OGH 8Ob99/24b

OGH8Ob99/24b27.2.2025

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Tarmann‑Prentner als Vorsitzende sowie die Hofräte MMag. Matzka, Dr. Stefula, Dr. Thunhart und Mag. Dr. Sengstschmid als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei H*, vertreten durch Dr. Alexander Amann LL.M. (UCLA), Rechtsanwalt in Gamprin‑Bendern, Liechtenstein (§ 5 Abs 3 EIRAG), gegen die beklagte Partei V* AG, *, Deutschland, vertreten durch die Pressl Endl Heinrich Bamberger Rechtsanwälte GmbH in Salzburg, wegen 3.200 EUR sA und Feststellung (Gesamtstreitwert 8.200 EUR), infolge der Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Berufungsgericht vom 15. Mai 2024, GZ 21 R 133/24s‑26, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Salzburg vom 22. November 2022, GZ 31 C 440/23f‑22, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0080OB00099.24B.0227.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

I. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Art 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.a. Sind Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG in Verbindung mit Art 3 Nr 10 VO 715/2007/EG sowie Art 3 Durchführungs‑VO 692/2008/EG dahin auszulegen, dass bei einem unter die VO 715/2007/EG fallenden Fahrzeug mit Dieselmotor, in dem

‑ ein Stickoxidspeicherkatalysator samt Dieselpartikelfilter und weiters

‑ nur ein (in seiner Steuerung und Wirksamkeit von verschiedenen Faktoren wie Umgebungstemperatur, Leistungsanforderung, Gaspedalstellung, Drehmoment, Seehöhe, Sauerstoffgehalt der Umgebungsluft, Fahrverhalten des Fahrers sowie Temperatur am und im Triebwerk und im Abgasrückführungssystem selbst abhängiges) System der Abgasreduktion (AGR‑System) verbaut ist, welches

‑ ein „Thermofenster“ (eine temperaturabhängige Reduktion der AGR‑Rate), bezüglich dessen zwar feststeht, dass die AGR‑Rate bei Temperaturen unter ‑24°C und über +70°C reduziert wird, allerdings nicht feststellbar ist, ob eine Reduktion der AGR‑Rate auch innerhalb des Temperaturbereiches von ‑24°C bis +70°C stattfindet,

‑ eine „Höhenschaltung“ (eine Reduktion der AGR‑Rate in einer Betriebshöhe von über 1.000 Metern über dem Meeresspiegel), und

‑ eine „Taxischaltung“ (eine Reduktion der AGR‑Rate bei einem Betrieb im Leerlauf über einen Zeitraum von mehr als 15 Minuten)

aufweist, für die Qualifikation als Abschalteinrichtung im Sinne von Art 3 Z 10 VO 715/2007/EG darauf abzustellen ist,

i. ob die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems in seiner Gesamtheit (unter Einschluss aller jeweils vorhandenen Systeme der Abgasrückführung und ‑nachbehandlung) verringert wird,

oder darauf,

ii. ob die Wirksamkeit einzelner Konstruktionsteile (zB „Thermofenster“, SCR‑Katalysator) als jeweils eigene Emissionskontrollsysteme verringert wird?

1.b. Sind Art 3 Nr 10, Art 5 Abs 1 und 2 VO 715/2007/EG dahin auszulegen, dass

i. es sich bei der Wendung in Art 3 Nr 10 VO 715/2007/EG „... unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind …“

‑ um einen Teil der Tatbestandsvoraussetzungen für das Vorliegen einer Abschalteinrichtung, oder

‑ um eine diesbezügliche Ausnahmeregelung vom Bestehen einer Abschalteinrichtung oder Verbotsausnahme, welche erst beim Nachweis des Nichtvorliegens solcher Bedingungen die Zulässigkeit einer Abschalteinrichtung bewirkt,

handelt?

ii. für die Qualifikation als unzulässige Abschalteinrichtung die Verringerung der Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems eines Dieselfahrzeuges unter gewöhnlichen Fahrbedingungen – sei es eines einzelnen Konstruktionsteiles, sei es der Gesamtheit des Systems (siehe Frage 1.a.) – allein entscheidend ist, oder ist zusätzlich erforderlich, dass (zumindest) einer der in Anhang I der VO 715/2007/EG angeführten Emissionsgrenzwerte überschritten wird?

iii. eine Abschalteinrichtung jedenfalls dann zulässig im Sinne des Art 3 Z 10 VO 715/2007/EG ist, wenn unter tatsächlichen Fahrbedingungen bei normaler Nutzung des Fahrzeuges die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems eines Dieselfahrzeuges zwar verringert wird, jedoch die in Anhang I der VO 715/2007/EG angeführten Emissionsgrenzwerte eingehalten werden?

2. Für den Fall, dass im Sinne der zu Punkt 1. gestellten Fragen auf das Emissionskontrollsystem in seiner Gesamtheit abzustellen ist:

2.a. Ist Art 5 Abs 2 in Verbindung mit Art 3 Nr 10 VO 715/2007/EG in Bezug auf die Behauptungslast dahin auszulegen, dass der Erwerber eines Dieselfahrzeuges seiner Behauptungslast zum Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung entspricht, wenn er vorbringt, dass ein Konstruktionsteil (zB „Thermofenster“) vorliegt, das die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter gewöhnlichen Fahrbedingungen verringert, und trifft dann den Fahrzeughersteller die Behauptungslast dafür, dass das Gesamtsystem insgesamt zu keiner Verringerung der Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems führt, oder muss der Käufer auch vorbringen, dass keine anderen Konstruktionsteile vorliegen, die den nachteiligen Effekt ausgleichen?

2.b. Ist Art 5 Abs 2 in Verbindung mit Art 3 Nr 10 VO 715/2007/EG in Bezug auf die Beweislast dahin auszulegen, dass eine nationale Regelung, nach der den klagenden Käufer die Beweislast für das Vorliegen einer Abschalteinrichtung und somit nicht nur dafür trifft, dass ein Konstruktionsteil im Fahrzeug verbaut ist, das die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter gewöhnlichen Fahrbedingungen verringert, sondern auch dafür, dass keine anderen Konstruktionsteile verbaut sind, die diesen nachteiligen Effekt ausgleichen, aber der beklagte Fahrzeughersteller zur Mitwirkung an der Ermittlung des Sachverhaltes verpflichtet ist – wobei die Konsequenz einer Nicht-Mitwirkung nur darin liegt, dass das Gericht diesen Umstand in seine freie Beweiswürdigung einfließen lässt –, gegen Unionsrecht verstößt, sodass bei der Feststellung des Emissionskontrollsystems in seiner Gesamtheit eine Zuweisung der Beweislast hierfür an den beklagten Fahrzeughersteller unionsrechtlich geboten ist?

