European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0140OS00020.25K.0305.000
Rechtsgebiet: Strafrecht
Fachgebiet: Grundrechte
Spruch:
* A* wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.
Die Grundrechtsbeschwerde wird abgewiesen.
Gründe:
[1] Mit dem angefochtenen Beschluss setzte das Oberlandesgericht Wien die am 25. Dezember 2024 über * A* verhängte (ON 412) Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 173 Abs 2 Z 1 StPO fort.
[2] Dabei ging es vom dringenden Verdacht aus, A* habe in A* (Syrien) als Leiter der Staatssicherheitsabteilung Nr * des Allgemeinen Geheimdienstes in A*
I/ es im April 2012 in Kenntnis wiederkehrender auch sexueller Gewalt an Häftlingen zugelassen (§ 12 dritter Fall StGB), dass ihm gegenüber weisungsgebundene Wachebeamte den damals inhaftierten „Zeugen Nr. 4/16“ (dessen Identität aktenkundig ist) außer den Fällen des § 201 StGB mit Gewalt zur Duldung von geschlechtlichen Handlungen nötigten, wobei die Taten eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs 1 StGB), nämlich eine posttraumatische Belastungsstörung des Opfers, zur Folge hatten, indem die Wachebeamten dem leichte Häftlingsbekleidung tragenden Opfer,
1/ während einer Vernehmung durch die „Sicherheitskommission“ wiederholt mit Schlagstöcken Schläge auf die Geschlechtsorgane versetzten und „mit harten Gegenständen gegen dessen Analbereich stießen“ (vgl ON 299, 35), wobei das Opfer durch die Tat, die von mindestens fünf Mitgliedern der „Sicherheitskommission“ und mehreren Wachebeamten beobachtet wurde, in besonderer Weise erniedrigt wurde;
2/ während einer weiteren Vernehmung durch die „Sicherheitskommission“ wiederholt Schläge auf die Geschlechtsorgane versetzten;
II/ einer anderen Person, um von dieser eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangenen Tat, und zwar die Teilnahme an Demonstrationen und Protesthandlungen gegen die syrische Regierung und den Staatsapparat der Arabischen Republik Syrien im Allgemeinen, zu bestrafen, und um diese während ihrer Anhaltung in der seiner Aufsicht unterstehenden Haftanstalt der Abteilung Nr * des Allgemeinen Geheimdienstes einzuschüchtern, große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt, indem er als Amtsträger (§ 74 Abs 1 Z 4a lit b sechster Fall StGB) veranlasste (§ 12 zweiter Fall StGB) oder es ungeachtet seiner den unmittelbaren Tätern gegenüber bestehenden Weisungsbefugnis in Kenntnis der Umstände nicht untersagte (§ 12 dritter Fall StGB), dass
1/ im Jänner 2013 dem „Zeugen Nr. 5/16“ (dessen Identität aktenkundig ist) trotz offensichtlicher Verletzungen am Fuß, an der Schulter und im Gesicht jegliche medizinische Versorgung verweigert wurde sowie von Wachebeamten während der Vernehmung durch den (namentlich genannten) Leiter der Ermittlungsabteilung Schläge, Tritte und Elektroschocks versetzt wurden, wodurch das Opfer Abschürfungen und Hämatome erlitt sowie eine gerade verheilte Wunde an einer Schulter aufbrach;
2/ im Februar 2013 dem „Zeugen Nr. 11/16“ (dessen Identität aktenkundig ist) während dessen sechstägiger Inhaftierung vom Wachpersonal durch wiederholte Fußtritte und Schläge unter anderem unter Zuhilfenahme von Schlagstöcken, Elektrokabeln und einem im angefochtenen Beschluss näher bezeichneten Folterwerkzeug sowie durch das Verabreichen von Elektroschocks und das Hinunterstoßen über eine Treppe Qualen und Misshandlungen zugefügt wurden, wodurch dieses Opfer Hämatome, Schürfwunden, Schwellungen und eine Prellung der Wirbelsäule erlitt.
[3] Dieses Verhalten subsumierte das Beschwerdegericht den Verbrechen der geschlechtlichen Nötigung nach §§ 2, 12 dritter Fall, 202 Abs 1 und 4 erster und vierter Fall StGB idF BGBl I 2009/40 (I/) und der Folter nach § 312a Abs 1 erster Fall (teils iVm §§ 2, 12 zweiter und dritter Fall) StGB (II/).
Rechtliche Beurteilung
[4] Dagegen richtet sich die (rechtzeitige) Grundrechtsbeschwerde, die ausschließlich die Annahme des Haftgrundes der Fluchtgefahr bekämpft.
[5] Im Rahmen des Grundrechtsbeschwerdeverfahrens überprüft der Oberste Gerichtshof die rechtliche Annahme der in § 173 Abs 2 StPO genannten Gefahr (Prognoseentscheidung) darauf, ob sich diese angesichts der zugrunde gelegten bestimmten Tatsachen als willkürlich, mit anderen Worten nicht oder nur offenbar unzureichend begründet darstellt (RIS‑Justiz RS0117806).
