European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0150OS00162.24Y.0226.000
Rechtsgebiet: Strafrecht
Fachgebiet: Sexualdelikte
Spruch:
Im Verfahren AZ 13 Hv 4/20f des Landesgerichts St. Pölten verletzen
1./ die Note an * B* vom 29. März 2022 (ON 463 S 9) § 61 Abs 3 erster Satz StPO;
2./ der Beschluss auf Beigebung eines Amtsverteidigers vom 11. April 2022 (ON 465) § 61 Abs 3 zweiter Satz StPO.
Die Beschlüsse vom 11. April 2022 und vom 17. Juni 2024 (ON 556) werden (ersatzlos) aufgehoben.
Gründe:
[1] Mit Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Schöffengericht vom 17. Februar 2021, GZ 13 Hv 4/20f‑444, wurde * B* des Verbrechens des sexuellen Missbrauchs einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person nach §§ 2, 205 Abs 1 StGB und weiterer strafbarer Handlungen schuldig erkannt.
[2] Gegen dieses Urteil erhob die Genannte Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung (ON 446, ON 455).
[3] Mit Eingabe vom 28. März 2022 gab der Wahlverteidiger der B* die Auflösung des Vollmachtsverhältnisses bekannt (ON 461). Daraufhin übermittelte die Vorsitzende des Schöffengerichts am 29. März 2022 folgende Note an die Angeklagte: „In gegenständlicher Strafsache ergeht der Hinweis auf die notwendige Verteidigung im Rechtsmittelverfahren auf Grund der Anmeldung der Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung gegen das Urteil des Schöffengerichtes. Frist: 8 Tage“ (AB‑Bogen S 221 und ON 463 S 9).
[4] Mit Beschluss des Landesgerichts St. Pölten vom 11. April 2022 (ON 465) wurde B* von Amts wegen ein Verteidiger nach § 61 Abs 3 „erster Fall“ StPO beigegeben. Begründend führte das Gericht aus, dass die Beigebung eines Amtsverteidigers erforderlich sei, weil notwendige Verteidigung nach § 61 Abs 1 StPO vorliege und weder die Beschuldigte noch ihr gesetzlicher Vertreter binnen angemessener Frist einen Verteidiger bevollmächtigt habe. Weiters wurde festgehalten, dass die Beschuldigte die Kosten für dessen Einschreiten zu tragen habe. Der Beschluss erwuchs unbekämpft in Rechtskraft.
[5] Mit Bescheid der Rechtsanwaltskammer Niederösterreich vom 11. April 2022 wurde Rechtsanwalt Dr. * H* zum Amtsverteidiger bestellt (ON 467), mit Bescheid vom 16. August 2023 (ON 509) erfolgte eine Umbestellung auf Rechtsanwalt Dr. * W*.
[6] Mit Urteil vom 8. März 2023, AZ 15 Os 38/22k, hob der Oberste Gerichtshof – soweit hier relevant – gemäß § 290 Abs 1 zweiter Satz StPO das angefochtene Urteil betreffend die Angeklagte B* in einzelnen Schuldspruchpunkten und demgemäß auch im Strafausspruch auf und verwies die Sache in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht St. Pölten.
[7] Mit Urteil vom 31. August 2023 (ON 511) setzte das Landesgericht St. Pölten als Schöffengericht für die demnach rechtskräftigen Punkte des Schuldspruchs des Urteils des Landesgerichts St. Pölten vom 17. Februar 2021 die Strafe betreffend B* fest.
[8] Gegen dieses Urteil richtete sich die Nichtigkeitsbeschwerde der Angeklagten, welche der Oberste Gerichtshof mit Beschluss vom 14. Dezember 2023, AZ 15 Os 141/23h, zurückwies. Das Oberlandesgericht Wien gab der Berufung der Genannten mit Urteil vom 6. März 2024, AZ 19 Bs 7/24d, nicht Folge.