2.c. Ist Art 5 Abs 2 in Verbindung mit Art 3 Nr 10 VO 715/2007/EG dahin auszulegen, dass die Behauptungs- und Beweislast für den konkreten Temperaturbereich, in dem eine im Fahrzeugmotor vorhandene Abschalteinrichtung in Form eines Thermofensters nicht aktiv ist, den Fahrzeughersteller trifft?

3.a. Sind Art 3 Nr 10, Art 4 Abs 2, Art 5 Abs 1 und Abs 2 VO 715/2007/EG in Verbindung mit Art 3 Durchführungs‑VO 692/2008/EG dahin auszulegen, dass die Bauteile eines Dieselfahrzeuges, die das Emissionsverhalten voraussichtlich beeinflussen, so konstruiert, gefertigt und montiert sein müssen, dass die Einhaltung der in Anhang I der VO 715/2007/EG angeführten Emissionsgrenzwerte nicht nur bei den vorgeschriebenen Tests im Rahmen des jeweils anzuwendenden Typgenehmigungsverfahrens (hier: Neuer Europäischer Fahrzyklus-Test), sondern auch unter tatsächlichen Fahrbedingungen bei normaler Nutzung des Fahrzeuges (im Realbetrieb) gewährleistet ist?

3.b. Falls die Frage 3.a. zu bejahen ist:

Ist Art 5 Abs 2 in Verbindung mit Art 5 Abs 1 und Art 4 Abs 3 VO 715/2007/EG dahin auszulegen, dass nicht der klagende Käufer, sondern der beklagte Fahrzeughersteller die Beweislast für die Einhaltung der Emissionsgrenzwerte im Realbetrieb trägt?

II. Das Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof wird bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß § 90a Abs 1 GOG ausgesetzt.

 

Begründung:

Zu I.:

A. Sachverhalt

[1] Der Kläger erwarb am 18. 6. 2020 von einem Kraftfahrzeughändler in Österreich um insgesamt 13.800 EUR einen gebrauchten, von der Beklagten hergestellten und im August 2015 erstmals zum Verkehr zugelassenen Personenkraftwagen der Marke Volkswagen, Type Golf Variant 1,6 TDI, mit einem Kilometerstand von damals 102.000 km, den der Kläger seitdem besitzt und weiter benützt. In diesem Wagen (künftig auch: Klagsfahrzeug) ist ein von der Beklagten hergestellter 1,6 l‑Dieselmotor des Typs EA288 mit einer Leistung von 81 kW (110 PS) verbaut. Das Fahrzeug fällt unstrittig in den Anwendungsbereich der VO (EG) Nr 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. 6. 2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge (ABl L 171/1 vom 29. 6. 2007; künftig: VO 715/2007/EG ).

[2] Zur Emissionskontrolle ist im Klagsfahrzeug ein Abgasrückführungs‑(künftig: AGR‑)System verbaut, das aus einem AGR‑Ventil und einem AGR‑Kühler besteht; zusätzlich kommt ein Stickoxidspeicherkatalysator samt Dieselpartikelfilter zum Einsatz. Im Klagsfahrzeug sind jedoch weder ein System mit selektiver katalytischer Reaktion unter Verwendung von AdBlue (künftig: SCR‑System) noch eine Fahrkurvenerkennung verbaut.

[3] Durch das AGR‑System werden bereits verbrannte Gase aus der Abgasanlage umgeleitet und neuerlich in den Verbrennungsraum eingeführt und so einer neuerlichen Verbrennung zugeführt. Zur weiteren Reduktion des Schadstoffausstoßes werden die aus dem Verbrennungsprozess ausgeschiedenen NOx (Stickoxide) im Speicherkatalysator gespeichert, bis dieser die Aufnahmekapazität erreicht hat. Die Motorelektroniksteuerung erkennt den Befüllungsgrad des Speicherkatalysators. Ist der Filter zu voll, wird eine erhöhte Menge Dieseltreibstoff in den Verbrennungsprozess eingespritzt und durch die dann erhöhte Temperatur und die erhöhte Treibstoffmenge die Gitterstruktur des Speicherkatalysators wieder freigebrannt. Dadurch entsteht aus den Stickoxidanteilen ein sekundäres Stickstoffdioxid, welches sodann über das restliche Abgassystem nach außen hin transportiert wird.

[4] Die Menge der im Zuge des AGR‑Systems rückgespeisten Gase (die AGR‑Rate) wird in einem komplexen System über unterschiedliche Parameter wie die Umgebungstemperatur, die Leistungsanforderung, die Gaspedalstellung (bedeutend die Einspritzmenge), das Drehmoment (abhängig vom eingelegten Getriebegang), die Seehöhe, dem Sauerstoffgehalt in der Umgebungsluft, das Fahrverhalten des Fahrers und die Temperatur am und im Triebwerk sowie jene im AGR‑System selbst über das Motormanagement in Form des Motorkennlinienfeldes gesteuert. Das Motorkennlinienfeld hat plastisch gesprochen ein dreidimensionales Erscheinungsbild, ähnlich einer hügeligen Landschaft. Die Linien unterschiedlicher Parameter steuern in Abhängigkeit der weiteren Parameter die AGR‑Rate, aber unter anderem auch die Gemischaufbereitung und die Einspritzmenge an.

[5] Der Faktor Seehöhe wirkt sich in diesem System derart aus, dass in einer Betriebshöhe von über 1.000 Metern über dem Meeresspiegel die AGR‑Rate zurückgefahren wird (sogenannte „Höhenschaltung“). Dies einerseits um trotz des niedrigen Sauerstoffgehalts in der Luft die Motorleistung zu erhalten, andererseits zum Schutz der Bauteile des AGR‑Systems vor vorzeitigem Verschleiß. Zur Bauteilschonung der abgasmindernden Komponenten wird auch bei einem Betrieb im Leerlauf über einen Zeitraum von mehr als 15 Minuten die AGR‑Rate reduziert (sogenannte „Taxischaltung“).

