OGH 1Ob3/25k

OGH1Ob3/25k25.2.2025

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Musger als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Wessely‑Kristöfel, Dr. Parzmayr und Dr. Pfurtscheller als weitere Richterinnen und Richter in der Erwachsenenschutzsache des M*, vertreten durch Ing. Mag. Gerd Rigerl, LL.M., Rechtsanwalt in Wien, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Betroffenen gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 17. September 2024, GZ 42 R 317/24i‑26, mit welchem der Beschluss des Bezirksgerichts Hernals vom 29. Mai 2024, GZ 36 P 106/23a‑20, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0010OB00003.25K.0225.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Erwachsenenschutzrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird teilweise Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass die Erwachsenenvertreterin nur für folgende Angelegenheiten bestellt wird: Vertretung des Betroffenen in behördlichen und gerichtlichen Verfahren in Zusammenhang mit seiner Wohnversorgung und seinen Pensionsansprüchen, Unterstützung und Vertretung bei einer dauerhaften Änderung des Wohnorts.

 

Begründung:

[1] Der Betroffene leidet an einer wahnhaft psychotischen Symptomatik, aufgrund der er zeitweise keinen Überblick über komplexere Angelegenheiten gewinnen kann. Aufgrund von Mietzinsrückständen und des Vorwurfs des unleidlichen Verhaltens gegenüber Nachbarn ist ein gerichtliches Aufkündigungsverfahren gegen ihn anhängig, das bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Erwachsenenschutzverfahren gemäß § 6a ZPO unterbrochen wurde. Er beabsichtigt eine Änderung des Wohnorts und das Geltendmachen von Pensionsansprüchen, wofür er aufgrund seines Krankheitsbildes Unterstützung bedarf.

[2] Das Erstgericht bestellte für den Betroffenen eine gerichtliche Erwachsenenvertreterin mit folgendem Wirkungsbereich: „Vertretung in finanziellen Angelegenheiten und Vermögensverwaltung, allenfalls Schuldenregulierung; Vertretung vor Ämtern, Behörden, Gerichten, Sozialversicherungsträgern und privaten Ansprechpartnern; Vertretung bei einer dauerhaften Änderung des Wohnorts“.

[3] Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Betroffenen keine Folge und ließ den ordentlichen Revisionsrekurs nicht zu.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs des Betroffenen, mit dem er die ersatzlose Behebung des Beschlusses des Erstgerichts anstrebt; hilfsweise stellt er einen Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag.

Rechtliche Beurteilung

[4] Der Revisionsrekurs ist aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig, weil die Festlegung des Wirkungsbereichs der Erwachsenenvertreterin nicht von den Feststellungen der Vorinstanzen gedeckt ist. Er ist aus diesem Grund teilweise berechtigt.

[5] 1. In seinem Revisionsrekurs führt der Betroffene aus, den Feststellungen des Erstgerichts lasse sich weder entnehmen, welche konkreten Angelegenheiten gegenwärtig zu besorgen seien noch welche konkreten Gefahren bestehen würden. Die vom Wirkungsbereich der gerichtlichen Erwachsenenvertreterin umfassten Angelegenheiten seien auch nicht hinreichend bestimmt bezeichnet worden.

[6] 2. Die Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters setzt nach § 271 ABGB insbesondere voraus, dass die betroffene Person aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer vergleichbaren Beeinträchtigung ihrer Entscheidungsfähigkeit bestimmte Angelegenheiten nicht ohne Gefahr eines Nachteils für sich selbst besorgen kann. Nach § 272 Abs 1 ABGB darf der Erwachsenenvertreter nur für einzelne oder Arten von gegenwärtig zu besorgenden und bestimmt zu bezeichnenden Angelegenheiten bestellt werden. Diese Angelegenheiten müssen aktuell oder in naher Zukunft zu besorgen sein(3 Ob 212/18z; 1 Ob 41/22v; Barth/Koza in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang3 [2020] § 272 ABGB Rz 5 ff). Dabei ist – auch zur Vermeidung eines „Einschränkungs- und Ausdehnungs-Ping-Pongs“ – einzuschätzen, ob und welche Angelegenheiten in absehbarer Zeit anfallen werden (8 Ob 6/19v [zur Einschränkung der Erwachsenenvertretung]; Stefula in KBB7 § 272 ABGB Rz 1).

