der Reparatur- und Wartungsinformationen weist der Hersteller nach, dass die Fahrzeuge den Prüfanforderungen entsprechen, die in den Anhängen III bis VIII, X bis XII, XIV und XVI dieser Verordnung genannt sind.
[...]
5. Der Hersteller ergreift technische Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass die Auspuff- und Verdunstungsemissionen der Fahrzeuge während ihrer gesamten normalen Lebensdauer und bei normaler Nutzung entsprechend den Vorschriften dieser Verordnung wirksam begrenzt werden. [...]
6. Der Hersteller gewährleistet, dass die bei der Emissionsprüfung ermittelten Werte unter den in dieser Verordnung angegebenen Prüfbedingungen den geltenden Grenzwert nicht überschreiten.
[...]“
D. Vorbemerkungen
Rechtliche Beurteilung
[9] Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt maßgebend von der Auslegung der angeführten Rechtsvorschriften, insbesondere von Art 3 Nr 10, Art 4 Abs 2, Art 5 Abs 1 und 2 VO 715/2007/EG sowie Art 3 Durchführungs‑VO ab.
[10] Nach der Beurteilung des Obersten Gerichtshofs besteht im Hinblick auf die Vorlagefragen kein „acte clair“, weshalb die Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union zur Vorabentscheidung geboten ist.
[11] Im Verfahren ist nicht strittig, dass im Fahrzeug des Klägers ein Dieselmotor vom Typ EA288 verbaut ist, für den die Abgasnorm Euro 6 maßgebend ist. Im Revisionsverfahren ist vor allem fraglich, ob die Einhaltung der Emissionsgrenzwerte gemäß Anhang I VO 715/2007/EG auch im normalen Fahrbetrieb (Realbetrieb) zu prüfen ist.
E. Begründung der Vorlage
[12] 1. Für das vorliegende Fahrzeug sind die Grenzwerte gemäß Anhang I (Tabellen 2 bis 4) der VO 715/2007/EG maßgeblich.
[13] 2. Nach der bisherigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs müssen die für Emissionen festgelegten Grenzwerte nur unter den in der Durchführungsverordnung angegebenen Prüfbedingungen eingehalten werden (ausführlich 10 Ob 31/23s Rz 34 ff; 10 Ob 55/23w Rz 11; 3 Ob 168/24p Rz 21 ff; 3 Ob 215/23y Rz 13; 5 Ob 102/24x Rz 11 ua; vgl auch BGH VIa 335/21 Rz 51).
[14] 3. Dies wird insbesondere mit dem Wortlaut von Art 3 Nr 6 Durchführungs‑VO begründet, wonach der Hersteller gewährleistet, dass die bei der Emissionsprüfung ermittelten Werte unter den in dieser Verordnung angegebenen Prüfbedingungen den geltenden Grenzwert nicht überschreiten. Ein Regelungskonzept dahingehend, dass das Fahrzeug in allen Betriebszuständen – insbesondere im praktischen Fahrbetrieb – die Grenzwerte nicht überschreitet („not-to-exceed“-Regelungskonzept), wurde im Rahmen der VO 715/2007/EG lediglich für die Zukunft erwogen und somit bewusst (noch) nicht eingeführt (ErwGr 15 Satz 4 VO 715/2007/EG ). Um zu gewährleisten, dass die bei der Typgenehmigungsprüfung gemessenen Emissionen denen im praktischen Fahrbetrieb entsprechen, wurde vielmehr die Möglichkeit von Überprüfungen und Anpassungen des Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) vorgesehen (Art 5 Abs 3, Art 14 Abs 3, ErwGr 15 Satz 1 bis 3 sowie ErwGr 26 VO 715/2007/EG ).
[15] 4. Gegen diese Rechtsprechung kann ins Treffen geführt werden, dass nach Art 4 Abs 2 VO 715/2007/EG sowie Art 3 Nr 5 Durchführungs‑VO die vom Hersteller ergriffenen technischen Maßnahmen sicherstellen müssen, dass (ua) die Emissionen während der gesamten normalen Lebensdauer eines Fahrzeugs bei normalen Nutzungsbedingungen wirkungsvoll begrenzt werden. Ferner sieht Art 5 Abs 1 VO 715/2007/EG vor, dass der Hersteller die Fahrzeuge so ausrüsten muss, dass die Bauteile, die sich auf das Emissionsverhalten auswirken, es erlauben, dass die Fahrzeuge unter normalen Betriebsbedingungen die in der Verordnung und ihren Durchführungsmaßnahmen vorgesehenen Emissionsgrenzwerte einhalten. Diesen Bestimmungen lassen sich keine Anhaltspunkte für eine Differenzierung zwischen der Funktionsweise einer Einrichtung während der Phase der Zulassungstests einerseits und im Betrieb unter normalen Nutzungsbedingungen der Fahrzeuge andererseits entnehmen (siehe EuGH C‑128/20 , GSMB Invest, Rn 42 f). Der Einbau einer Einrichtung, die die Einhaltung der in der VO 715/2007/EG vorgesehenen Grenzwerte nur während der Phase des Zulassungstests sicherstellen könnte, obwohl diese Testphase normale Nutzungsbedingungen des Fahrzeugs nicht nachstellen könnte, liefe möglicherweise der Verpflichtung zuwider, bei normalen Nutzungsbedingungen des Fahrzeugs eine wirkungsvolle Begrenzung der Emissionen sicherzustellen und widerspräche den Zwecken der VO 715/2007/EG (Sicherstellung eines hohen Umweltschutzniveaus [ErwGr 1], Verbesserung der Luftqualität [ErwGr 4 ff]).
Zu II.:
[16] Der Ausspruch über die Aussetzung des Verfahrens bis zur Erledigung des Vorabentscheidungsersuchens gründet sich auf § 90a Abs 1 GOG.
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