[6] Dies ist hier – entgegen dem Beschwerdevorbringen – nicht der Fall. Das Beschwerdegericht hat die Prognoseentscheidung nicht bloß auf allgemeine Erfahrungssätze gegründet, sondern – neben dem Hinweis auf Art und Ausmaß der voraussichtlich bevorstehenden Strafe – auf den konkreten Einzelfall bezogen ausgeführt (vgl RIS‑Justiz RS0118185; Kirchbacher/Rami, WK‑StPO § 173 Rz 28), dass der Beschuldigte während seines grundsätzlichen Aufenthalts in Österreich seit 2015 zweimal ins Ausland gereist sei, in Syrien über – wenngleich „provisorisch“ konfisziertes – Eigentum (unter anderem an Liegenschaften) verfüge, im Inland häufig den Wohnsitz gewechselt und sich zuletzt in einem Flüchtlingsheim aufgehalten habe sowie hier über, mit seinen Angaben zu seinem Vermögen und Einkommen nicht in Einklang zu bringende, Barmittel verfüge, die ihm „die konkrete und sofortige Möglichkeit einer Ausreise“ verschafften. Überdies lebe seine Familie in Syrien, wo „aufgrund des allgemein bekannten rezenten Regimewechsels“ für den Beschuldigten, der eine Rückkehr in seine Heimat bei einem Wechsel der politischen Situation als Wunschziel angegeben habe, „zweifellos eine geänderte Gefahrenlage“ herrsche (ON 428.3, 10 ff). Dass diese Erwägungen gegen die Denkgesetze oder grundlegende Erfahrungssätze verstießen (vgl RIS‑Justiz RS0118317), vermag der Beschwerdeführer mit – teils auf Medienberichte gestützten – Ausführungen zur allgemeinen politischen Lage in Syrien und spekulativen Überlegungen zu möglicher Gefährlichkeit seiner Rückkehr dorthin nicht darzulegen.
[7] Die Grundrechtsbeschwerde zeigt somit keine Verletzung des verfassungsmäßig geschützten Rechts auf persönliche Freiheit auf und war daher ohne Kostenzuspruch (§ 8 GRBG) abzuweisen.
[8] Bleibt anzumerken, dass die zu Punkt I/ angeführten, wiederholten „Schläge auf die Geschlechtsorgane“ des Opfers zwar geschlechtliche Handlungen im Sinn des § 202 Abs 1 StGB darstellen können. Ausschlaggebend dafür ist ein – objektiv gegebener – Sexualbezug, der insbesondere dann anzunehmen ist, wenn sich diese Taten gezielt gegen die sexuelle und nicht etwa (nur) gegen die körperliche Integrität des Opfers richteten (vgl dazu den Verweis auf dessen Aussage im erstinstanzlichen Beschluss, die Wachebeamten hätten die Schläge mit der Ankündigung begleitet, dem Opfer seine „Zeugungsfähigkeit“ zu nehmen [ON 418, 8 iVm ON 299, 33]). Auf eine (wie hier: leichte) Bekleidung des Opfers kommt es dabei nicht an (RIS‑Justiz RS0095733 [insbesondere T6 und T7]; RS0094905 [insbesondere T16, T19 und T35]; RS0096677 [insbesondere T13]; 12 Os 5/09s; zum Ganzen Philipp in WK2 StGB § 202 Rz 9; vgl [jeweils geschlechtliche Handlungen bei Tritten oder Schlägen gegen geschlechtsspezifische Körperpartien nur dann bejahend, wenn diese entblößt sind] Hinterhofer, SbgK § 202 Rz 24 ff [insbesondere 30]; Kienapfel/Schmoller, BT III2 Vorbem §§ 201 ff Rz 19 ff [insbesondere 39]).
[9] Allerdings enthält der angefochtene Beschluss keine Sachverhaltsannahmen zum Einsatz eines Nötigungsmittels zur Überwindung eines (tatsächlichen oder vermuteten) Widerstands (vgl RIS‑Justiz RS0095666; RS0095776; 13 Os 45/06a; 11 Os 175/97). Im Zuge der – bereits vom Beschwerdegericht für erforderlich gehaltenen (ON 428.3, 9) – ergänzenden Befragung dieses Opfers werden daher die näheren Umstände dessen Vernehmung durch die „Sicherheitskommission“, insbesondere ob Wachebeamte das Opfer durch Drohungen oder – nicht mit den angeführten Schlägen identer – Gewalt (etwa durch Festhalten oder Fesseln) zur Duldung derartiger geschlechtlicher Handlungen nötigten, zu klären sein.
[10] Eine Grundrechtsverletzung liegt dennoch nicht vor, weil schon der – nicht bekämpfte und keinen amtswegigen Bedenken begegnende – dringende Tatverdacht zu den Punkten II/1/ und 2/ hafttragend ist (vgl RIS‑Justiz RS0120817 [T1, T6 und T7]; RS0061132 [T8]).
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