[9] Mit Schriftsatz vom 23. April 2024 (ON 541) beantragte Dr. W*, seine Entlohnung als Amtsverteidiger mit 9.607,96 Euro festzusetzen und B* zum Ersatz zu verpflichten.
[10] Mit Beschluss vom 17. Juni 2024 (ON 556)bestimmte das Landesgericht St. Pölten die von der Genannten zu ersetzenden Kosten des Verteidigers gemäß § 395 Abs 5 StPO mit 9.560,60 Euro.
[11] Über die dagegen von ihr erhobene Beschwerde (ON 563) hat das Oberlandesgericht Wien (AZ 19 Bs 144/24a) noch nicht entschieden.
Rechtliche Beurteilung
[12] Wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt, stehen im Verfahren AZ 13 Hv 4/20f des Landesgerichts St. Pölten die Note an B* vom 29. März 2022 (ON 463 S 9) und der Beschluss auf Beigebung eines Amtsverteidigers vom 11. April 2022 (ON 465) mit dem Gesetz nicht in Einklang.
[13] Gemäß § 61 Abs 3 erster Satz StPO sind in den Fällen des Abs 1 (notwendige Verteidigung), sohin unter anderem im Rechtsmittelverfahren aufgrund einer Anmeldung einer Nichtigkeitsbeschwerde oder einer Berufung gegen ein Urteil des Schöffen- oder des Geschworenengerichts (Abs 1 Z 6 leg cit), der Beschuldigte und sein gesetzlicher Vertreter aufzufordern, einen Verteidiger zu bevollmächtigen oder die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers nach Abs 2 zu beantragen.
[14] Die von der Vorsitzenden des Schöffengerichts am 29. März 2022 im Hinblick auf das Vorliegen notwendiger Verteidigung nach § 61 Abs 1 StPO und mangels aufrechten Vollmachtsverhältnisses gemäß § 61 Abs 3 StPO an B* übermittelte Note enthielt jedoch entgegen der ausdrücklichen Anordnung in dessen erstem Satz nicht den Hinweis auf die Möglichkeit einer Antragstellung auf Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers.
[15] Bevollmächtigt weder der Beschuldigte noch sein gesetzlicher Vertreter für ihn einen Verteidiger, so hat ihm das Gericht von Amts wegen mit Beschluss einen Verteidiger beizugeben, dessen Kosten er zu tragen hat (Amtsverteidiger), soweit nicht die Voraussetzungen des Abs 2 erster Satz (Verfahrenshilfeverteidiger) vorliegen (§ 61 Abs 3 zweiter Satz StPO).
[16] Mangels amtswegiger Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 61 Abs 2 StPO sowie aufgrund fehlender gesetzeskonformer Aufforderung (§ 61 Abs 3 erster Satz StPO) war die – der Angeklagten Kosten verursachende – Beigebung eines Verteidigers gemäß § 61 Abs 3 zweiter Satz StPO unzulässig (RIS‑Justiz RS0119765 [T2]; Soyer/Schumann, WK‑StPO § 61 Rz 92).
[17] Die Aufforderung vom 29. März 2022 verletzt daher das Gesetz in § 61 Abs 3 erster Satz StPO, der Beschluss vom 11. April 2022 in § 61 Abs 3 zweiter Satz StPO.
[18] Da ein aus der kostenpflichtigen Beigebung eines Amtsverteidigers resultierender Nachteil für B* nicht auszuschließen ist, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, die Feststellung der Gesetzesverletzung mit konkreter Wirkung zu verbinden (§ 292 letzter Satz StPO) und den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten auf Beigebung eines Amtsverteidigers vom 11. April 2022 ersatzlos aufzuheben.
[19] Mit der Aufhebung des Beigebungsbeschlusses wird dem Kostenbestimmungsbeschluss (ON 556) die Grundlage entzogen. Er war zur Klarstellung zu beseitigen (vgl RIS‑Justiz RS0100444). Die dagegen erhobene Beschwerde ist damit gegenstandslos.
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