[6] Hingegen konnte nicht festgestellt (also nicht bewiesen) werden,

‑ ob beim Klagsfahrzeug eine temperaturabhängige Reduktion der AGR‑Rate („Thermofenster“) programmiert ist, welche in einem größeren Bereich als unter ‑24°C und über +70°C wirksam ist, insbesondere in Bereichen von ‑24°C bis +15°C und von +33°C bis +70°C;

‑ ob es beim Klagsfahrzeug unter gewissen Bedingungen im Normalbetrieb zu einer gänzlichen Deaktivierung des AGR‑Systems in Form einer Reduktion der AGR‑Rate auf null kommt;

‑ ob die Reduktion der AGR‑Rate beim Betrieb auf über 1.000 Metern Seehöhe beziehungsweise bei einem über 15‑minütigen Betrieb im Leerlauf die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems in seiner Gesamtheit verringert;

‑ ob sich individuelle, sonstige für die AGR‑Rate relevante Parameter beim Klagsfahrzeug derart auswirken, dass sie die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems in seiner Gesamtheit verringern.

[7] Die geschilderten Systeme der Abgasnachbehandlung sind nicht ausschließlich notwendig, um durch eine Fehlfunktion eines Bauteils verursachte unmittelbare Risiken für den Motor in Form von Beschädigungen oder Unfall zu vermeiden. Vielmehr zählt die Abgasstrategie mit den programmierten Abläufen im Verbrennungsprozess und den Abgaskomponenten auch zum Bauteilschutz. Sie tragen dazu bei, die gesetzlich vorgeschriebene Mindesthaltbarkeitsdauer der abgasmindernden Komponenten von 160.000 km zu gewährleisten.

[8] SCR‑Systeme – die im Klagsfahrzeug nicht verbaut wurden – werden bereits seit circa 2010 verwendet und seit circa 2012 serienmäßig verbaut. Bei Verwendung eines SCR‑Systems in der Abgasstrategie würde – eine ausreichende Dimensionierung einzuspritzenden Harnstoffs und eine ausreichende Speicherkapazität im AdBlue‑Tank vorausgesetzt – mehr NOx eliminiert als mit dem im Klagsfahrzeug verbauten Dieselpartikelfilter.

B. Prozessstandpunkte der Parteien und bisheriges Verfahren

[9] Der Kläger begehrt von der Beklagten – gestützt auf deliktischen Schadenersatz, Verstoß gegen als Schutzgesetze anzusehende Bestimmungen der RL 2007/46/EG sowie der VO 715/2007/EG und arglistige Täuschung bzw Betrug – den Minderwert des mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Klagsfahrzeugs in Höhe von 3.200 EUR samt Zinsen sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten „für alle nachteiligen Folgen der Fahrzeugmanipulation“, welche dem Kläger „aus dem Vertrag über den Erwerb des manipulierten Fahrzeuges“ künftig entstehen würden.

[10] Die Beklagte verwende ein ganzes Bündel von Funktionen, welche einzeln oder kombiniert eingesetzt würden, um die Abgasreinigung im Neuen Europäischen Fahrzyklus (künftig: NEFZ) zu maximieren und dort die NOx‑Grenzwerte einzuhalten, während die Grenzwerte im Normalbetrieb auf der Straße und unter normalen Betriebsbedingungen um ein Vielfaches überschritten würden. Beim Motor des Klagsfahrzeugs würden eingesetzt eine Fahrkurvenerkennung (eine Zykluserkennung, bei welcher die Motorsteuerungssoftware anhand von unterschiedlichen Parametern [zB Geschwindigkeit, Beschleunigung, Zeit] erkenne, ob sich das Fahrzeug im Prüfmodus befinde), ein Thermofenster (eine Software, welche die AGR‑Rate bei Außentemperaturen von unter +15°C und über +33°C bis auf null reduziere [sogenannte „Abrampung“, das sei eine graduelle Reduktion der AGR]), ein SCR‑System und eine Zykluserkennung in Form einer SCR‑Dosierstrategie. Im Klagsfahrzeug würde eine Mehrzahl von Strategien zur Einhaltung der NOx‑Grenzwerte im NEFZ zur Anwendung gelangen, welche jedoch durch die Motorsteuerung des Fahrzeugs im Normalbetrieb auf der Straße, mithin unter normalen Betriebsbedingungen, in ihrer Wirkung reduziert oder vollkommen ausgeschaltet würden. Dass nach alter Gesetzeslage die Prüfung der Einhaltung der Emissionswerte lediglich auf dem Prüfstand und nicht im normalen Straßenverkehr erfolgt sei, lasse nicht den Schluss darauf zu, dass die Emissionswerte im Straßenverkehr irrelevant seien. Vor Bekanntwerden des Abgasskandals habe es keinen Grund gegeben, eine Prüfung der Emissionswerte im normalen Straßenverkehr vorzunehmen, da man nicht davon habe ausgehen müssen, dass in den zu prüfenden Fahrzeugen unzulässige Abschalteinrichtungen zum Einsatz kämen, welche die Emissionswerte auf dem Prüfstand manipulierten, zumal diese explizit verboten gewesen seien; man habe daher davon ausgehen können, dass die Messwerte am Prüfstand während des NEFZ den Emissionswerten im Straßenverkehr zumindest dem Grundsatz nach entsprächen.

[11] Der Schaden des Klägers liege in der überhöhten Kaufpreiszahlung im Vergleich zum objektiven Minderwert des Fahrzeugs im Zeitpunkt der Zahlung und betrage mindestens 25 % des Kaufpreises bzw der gesamten vom Kläger für den Erwerb des Fahrzeugs erbrachten Aufwendungen.

[12] Die Beklagte beantragt Klageabweisung. Beim vorliegenden Motortyp sei keine unzulässige Abschalteinrichtung verbaut worden. Das Klagsfahrzeug sei nicht von Software betroffen, die Stickoxidwerte im Prüfstandlauf (NEFZ) optimiere. Es sei vom deutschen Kraftfahrt-Bundesamt (künftig: KBA) rechtskräftig typengenehmigt worden, womit das Gericht an dessen Ansicht gebunden sei, dass keine unzulässige Abschalteinrichtung vorliege. Der Einsatz von Thermofenstern sei Stand der Technik bei selbst modernsten für den europäischen Markt produzierten Dieselfahrzeugen der neuesten Generation bei allen Herstellern üblich und notwendig. Beim Motortyp EA288 liege darin schon tatbestandlich keine Abschalteinrichtung, weil sie nur bei praktisch nicht vorkommenden Extremtemperaturen und damit außerhalb der bei „normalem Fahrbetrieb vernünftigerweise zu erwartenden Bedingungen“ im Sinne von Art 3 Nr 10 VO 715/2007/EG aktiv sei, nämlich außerhalb eines extrem weiten Bereichs von ‑24°C bis +70°C. Innerhalb dieses Bereichs komme es zu keiner Verringerung der Abgasrückführung, außerhalb dieses Thermofensters wäre die Deaktivierung der Abgasrückführung zum Schutz des Motors und sicheren Fahrzeugbetriebs erforderlich, sodass eine Abschalteinrichtung, selbst wenn sie vorläge, nach dem Ausnahmetatbestand des Art 5 Abs 2 Satz 2 lit a VO 715/2007/EG zulässig wäre. Für das Klagsfahrzeug, das über eine wirksame EG‑Typengenehmigung für die Emissionsklasse Euro 6 verfüge, gebe es keine gesetzlichen Vorgaben zur Einhaltung von Grenzwerten im realen Betrieb; die gesetzlichen Stickoxidgrenzwerte bezögen sich ausschließlich auf den Prüfstand. Emissionswerte, die im Rahmen des Typengenehmigungsverfahrens gemessen würden, seien reine Laborwerte. Real Driving Emissions‑(RDE‑)Tests seien in Europa erst aufgrund einer Änderung der Rechtslage ab dem 1. 9. 2017 in Kraft getreten. Insgesamt sei das Fahrzeug technisch sicher und fahrbereit. Ein rechtswidriges oder sittenwidriges Verhalten habe die Beklagte nicht gesetzt. Ein Schaden des Klägers liege nicht vor.

[13] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der Kläger habe den ihm obliegenden Beweis der Verringerung der Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems – bei dem es sich um ein Tatbestandselement der unzulässigen Abschalteinrichtung und nicht um eine Verbotsausnahme nach Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG handle – und damit des Vorliegens einer unzulässigen Abschalteinrichtung nicht erbringen können, was zu seinen Lasten gehe. Zwar habe festgestellt werden können, dass große Höhe und ein andauernder Leerlauf einen absenkenden Einfluss auf die AGR‑Rate hätten, jedoch nicht, ob dies die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems bestehend aus Abgasrückführung und Dieselpartikelfilter in seiner Gesamtheit negativ beeinflusse. Ständige Veränderungen der AGR‑Rate in Abhängigkeit einer Vielzahl an Faktoren fänden ständig und bei jeder Art des Betriebs statt und seien Teil der grundsätzlichen Funktionsweise des AGR‑Systems; eine Reduktion der AGR‑Rate auf null, die angesichts der gänzlichen Eliminierung eines Teils des Emissionskontroll-systems wohl geradezu zwingend zu einer Einschränkung von dessen Wirksamkeit geführt hätte, habe nicht festgestellt werden können. Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten seien, lägen aufgrund der in Europa herrschenden klimatischen Bedingungen nur bei einem – hier nicht feststellbaren, „engen“ – „Thermofenster“ zwischen +15°C und +33°C vor, nicht hingegen bei einem solchen zwischen ‑24°C und +70°C.

[14] Das Berufungsgericht teilte die Rechtsauffassung des Erstgerichts und gab der Berufung des Klägers nicht Folge.

[15] Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, dass der Klage stattgegeben werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[16] Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision des Klägers zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

C. Relevante Rechtsvorschriften

Verordnung 715/2007/EG vom 20. 6. 2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge (VO 715/2007/EG ):

„Artikel 3

Begriffsbestimmungen

Im Sinne dieser Verordnung und ihrer Durchführungsmaßnahmen bezeichnet der Ausdruck:

[...]

10. ꞌAbschalteinrichtungꞌ ein Konstruktionsteil, das die Temperatur, die Fahrzeuggeschwindigkeit, die Motordrehzahl (UpM), den eingelegten Getriebegang, den Unterdruck im Einlasskrümmer oder sonstige Parameter ermittelt, um die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren, wodurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird.

[…]

Artikel 4

Pflichten des Herstellers

[…]

(2) […]

Die von dem Hersteller ergriffenen technischen Maßnahmen müssen außerdem sicherstellen, dass die Auspuff- und Verdunstungsemissionen während der gesamten normalen Lebensdauer eines Fahrzeuges bei normalen Nutzungs-bedingungen entsprechend dieser Verordnung wirkungsvoll begrenzt werden. […]

[…]

Artikel 5

Anforderungen und Prüfungen

(1) Der Hersteller rüstet das Fahrzeug so aus, dass die Bauteile, die das Emissionsverhalten voraussichtlich beeinflussen, so konstruiert, gefertigt und montiert sind, dass das Fahrzeug unter normalen Betriebsbedingungen dieser Verordnung und ihren Durchführungsmaßnahmen entspricht.

(2) Die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, ist unzulässig. Dies ist nicht der Fall, wenn:

a) die Einrichtung notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten;

b) die Einrichtung nicht länger arbeitet, als zum Anlassen des Motors erforderlich ist;

c) die Bedingungen in den Verfahren zur Prüfung der Verdunstungsemissionen und der durchschnittlichen Auspuffemissionen im Wesentlichen enthalten sind.“

 

Verordnung 692/2008/EG der Kommission vom 18. 7. 2008 zur Durchführung und Änderung der VO 715/2007/EG (Durchführungs‑VO)

„Artikel 2

Begriffsbestimmungen

Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck:

[…]

2. ꞌEG‑Typgenehmigung eines Fahrzeugs hinsichtlich der Emissionen und der Reparatur‑ und Wartungsinformationenꞌ die EG‑Typgenehmigung eines Fahrzeugs in Bezug auf Auspuffemissionen, Kurbelgehäuseemissionen, Verdunstungsemissionen, Kraftstoffverbrauch und Zugang zu OBD‑ sowie Reparatur‑ und Wartungsinformationen;

[…]

8. ꞌTyp einer emissionsmindernden Einrichtungꞌ Katalysatoren und Partikelfilter, die sich in folgenden wesentlichen Merkmalen nicht unterscheiden: […]

[…]

Artikel 3

Vorschriften für die Typgenehmigung

1. Für die EG‑Typgenehmigung eines Fahrzeugs hinsichtlich der Emissionen und der Reparatur‑ und Wartungsinformationen weist der Hersteller nach, dass die Fahrzeuge den Prüfanforderungen entsprechen, die in den Anhängen III bis VIII, X bis XII, XIV und XVI dieser Verordnung genannt sind.

