OGH 9Ob4/25s

OGH9Ob4/25s13.2.2025

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht durch den Senatspräsidenten Mag. Ziegelbauer als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Hargassner, Mag. Korn, Dr. Stiefsohn und Dr. Wallner‑Friedl in der Pflegschaftssache des mj J*, wegen Obsorge, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters M*, vertreten durch Mag. Dr. Elmar Reinitzer, Rechtswanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 18. September 2024, GZ 48 R 224/24g‑65, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0090OB00004.25S.0213.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

[1] 1. Bei der Entscheidung über die Obsorge für ein Kind ist ausschließlich dessen Wohl, welches dem Elternrecht vorgeht (RS0118080), maßgebend, wobei nicht nur von der momentanen Situation ausgegangen werden darf, sondern auch Zukunftsprognosen zu stellen sind (RS0106312; RS0048632). In Entsprechung des Grundsatzes der Familienautonomie soll den Familienmitgliedern die Obsorge solange gewahrt bleiben, als sich das mit dem Kindeswohl verträgt. Eine Beschränkung oder Übertragung der Obsorge darf nur das letzte Mittel sein und nur insoweit angeordnet werden, als dies zur Abwendung einer drohenden Gefährdung des Kindeswohls notwendig ist (RS0048712 [T1, T10]; RS0048736 [T1, T2, T5]; RS0132193).

[2] 2. Eine Gefährdung des Kindeswohls ist dann gegeben, wenn die Obsorgeberechtigten ihre Pflichten objektiv nicht erfüllen oder diese subjektiv gröblich vernachlässigen und durch ihr Verhalten schutzwürdige Interessen des Kindes wie die physische oder psychische Gesundheit, die altersgemäße Entwicklung und Entfaltungsmöglichkeiten oder die soziale Integration oder die wirtschaftliche Sphäre des Kindes konkret gefährden (RS0048633 [T19, T22]). Dazu gehört auch das Nichtbewältigen von Erziehungsaufgaben (RS0048633 [T18]). Es genügt die objektive Nichterfüllung oder Vernachlässigung, ohne dass ein subjektives Schuldelement hinzutreten muss (RS0048633 [T16, T17, T19]).

[3] 3. Entscheidungen über die Obsorge hängen regelmäßig von den Umständen des Einzelfalls ab, denen keine erhebliche Bedeutung im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG zuerkannt werden kann, es sei denn, dass bei dieser Entscheidung das Wohl des Kindes nicht ausreichend beachtet worden wäre (RS0115719; RS0007101). Dies ist hier nicht der Fall.

[4] 4. Nach den Feststellungen wurdeder 16‑jährige J* bereits im November 2015 im Rahmen der freiwilligen Erziehungshilfe in die volle Erziehung des * Kinder- und Jugendhilfeträger (KJHT) übernommen. Er wird in einer Wohngemeinschaft betreut und besucht seit Juli 2023 die Tagesstruktur *. Er leidet an tuberöser Sklerose, an einer kombinierten umschriebenen Entwicklungsstörung und an Epilepsie. Das derzeitige stabile pädagogische Umfeld ist für die weitere Entwicklung von J* unerlässlich. Die Mutter ist schon aufgrund ihrer eigenen Erkrankung nicht in der Lage, ausreichend für ihren Sohn zu sorgen. Der Vater kann die Bedürfnisse, das Krankheitsbild sowie den Unterstützungs‑ und Förderbedarf von J* nicht adäquat einschätzen. Im Falle einer Rückführung des Kindes in den Haushalt seiner Eltern besteht erneut die Gefahr, dass das Wohl des Kindes infolge Überforderung des Vaters, fehlender Alltagsstruktur und mangelnder Förderung gefährdet ist.

[5] 5. Die angefochtene Entscheidung, mit der die Obsorge für den mj J* im Bereich Pflege und Erziehung den Eltern entzogen und an die Stadt * als KJHT übertragen wurde, bewegt sich im Rahmen der Grundsätze der Rechtsprechung. Die Übertragung der Obsorge erfolgt vorrangig nicht deshalb, weil die Eltern durch ihr bisheriges Verhalten das Wohl des Kindes beeinträchtigt haben, sondern weil die Gefahr besteht, dass ihr Sohn in ihrem Haushalt das für ihn unbedingt erforderliche stabile pädagogische Umfeld, das er derzeit durch die Wohngemeinschaft und die Tagesstruktur hat, nicht vorfindet und damit nicht die Förderung erhält, die er für seine persönliche Entwicklung unbedingt benötigt. Dass die vom Vater vorgeschlagenen gelinderen Mittel, nämlich ohne Entziehung der Obsorge unter Mithilfe und Unterstützung des KJHT in der Wohnung der Eltern umfassend für J* zu sorgen, ausreichen würden, um dem Wohl des Kindes bestmöglich zu entsprechen, lässt sich dem festgestellten Sachverhalt nicht entnehmen. Vielmehr hat J* aufgrund seiner schwerwiegenden Erkrankung ganz spezielle Bedürfnisse, die nur in einer hochqualifizierten Betreuungseinrichtung erfüllt werden können. Zudem kann der Vater das Krankheitsbild seines Sohnes, dessen besonderen Bedürfnisse und den daraus resultierenden speziellen Unterstützungs‑ und Förderungsbedarf nicht adäquat einschätzen und setzt deshalb auch zum Teil Verhaltensweisen, die bei J* zu Anspannungen, Impulsdurchbrüchen und fremdverletzendem Verhalten führen und dessen Versorgung mit Medikamenten gefährden.

[6] 6.1. Auch im Außerstreitverfahren kann eine vom Rekursgericht verneinte Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz im Revisionsrekursverfahren grundsätzlich nicht mehr geltend gemacht werden (RS0050037; RS0030748). Ausreichende Anhaltspunkte für eine im konkreten Fall (RS0050037 [T18]) aus Gründen des Kindeswohls gebotene Durchbrechung dieses Grundsatzes (RS0050037 [insbes T1]; RS0030748 [T2, T5, T18]) zeigt der Vater in seinem außerordentlichen Revisionsrekurs nicht auf.

[7] 6.2. Das Gebot zur Befragung des Kindes dient dazu, dessen grundsätzliche Einstellung zu den zu beurteilenden Fragen zu ermitteln. Nur aus den in § 105 Abs 2 AußStrG genannten zwei Gründen – soweit (1.) durch die Befragung oder durch einen damit verbundenen Aufschub der Verfügung das Wohl des Minderjährigen gefährdet wäre oder (2.) im Hinblick auf die Verständnisfähigkeit des Minderjährigen offenbar eine überlegte Äußerung zum Verfahrensgegenstand nicht zu erwarten ist – kann die Befragung überhaupt unterbleiben (RS0127159 [T3]; RS0119594 [T5]). Wenn keine dieser Voraussetzungen vorliegt, kann dies einen wesentlichen, ungeachtet dessen Verneinung durch das Rekursgericht wahrnehmbaren Verfahrensmangel darstellen (2 Ob 4/23m Rz 6).

[8] 6.3. Die übereinstimmende Rechtsauffassung der Vorinstanzen, eine Befragung von J* wäre infolge seiner Erkrankung mit großer Aufregung für ihn verbunden und könnte die Gefahr eines nachfolgenden Impulsdurchbruchs oder epileptischen Anfalls mit sich bringen, ist nach der Aktenlage zutreffend. Bereits das Erstgericht hat darauf hingewiesen, dassJ* aufgrund seines Entwicklungsstandes (eines Sechsjährigen) den Zweck des Verfahrens nicht verstehe. Er kann nach vertretbarer Auffassung der Vorinstanzen daher wohl auch nicht abschätzen, ob seine Eltern ihm die für ihn unbedingt erforderliche Unterstützung und Stabilität gewähren können, weshalb eine überlegte Äußerung zum Verfahrensgegenstand auch nicht zu erwarten ist.

[9] Mangels einer Rechtsfrage von der Qualität des § 62 Abs 1 AußStrG ist der außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters zurückzuweisen.

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