OGH 1Ob136/24t

OGH1Ob136/24t25.2.2025

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Musger als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Wessely‑Kristöfel, Dr. Parzmayr und Dr. Pfurtscheller als weitere Richterinnen und Richter in der Rechtssache der klagenden Partei C* H*, vertreten durch die Poduschka Partner Anwaltsgesellschaft mbH in Linz, gegen die beklagte Partei G* GmbH *, Deutschland, vertreten durch die Wolf Theiss Rechtsanwälte GmbH & Co KG in Wien, wegen 12.399 EUR sA, über die Revisionen beider Parteien gegen das Urteil des Landesgerichts Steyr als Berufungsgericht vom 23. Mai 2024, GZ 2 R 24/24s‑25, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Steyr vom 24. November 2023, GZ 21 C 43/23k‑17, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0010OB00136.24T.0225.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiete: Konsumentenschutz und Produkthaftung, Unionsrecht, Zivilverfahrensrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

I. Die Revision der klagenden Partei wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 992,41 EUR (darin enthalten 158,45 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

II. Das Verfahren über die Revision der beklagten Partei wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) über das Vorabentscheidungsersuchen vom 27. Oktober 2023 des Landgerichts Ravensburg (Deutschland), Rechtssache C‑666/23 , unterbrochen.

Nach Vorliegen der Vorabentscheidung wird das Verfahren von Amts wegen fortgesetzt.

 

Begründung:

[1] Der Kläger erwarb am 10. 9. 2013 einen von der Beklagten hergestellten Opel Zafira Tourer Sport 2,0 CDTI mit einem Dieselmotor der Abgasklasse Euro 5 um 41.330 EUR.

[2] Bei der Beklagten ist ein „Compliance‑Board“ mit Teilnehmern aus dem „Emissionsfachbereich“, der Rechtsabteilung und der Typgenehmigungsabteilung eingerichtet. In diesem Kollegium wurden jeweils die Emissionsstrategien besprochen und genehmigt. Auf diese Weise wollte die Beklagte sicherstellen, dass sie die für die Typgenehmigung geltenden Normen mit ihren Abgasstrategien einhält. Ihre Typgehmigungsabteilung war im Austausch mit externen technischen Prüfdiensten, mit denen auch Fragen und Interpretationen von maßgeblichen Rechtstexten besprochen wurden. Ihr „Compliance‑Board“ genehmigte die im Fahrzeug verbaute Abgasstrategie. Zuvor hatten auch die externen Prüfstellen keine Bedenken an der Zulässigkeit des Emissionssystems geäußert, wobei diese externen Prüfstellen jedoch ebenso wenig wie das KBA alle internen Unterlagen der Beklagten vom Emissionssystem zur Verfügung gehabt hatten. Von diesen externen Prüfstellen wurden auch keine Prüfungen hinsichtlich des AGR‑Systems bei unterschiedlichen Temperaturen vorgenommen. Entsprechend dem damaligen allgemeinen Verständnis der Motorenindustrie wurden die maßgeblichen Bestimmungen betreffend Abschalteinrichtungen vom „Compliance‑Board“ so ausgelegt, dass unter normalen Betriebsbedingungen die beim Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) vorgeschriebenen zu verstehen sind. Aufgrund von Versottungsproblemen betreffend AGR‑Ventil und AGR‑Kühler bei sehr hohen oder sehr niedrigen Temperaturen hielt auch das „Compliance‑Board“ die im Fahrzeug verbauten Abschalteinrichtungen (Thermofenster, Höhenkorrektur, Korrektur über Motordrehzahl) zur Vermeidung von Ausfällen des AGR‑Systems für zulässig.

[3] Im Fahrzeug ist eine temperaturabhängige Abgasrückführung (AGR) – ein sogenanntes „Thermofenster“ – implementiert. Die temperaturabhängige Abschalteinrichtung „rampt“ unterhalb einer Umgebungslufttemperatur von „+15 Grad bzw +17 Grad“ Celsius „aus“, unterhalb von ‑ 10 Grad Celsius und oberhalb von + 40 Grad Celsius Umgebungslufttemperatur wird die AGR gänzlich unterbunden.

[4] Das Fahrzeug enthält auch eine sogenannte Höhenabschaltung. Die AGR wird oberhalb von 900 Höhenmetern bzw einem Luftdruck von 91 kPa gänzlich deaktiviert. Zudem wird bei einer Motordrehzahl oberhalb von 3.200 UpM die AGR reduziert und bei 3.300 UpM gänzlich ausgeschaltet. Ein Drehzahlbereich zwischen 2.000 und 4.000 UpM ist bei einem Dieselmotor ganz normal.

[5] Der Kläger ging beim Kauf davon aus, dass das Fahrzeug die relevanten Abgasnormen einhält. Hätte er gewusst, dass dies nicht der Fall ist, hätte er das Fahrzeug nicht gekauft.