[…]

5. Der Hersteller ergreift technische Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass die Auspuff‑ und Verdunstungsemissionen der Fahrzeuge während ihrer gesamten normalen Lebensdauer und bei normaler Nutzung entsprechend den Vorschriften dieser Verordnung wirksam begrenzt werden. […]

6. Der Hersteller gewährleistet, dass die bei der Emissionsprüfung ermittelten Werte unter den in dieser Verordnung angegebenen Prüfbedingungen den geltenden Grenzwert nicht überschreiten.

[…]

9. […]

Bei der Beantragung einer Typgenehmigung belegen die Hersteller der Genehmigungsbehörde jedoch, dass die NOx‑Nachbehandlungseinrichtung nach einem Kaltstart bei ‑7 °C innerhalb von 400 Sekunden eine für das ordnungsgemäße Arbeiten ausreichend hohe Temperatur erreicht, wie in der Prüfung Typ 6 beschrieben.

Darüber hinaus macht der Hersteller der Genehmigungsbehörde Angaben zur Arbeitsweise des Abgasrückführungssystems (AGR), einschließlich ihres Funktionierens bei niedrigen Temperaturen.

Diese Angaben umfassen auch eine Beschreibung etwaiger Auswirkungen auf die Emissionen.

Die Genehmigungsbehörde erteilt keine Typgenehmigung, wenn die vorgelegten Angaben nicht hinreichend nachweisen, dass die Nachbehandlungseinrichtung tatsächlich innerhalb des genannten Zeitraums eine für das ordnungsgemäße Funktionieren ausreichend hohe Temperatur erreicht.

[…]“

 

D. Vorbemerkungen

[17] Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt maßgebend von der Auslegung der angeführten Rechtsvorschriften, insbesondere von Art 3 Nr 10, Art 4 Abs 2, Art 5 Abs 1 und 2 VO 715/2007/EG sowie Art 3 Durchführungs‑VO 692/2008/EG , ab. Nach der Beurteilung des Obersten Gerichtshofs besteht im Hinblick auf die Vorlagefragen kein „acte clair“, weshalb die Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union zur Vorabentscheidung geboten ist.

[18] Im Verfahren ist nicht strittig, dass im Fahrzeug des Klägers ein Dieselmotor vom Typ EA288 verbaut ist, für den die Abgasnorm Euro 6 maßgebend ist. Im Verfahren ist vor allem fraglich, ob beim im Fahrzeug verbauten System der Abgasrückführung (AGR‑System) für die Qualifikation als Abschalteinrichtung im Sinne des Art 3 Z 10 VO 715/2007/EG auf das „Emissionskontrollsystem in seiner Gesamtheit“ oder auf die einzelnen Konstruktionsteile als jeweils einzelne Emissionskontrollsysteme abzustellen ist und ob die Einhaltung der Emissionsgrenzwerte gemäß Anhang I VO 715/2007/EG auch im normalen Fahrbetrieb zu prüfen ist. Weiters stellen sich dabei Fragen im Zusammenhang mit allfälligen unionsrechtlichen Grenzen nationaler Behauptungs- und Beweislastregeln.

E. Begründung der Vorlage

1. Fragen 1.a. und 1.b.

[19] 1.1. Im Klagsfahrzeug wirken nach den für den Obersten Gerichtshof bindenden Feststellungen der Tatsacheninstanzen ein System der Abgasrückführung (AGR‑System) und ein Stickoxidspeicherkatalysator samt Dieselpartikelfilter zusammen; ein System der Abgasnachbehandlung in Form einer selektiven katalytischen Reduktion (SCR‑System) ist hingegen nicht verbaut.

[20] 1.2. Kommen mehrere Systeme zur Abgasreduktion zum Einsatz und greifen sie zur Verringerung desselben Schadstoffs (hier Stickoxide [NOx]) ineinander, ist nach der bisherigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs auf das Gesamtergebnis, also auf das „Emissionskontrollsystem in seiner Gesamtheit“ abzustellen. Das System der Abgasrückführung ist somit nicht isoliert zu betrachten. Für die Qualifikation als Abschalteinrichtung im Sinne des Art 3 Nr 10 VO 715/2007/EG kommt es vielmehr darauf an, ob unter den im (gesamten) Unionsgebiet vernünftigerweise zu erwartenden Bedingungen die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems insgesamt, also unter Einschluss aller Systeme, verringert wird. Dafür ist das Ergebnis des anhand der jeweiligen Parameter veränderten mit jenem des unverändert funktionierenden Gesamtsystems zu vergleichen (10 Ob 34/24h Rz 20; 10 Ob 55/23w Rz 11; 3 Ob 215/23y Rz 17; vgl auch Bundesgerichtshof VIa 335/21 Rn 51).

[21] Bei „Thermofenstern“ bedeutet dies etwa, dass (auch) zu beweisen ist, dass es unter den üblichen bzw vernünftigerweise zu erwartenden klimatischen Bedingungen im Unionsgebiet aktiv ist und dadurch die Wirkung des Emissionskontrollsystems beeinträchtigt (vgl 10 Ob 31/24t Rz 15 mwN), wobei der Oberste Gerichtshof insofern auf absolute Außentemperaturen und nicht auf (europäische oder nationale) Durchschnittswerte abstellt. Davon ausgehend qualifizierte der Oberste Gerichtshof etwa zu 6 Ob 177/23g und 7 Ob 40/24v Temperaturen von ‑10°C und +40°C noch als Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind. Die Verringerung der Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems wird als Verschlechterung der Emissionswerte unter derartigen Bedingungen verstanden, eine Einhaltung der Grenzwerte im Realbetrieb wird vom Obersten Gerichtshof hingegen nicht gefordert.