[7] 3. Schon für die Einleitung eines Erwachsenenschutzverfahrens ist nach der Rechtsprechung ein Mindestmaß an nachvollziehbarem Tatsachensubtrat erforderlich, aus dem sich das Vorliegen entsprechender Anhaltspunkte für die Notwendigkeit der Bestellung eines Erwachsenenvertreters ergibt (RS0008542 [T1]; 8 Ob 92/19s; 1 Ob 20/21d; 4 Ob 116/24y). Umso mehr muss ein solches Tatsachensubstrat für die Bestellung eines Erwachsenenvertreters selbst und für die Festlegung seines Wirkungsbereichs vorhanden sein (4 Ob 75/20p mwN; Weitzenböck in Schwimann/Kodek,Praxiskommentar5 § 272 Rz 2; zum Erfordernis konkreter Feststellungen auch Stefula in KBB7 § 272 ABGB Rz 1).

[8] 4. Auf dieser Grundlage haben die Vorinstanzen zwar zutreffend eine gerichtliche Erwachsenenvertreterin bestellt, sie haben aber den Wirkungsbereich zu weit gefasst.

[9] 4.1. Ein aktueller Unterstützungsbedarf besteht aufgrund der festgestellten psychischen Erkrankung des Betroffenen in behördlichen und gerichtlichen Verfahren, die seine Wohnversorgung und seine pensionsrechtlichen Ansprüche betreffen; weiters bei der dauerhaften Verlegung des Wohnorts. Im anhängigen Aufkündigungsverfahren droht seine Delogierung, weiters sind pensionsrechtliche Ansprüche geltend zu machen. Dass die dauerhafte Verlegung des Wohnorts zumindest in naher Zukunft bevorsteht, wird vom Betroffenen nicht in Abrede gestellt, sondern entspricht seinem ausdrücklichen Wunsch. Die Erwachsenenvertreterin ist für diese Angelegenheiten zu bestellen.

[10] 4.2. Hingegen ist nicht erkennbar, in welchen anderen Verfahren vor „Gerichten, Ämtern und Behörden“ der Betroffene einer Unterstützung bedürfte. Auch in Bezug auf die „Vertretung vor privaten Ansprechpartnern“ fehlt es gänzlich an konkreten Anhaltspunkten für die Notwendigkeit der Bestellung einer Erwachsenenvertreterin, zudem sind diese Angelegenheiten nicht ausreichend konkret bestimmt. Es ist nicht klar, was mit der „Vertretung vor privaten Ansprechpartnern“ gemeint sein könnte und welche konkreten Angelegenheiten erfasst sein sollen.

[11] 4.3. Für den Wirkungsbereich „Vertretung in finanziellen Angelegenheiten und in der Vermögensverwaltung, allenfalls Schuldenregulierung“ fehlt es ebenfalls am erforderlichen Tatsachensubstrat. Weder aus den Feststellungen noch aus dem Akteninhalt ergeben sich konkrete Anhaltspunkte, dass der Betroffene seine finanziellen Angelegenheiten nicht ohne Gefahr eines Nachteils für sich selbst regeln könnte. Der bei Einleitung des gerichtlichen Aufkündigungsverfahrens am 5. August 2023 bestehende Mietzinsrückstand von 1.367,67 EUR wurde vom Betroffenen noch vor der Verhandlung vom 9. Oktober 2023 bezahlt. Darüber hinausgehende Schulden sind dem Akteninhalt nicht zu entnehmen.

[12] 5. Dem Revisionsrekurs des Betroffenen ist daher teilweise Folge zu geben. Die gerichtliche Erwachsenenvertreterin ist (nur) für folgende Angelegenheiten zu bestellen: Vertretung des Betroffenen in behördlichen und gerichtlichen Verfahren in Zusammenhang mit seiner Wohnversorgung und seinen Pensionsansprüchen, Unterstützung und Vertretung bei einer dauerhaften Änderung des Wohnorts.

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