[6] Der Kläger begehrte von der Beklagten zuletzt die Zahlung von 12.399 EUR sA. Die Beklagte hafte – gestützt auf Schutzgesetzverletzung und Arglist – infolge Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung für den Klagebetrag (Minderwert von 30 %). Im Fahrzeug seien mehrere unzulässige Abschalteinrichtungen verbaut: die Abgasrückführung (AGR) sei lediglich in einem Temperaturbereich von + 17 Grad Celsius bis in etwa + 33 Grad Celsius voll funktionsfähig und werde außerhalb dieses Bereichs sukzessive reduziert; die AGR werde bei einer Motordrehzahl oberhalb von 2.400 UpM reduziert und erst wieder erhöht, wenn die Drehzahl von 1.250 Umdrehungen unterschritten werde. Zusätzlich gäbe es eine unzulässige Höhenabschaltung, die über 1.000 Höhenmeter aktiviert werde, also die AGR deaktiviere.

[7] Die Beklagte wendete ein, sie habe weder irgendwelche Manipulationen vorgenommen noch den Kläger oder das KBA als Typgenehmigungsbehörde arglistig getäuscht oder den Kläger sittenwidrig vorsätzlich geschädigt. Eine Offenlegung der Abgasstrategie gegenüber der Behörde sei (gesetzlich noch) nicht notwendig gewesen; sie habe alle erforderlichen Angaben und Nachweise korrekt gemacht und erbracht. Das KBA habe das Fahrzeug trotz Überprüfungen des Motortyps nie beanstandet, es sei daher von einer „hypothetischen Genehmigung“ auszugehen. Ihr Verschulden sei ausgeschlossen.

[8] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren mit 4.133 EUR sA statt und wies das Mehrbegehren von 8.266 EUR sA ab. Das Fahrzeug verfüge über unzulässige Abschalteinrichtungen in Form von Thermofenster, Höhenabschaltung und Reduzierung der AGR ab einer Motordrehzahl von 3.200 UpM. Die Beklagte hafte infolge Schutzgesetzverletzung für den nach § 273 ZPO ausgemittelten Minderwert des Fahrzeugs von 10 % des Kaufpreises von 4.133 EUR.

[9] Das Berufungsgericht gab den Berufungen beider Parteien nicht Folge und erklärte die ordentliche Revision für zulässig.

[10] Rechtlich führte es aus, die Festsetzung der Höhe des Minderwerts im Sinn des § 273 Abs 1 ZPO sei nicht zu beanstanden. Infolge des Thermofensters und der Höhenabschaltung liege eine unzulässige Abschalteinrichtung vor. Bei Erwerb eines mit einer im Sinn des Art 5 VO 715/2007/EG unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Fahrzeugs bestehe das geringere rechtliche Interesse – den unionsrechtlichen Vorgaben entsprechend – in der (objektiv) eingeschränkten Nutzungsmöglichkeit. Dieser Schaden trete bereits durch den Kaufvertrag ein.

[11] Das Vorbringen der Beklagten enthalte keine Ausführungen zu konkreten und stichhaltigen Umständen, die ihr Verhalten nicht als fahrlässig erscheinen ließen. Es lasse sich nicht ausreichend erkennen, in Kenntnis welcher Fakten die zuständige Typgenehmigungsbehörde – allenfalls rechtswidrig – welche vorhandenen Einrichtungen gebilligt hätte und ob die Beklagte einem der Rechtsansicht der Behörde entsprechenden Rechtsirrtum unterlegen sei. Es stehe nicht fest, zu welchem Zeitpunkt und auf Basis welcher konkreter Informationen die Typgenehmigungsbehörde welchen Kenntnisstand gehabt habe und welche Rechtsansicht gegenüber der Beklagten geäußert habe. Daher sei vom Verschulden der Beklagten an der vorgeworfenen Schutzgesetzverletzung auszugehen.

[12] Das Berufungsgericht erklärte die ordentliche Revision mit der (zusammengefassten) Begründung für zulässig, dass die Schadensberechnung zur Haftung eines Fahrzeugherstellers wegen Schutzgesetzverletzung einer Klärung bedürfe.

[13] Gegen diese Entscheidung richten sich die – jeweils von der Gegenpartei beantworteten – Revisionen beider Parteien, mit der der Kläger einen weiteren Zuspruch von „8.266,43 EUR“ sA und die Beklagte die Abweisung des Klagebegehrens anstrebt.

Rechtliche Beurteilung

[14] I. Die Revision des Klägers ist mangels Darlegung einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung nicht zulässig.