[22] 1.3. Für diese Ansicht spricht der Wortlaut von Art 3 Nr 10 VO 715/2007/EG , der auf die „Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems“ abstellt, ohne zwischen Art oder Funktion der Emissionskontrolle zu unterscheiden („beliebige[r] Teil des Emissionskontrollsystems“). Auch nach der Durchführungs‑VO 692/2008/EG ist nicht relevant, wie die Emissionen kontrolliert werden. Entscheidend ist die Wirkungsweise des gesamten Emissionskontrollsystems ohne Differenzierung unterschiedlicher Systeme (vgl etwa Art 3 Nr 5 und 6 Durchführungs‑VO 692/2008/EG ).

[23] 1.4. Allerdings ist das Abstellen auf ein „Gesamtsystem“ nach dem Wortlaut und der Zweckrichtung der VO 715/2007/EG nicht zwingend. Der Verordnungstext lässt sich unter Berücksichtigung des Zwecks, ein hohes Umweltschutzniveau sicherzustellen (ErwGr 1) und die Luftqualität zu verbessern (ErwGr 4 ff; s auch EuGH 8. 11. 2022, C‑873/19 , Deutsche Umwelthilfe, Rn 51, 93; 14. 7. 2022, C‑145/20 , Porsche Inter Auto, Rn 66; ua), auch dahin auslegen, dass der Unionsgesetzgeber bei einem Zusammenwirken von mehreren Systemen der Emissionsreduktion nicht von einem (Gesamt‑)Emissionskontrollsystem ausgeht, sondern von mehreren Emissionskontrollsystemen (vgl Art 3 Nr 10: „Konstruktionsteil“; Art 5 Abs 2: „Abschalteinrichtungen“ und „Emissionskontrollsystemen“). Diese Umstände sprechen dafür, unterschiedliche Systeme der Abgasrückführung oder Abgasnachbehandlung jeweils isoliert zu betrachten (Frage 1.a.).

[24] 1.5. Gemäß Art 5 Abs 1 VO 715/2007/EG rüstet der Hersteller das Fahrzeug so aus, dass die Bauteile, die das Emissionsverhalten voraussichtlich beeinflussen, so konstruiert, gefertigt und montiert sind, dass das Fahrzeug unter normalen Betriebsbedingungen dieser Verordnung und ihren Durchführungsmaßnahmen entspricht. Dazu sind in Anhang I der VO 715/2007/EG Grenzwerte für verschiedene schädliche Substanzen angeführt. Nach Art 3 Nr 10 iVm Art 5 Abs 2 VO 715/2007/EG setzt das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung voraus, dass dadurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird, ohne dass auf die Einhaltung von Grenzwerten Bezug genommen wird.

[25] Es stellt sich vorab die Frage 1.b.i., wie der Einschub in Art 3 Nr 10 VO 715/2007/EG im Zusammenhang zu verstehen ist, was insbesondere für die Frage der Beweislast und ihre allfälligen unionsrechtlichen Determinanten von Bedeutung ist.

[26] Es stellen sich weiters die Fragen 1.b.ii. und iii., ob aufgrund des inneren Zusammenhangs von Art 3 Nr 10 und Art 5 Abs 1 und 2 VO 715/2007/EG zum ausdrücklich normierten Definitionsmerkmal einer Abschalteinrichtung, wonach die Wirksamkeit der Emissionskontrolle bei vernünftigerweise zu erwartenden Fahrbedingungen verringert wird, das weitere Definitionsmerkmal, wonach (zumindest) einer der in Anhang I der VO 715/2007/EG angeführten Emissionsgrenzwerte überschritten wird, hinzutreten muss, oder ob der Nachweis eines der beiden Merkmale bereits genügt, um das Vorliegen einer (grundsätzlich) unzulässigen Abschalteinrichtung zu bejahen.

[27] Wenn bereits das Überschreiten der in der Verordnung und ihren Durchführungsmaßnahmen vorgesehenen Emissionsgrenzwerte zur Unzulässigkeit einer Abschalteinrichtung nach Art 5 Abs 2 in Verbindung mit Art 3 Nr 10 VO 715/2007/EG führen würde, könnte man Überlegungen zum Zusammenwirken verschiedener Komponenten eines Emissionskontrollsystems unabhängig von dessen konkretem Aufbau als irrelevant ansehen. In diesem Fall könnten weiters umgekehrt Abschalteinrichtungen aller Art als belanglos angesehen werden, wenn und solange sich deren Funktionsweise und Zusammenspiel nicht dahin auswirkt, dass relevante Grenzwerte überschritten würden.

[28] Andererseits wäre im Fall, dass eine Verknüpfung von Emissionskontrollsystem(en) einerseits und Begrenzung der Emissionen andererseits zu verneinen wäre, auch eine Sichtweise denkbar, dass jede Verringerung der Wirksamkeit der Emissionskontrolle bereits eine (grundsätzlich) unzulässige Abschalteinrichtung wäre, ohne Bedachtnahme darauf, von welchem Niveau des Schadstoffausstoßes aus dies geschieht.

[29] Bedeutung hat die Klärung dieser Frage auch hier insbesondere im Hinblick auf die für das vorliegende Verfahren relevante Problematik der Behauptungs‑ bzw Beweislast für das Vorliegen der Merkmale einer unzulässigen Abschalteinrichtung.

2. Fragen 2.a. bis 2.c.

[30] 2.1. Die Frage, ob für die Qualifikation als Abschalteinrichtung im Sinne des Art 3 Z 10 VO 715/2007/EG darauf abzustellen ist, ob die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems in seiner Gesamtheit, oder darauf, ob die Wirksamkeit einzelner Konstruktionsteile als jeweils eigene Emissionskontrollsysteme verringert wird, hat insbesondere Auswirkungen auf die Behauptungs- und Beweislast:

[31] 2.2. Nach österreichischem Recht hat grundsätzlich jede Partei die für ihren Rechtsstandpunkt günstigen, anspruchsbegründenden (rechtserzeugenden) Tatsachen zu behaupten und zu beweisen (RS0106638; RS0037797). Daraus folgt für die Problematik von unzulässigen Abschalteinrichtungen, dass derjenige, der deren Vorliegen behauptet und daraus Ansprüche ableitet, grundsätzlich auch deren Tatbestandsvoraussetzungen beweisen muss; sein Gegner ist grundsätzlich für diesbezügliche Ausnahmen (anspruchshindernde, anspruchsvernichtende und anspruchshemmende Tatsachen) beweispflichtig.

[32] 2.3. Wer nach nationalem Recht dafür beweispflichtig ist, ob eine Abschalteinrichtung die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems „unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind“, verringert, hängt demnach zunächst davon ab, ob diese Wendung als Tatbestandsvoraussetzung oder als Ausnahme zu werten ist. Auch wenn die Frage der Beweislast mangels Regelung im Unionsrechtsakt in die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten fällt (vgl zB EuGH 10. 6. 2021, C‑776/19 bis C‑782/19 , BNP Paribas Personal Finance SA), ist die mit der Frage 1.b.i. angesprochene Auslegung des Art 3 Nr 10 VO 715/2007/EG unmittelbar für die Beweislast zum Thermofenster und damit für das Ergebnis des gegenständlichen Rechtsstreits relevant.

[33] 2.4. Stellt man auf das Emissionskontrollsystem in seiner Gesamtheit ab, wäre ein den Fahrzeughersteller klagender Käufer nach nationalem Recht dafür behauptungs- und beweispflichtig, dass unter den im (gesamten) Unionsgebiet vernünftigerweise zu erwartenden Bedingungen die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems insgesamt, also unter Einschluss aller Systeme bzw Konstruktionsteile, verringert wird. Nur dann hätte er den Nachweis des Vorliegens einer Abschalteinrichtung im Sinn von Art 3 Nr 10 VO 715/2007/EG erbracht.

[34] Anderenfalls hätte der den Fahrzeughersteller klagende Käufer seine Behauptungs‑ und Beweislast nach nationalem Recht hingegen schon dann erfüllt, wenn er das Vorliegen eines als Abschalteinrichtung im Sinn von Art 3 Nr 10 VO 715/2007/EG zu qualifizierenden Konstruktionsteils behauptet und nachweist (zB ein die Wirksamkeit der Emissionskontrolle bei vernünftigerweise zu erwartenden Fahrbedingungen verringerndes „Thermofenster“ als Teil des AGR‑Systems; vgl auch unten Pkt 2.6. und 3.1.). Dann läge es am beklagten Fahrzeughersteller, zu behaupten und zu beweisen, dass im Fahrzeug weitere Systeme verbaut sind (zB SCR‑System), die die schadstoffbegünstigenden (negativen) Wirkungen des als Abschalteinrichtung qualifizierten Konstruktionsteils ausgleichen.

[35] Die Problematik hat somit mehrere Dimensionen, welche in verschiedenen technischen und Sachverhaltskonstellationen in unterschiedlichem Maße zum Tragen kommen können. Je nach Lage des Falls kann sich etwa die Frage stellen, wer zu behaupten und zu beweisen hat, ob und wie verschiedene Konstruktionsteile oder Systeme überhaupt zusammen‑ und sich im Fahrbetrieb auswirken bzw die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems insgesamt verringern; in anderen Zusammenhängen kann etwa die Frage im Vordergrund stehen, wem der Beweis obliegt, dass sich ein festgestelltes Konstruktionsteil, das zwar auf das Emissionskontrollsystem einwirken kann, sich aber bei normalem Fahrzeugbetrieb nicht auf die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems insgesamt auswirkt, weil zusätzlich noch andere Konstruktionsteile verbaut sind, durch die ein Ausgleich stattfinden könnte (beispielsweise die Kompensation eines [zu] engen „Thermofensters“ etwa von +15°C bis +33°C durch eine uneingeschränkte Abgasnachbehandlung mittels SCR‑System).

[36] 2.5. Bei Abstellen auf das Emissionskontrollsystem in seiner Gesamtheit könnten im Hinblick auf die damit verbundene Beweispflicht des klagenden Käufers wegen praktischer Probleme bei der Feststellung des Emissionskontrollsystems in seiner Gesamtheit (zB dessen mangelnde „Durchschaubarkeit“ selbst für Sachverständige; vgl etwa Pfeffer, Abgasprozesse [Dieselfälle] aus Kfz‑technischer Sicht, ZVR 2025, 65 [68]) Bedenken aufgrund des unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes bestehen.

[37] Nach nationalem Recht kann ein Kläger zur Überwindung von Beweisschwierigkeiten oder Informationsdefiziten vom Beklagten Aufklärung des Sachverhalts und Auskunft über alle den Gegenstand des Rechtsstreits betreffenden Umstände und Beweisgegenstände verlangen (§ 184 Abs 1 ZPO). Der Beklagte ist zur Mitwirkung an der Erforschung der Wahrheit verpflichtet und seine Weigerung, an der Sachverhaltsaufklärung mitzuwirken, kann (muss aber nicht) Anlass für den Tatrichter sein, die entsprechenden Prozessbehauptungen des Klägers für wahr zu halten (6 Ob 177/23g Rz 27; 4 Ob 78/22g Rz 9 ff; 7 Ob 186/10v). Eine solche Sanktion für eine Nichtmitwirkung im Sinne des § 184 Abs 1 ZPO ist daher nicht zwingend, sondern unterliegt (lediglich) der freien richterlichen Beweiswürdigung.

[38] Es stellt sich daher die Frage, ob diese im nationalen Recht vorgesehenen Mitwirkungspflichten im Falle eines beklagten Fahrzeugherstellers aus Sicht des Unionsrechts ausreichen oder ob es das nationale Recht dem Kläger dennoch insgesamt praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert, einen angemessenen Ersatz seines Schadens zu erhalten (vgl EuGH C‑100/21 , Mercedes‑Benz Group AG, Rn 93). Bejaht man Letzteres, könnte die Zuweisung der Beweislast an den beklagten Hersteller unionsrechtlich geboten sein, womit dieser zu beweisen hätte, dass das Gesamtsystem insgesamt zu keiner Verringerung der Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems führt (Frage 2.b.).

[39] 2.6. Ein verwandtes Auslegungsproblem stellt sich im hier zu entscheidenden Fall unmittelbar auch in Ansehung der Beweislast für den Temperaturbereich, in dem das Thermofenster nicht aktiv wäre. Es steht nämlich hier für den Obersten Gerichtshof bindend fest, dass eine temperaturabhängige Reduktion der AGR‑Rate („Thermofenster“) programmiert ist, hinsichtlich der aber nicht feststellbar ist, ob diese in einem größeren Bereich als unter -24°C und über +70°C wirksam ist, insbesondere in Bereichen von -24°C bis +15°C und von +33°C bis +70°C (Frage 2.c.).

[40] 2.7. Bei Beantwortung dieser Fragen ist auch zu bedenken, in welchem Umfang eine solche Beweislastverschiebung oder ‑umkehr auf Grundlage des Unionsrechts geboten wäre: In der Praxis werden gleichgerichtete Klagsansprüche nicht nur – wie hier – gegenüber dem Fahrzeughersteller geltend gemacht, sondern auch gegenüber dem Hersteller eines mit Abschalteinrichtung(en) versehenen, im Fahrzeug eines anderen (oft konzernverbundenen) Fahrzeugherstellers verbauten Motors, oder gegenüber Personen, die dem klagenden Verkäufer das Fahrzeug verkauft haben, wie etwa mit dem Fahrzeug‑ oder Motorhersteller konzernverbundenen gewerblichen Händlern, nicht konzernverbundenen, unabhängigen gewerblichen Händlern oder anderen Privatpersonen.

3. Fragen 3.a. und 3.b.

[41] 3.1. Für das Klagsfahrzeug sind die Grenzwerte gemäß Anhang I, Tabelle 2 (Euro 6‑Emissionsgrenzwerte) der VO 715/2007/EG maßgeblich.

[42] 3.2. Nach der bisherigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs kommt es nicht auf die Einhaltung der Grenzwerte im Realbetrieb an. Für eine Prüfung, ob die Emissionsgrenzwerte trotz Aktivität der Abschalteinrichtung „im realen Straßenverkehr“ eingehalten werden, besteht nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs nämlich keine Rechtsgrundlage. Vielmehr müssen die für Emissionen festgelegten Grenzwerte (nur) unter den in der Durchführungsverordnung angegebenen Prüfbedingungen eingehalten werden (ausführlich 10 Ob 31/23s Rz 34 ff; 10 Ob 55/23w Rz 11; 3 Ob 168/24p Rz 21 ff; 3 Ob 215/23y Rz 13; 5 Ob 102/24x Rz 11 ua; vgl auch BGH VIa 335/21 Rz 51).

[43] 3.3. Dies wird insbesondere mit dem Wortlaut von Art 3 Nr 6 Durchführungs‑VO 692/2008/EG begründet, wonach der Hersteller gewährleistet, dass die bei der Emissionsprüfung ermittelten Werte unter den in dieser Verordnung angegebenen Prüfbedingungen den geltenden Grenzwert nicht überschreiten. Ein Regelungskonzept dahin, dass das Fahrzeug in allen Betriebszuständen – insbesondere im praktischen Fahrbetrieb – die Grenzwerte nicht überschreitet („not-to-exceed“-Regelungskonzept), wurde im Rahmen der VO 715/2007/EG lediglich für die Zukunft erwogen und somit bewusst (noch) nicht eingeführt (ErwGr 15 Satz 4 VO 715/2007/EG ). Um zu gewährleisten, dass die bei der Typengenehmigungsprüfung gemessenen Emissionen denen im praktischen Fahrbetrieb entsprechen, wurde vielmehr die Möglichkeit von Überprüfungen und Anpassungen des Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) vorgesehen (Art 5 Abs 3, Art 14 Abs 3, ErwGr 15 Satz 1 bis 3 sowie ErwGr 26 VO 715/2007/EG ).

[44] 3.4. Gegen diese Rechtsprechung kann ins Treffen geführt werden, dass nach Art 4 Abs 2 VO 715/2007/EG sowie Art 3 Nr 5 DurchführungsVO 692/2008/EG die vom Hersteller ergriffenen technischen Maßnahmen sicherstellen müssen, dass (unter anderem) die Emissionen während der gesamten normalen Lebensdauer eines Fahrzeugs bei normalen Nutzungsbedingungen wirkungsvoll begrenzt werden. Ferner sieht Art 5 Abs 1 VO 715/2007/EG vor, dass der Hersteller die Fahrzeuge so ausrüsten muss, dass die Bauteile, die sich auf das Emissionsverhalten auswirken, es erlauben, dass die Fahrzeuge unter normalen Betriebsbedingungen die in der Verordnung und ihren Durchführungsmaßnahmen vorgesehenen Emissionsgrenzwerte einhalten. Diesen Bestimmungen lassen sich keine Anhaltspunkte für eine Differenzierung zwischen der Funktionsweise einer Einrichtung während der Phase der Zulassungstests einerseits und im Betrieb unter normalen Nutzungsbedingungen der Fahrzeuge andererseits entnehmen (siehe EuGH C‑128/20 , GSMB Invest, Rn 42 f). Der Einbau einer Einrichtung, die die Einhaltung der in der VO 715/2007/EG vorgesehenen Grenzwerte nur während der Phase des Zulassungstests sicherstellen könnte, obwohl diese Testphase normale Nutzungsbedingungen des Fahrzeugs nicht nachstellen könnte, liefe möglicherweise der Verpflichtung zuwider, bei normalen Nutzungsbedingungen des Fahrzeugs eine wirkungsvolle Begrenzung der Emissionen sicherzustellen und widerspräche den Zwecken der VO 715/2007/EG (Sicherstellung eines hohen Umweltschutzniveaus [ErwGr 1], Verbesserung der Luftqualität [ErwGr 4 ff]).

[45] 3.5. Auch in diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob aufgrund Unionsrechts eine Beweislastumkehr geboten ist (Frage 3.b.; vgl oben Pkt 2.4. und 2.6.; vgl auch die Überlegungen zum Umfang eines solchen Gebots oben Pkt 2.7.).

Zu II.:

[46] Der Ausspruch über die Aussetzung des Verfahrens bis zur Erledigung des Vorabentscheidungsersuchens gründet sich auf § 90a Abs 1 GOG.

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