[15] 1. Ob § 273 ZPO anzuwenden ist, ist eine rein verfahrensrechtliche Frage. Wurde die Anwendbarkeit des § 273 ZPO zu Unrecht bejaht, muss dies mit Mängelrüge bekämpft werden (RS0040282). Das Berufungsgericht hat die Vorgangsweise des Erstgerichts, den begehrten Schadenersatz – trotz Vorliegen eines Sachverständigengutachtens – nach § 273 ZPO festzusetzen, ausdrücklich gebilligt und die vom Kläger insoweit erhobene Mängelrüge verworfen. Ein vom Berufungsgericht verneinter Verfahrensmangel kann aber in dritter Instanz nicht mehr erfolgversprechend geltend gemacht werden (RS0042963). Dieser Grundsatz kann auch nicht durch die Behauptung, das Berufungsverfahren sei – weil das Berufungsgericht der Mängelrüge nicht folgte – mangelhaft geblieben, umgangen werden (RS0042963 [T58]).

[16] 2. Nach gefestigter höchstgerichtlicher Rechtsprechung ist der primär nach unionsrechtlichen Anforderungen zu bestimmende Ersatz des Minderwerts im Sinn des § 273 Abs 1 ZPO nach freier Überzeugung innerhalb einer Bandbreite von 5 % bis 15 % des vom Kläger gezahlten und dem Wert des Fahrzeugs angemessenen Kaufpreises festzusetzen ist. Dabei kann auch ein von einer Partei angebotener Beweis (Sachverständigengutachten) übergangen werden (RS0134498). Bei Feststellbarkeit des Minderwerts des angekauften Fahrzeugs im Ankaufszeitpunkt ist jener zu ersetzen (RS0134498 [T6]). Ist dies – wie hier – nicht der Fall, ist auf die Ausmittlung in der Bandbreite von 5 % bis 15 % zurückzugreifen. Die vom Kläger allein beanstandete Vorgangsweise der Vorinstanzen, die unter Anwendung des § 273 Abs 1 ZPO den Minderwert mit 10 % des Kaufpreises festsetzten, ist daher durch höchstgerichtliche Rechtsprechung gedeckt.

[17] 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 41 und § 50 ZPO. Die Beklagte wies auf die fehlende Zulässigkeit der Revision hin und hat damit Anspruch auf Ersatz der Kosten ihrer Revisionsbeantwortung.

[18] Leistungen eines österreichischen Rechtsanwalts für eine ausländische Unternehmerin unterliegen allerdings nicht der österreichischen Umsatzsteuer. Verzeichnet der österreichische Anwalt – kommentarlos – 20 % Umsatzsteuer, wird im Zweifel nur die österreichische Umsatzsteuer angesprochen. Die zu entrichtende ausländische Umsatzsteuer kann nur zugesprochen werden, wenn Entsprechendes behauptet und bescheinigt wird (§ 54 Abs 1 ZPO) oder die Höhe des ausländischen Umsatzsteuersatzes allgemein bekannt ist (RS0114955). Da im Fall der Bundesrepublik Deutschland Letzteres der Fall ist, ist der dort ansässigen Beklagten (nur) die in Deutschland zu entrichtende Umsatzsteuer von bekanntermaßen 19 % zuzusprechen (RS0114955 [T10, T12]).

[19] II. Das Verfahren über die Revision der Beklagten ist zu unterbrechen.

[20] 1. Im Verfahren 2 O 331/19 ua hat das Landgericht Ravensburg (Deutschland) am 27. 10. 2023 dem Gerichtshof der Europäischen Union (C‑666/23 ) folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

„1. Kann der Schadenersatzanspruch des Fahrzeugerwerbers gegen den Fahrzeughersteller wegen fahrlässigen Inverkehrbringens eines Fahrzeugs mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 mit der Begründung verneint werden,

a) dass ein unvermeidbarer Verbotsirrtum des Herstellers vorliege?

wenn ja:

b) dass der Verbotsirrtum für den Hersteller unvermeidbar sei, da die für die EG‑Typgenehmigung oder für anschließende Maßnahmen zuständige Behörde die eingebaute Abschalteinrichtung tatsächlich genehmigt hat?

wenn ja:

c) dass der Verbotsirrtum für den Hersteller unvermeidbar sei, da die Rechtsauffassung des Fahrzeugherstellers von Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 bei entsprechender Nachfrage von der für die EG‑Typgenehmigung oder für anschließende Maßnahmen zuständigen Behörde bestätigt worden wäre (hypothetische Genehmigung)?“

[21] 2. Auch im vorliegenden Fall ist die Beantwortung dieser Vorlagefragen von Relevanz für die Entscheidung über die Revision der Beklagten.

[22] 3. Der Oberste Gerichtshof hat von einer allgemeinen Wirkung der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union auszugehen und diese auch für andere Fälle als den unmittelbaren Anlassfall anzuwenden. Aus prozessökonomischen Gründen ist das Verfahren daher zu unterbrechen (RS0110583).

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte