European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0070OB00011.25F.0129.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiete: Familienrecht (ohne Unterhalt), Internationales Privat- und Zivilverfahrensrecht, Unionsrecht, Zivilverfahrensrecht
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Spruch:
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.
Begründung:
Rechtliche Beurteilung
[1] 1. Die Obsorge für den achtjährigen Sohn kommt beiden Elternteilen zu. Der Vater ist deutscher Staatsangehöriger, die Mutter bulgarische Staatsangehörige, der gemeinsame Sohn Doppelstaatsbürger. Bevor die Mutter mit dem damals sechsjährigen Sohn nach Bulgarien ausreiste und ihn nicht mehr nach Österreich zurückbrachte, hatte der Vater beim Erstgericht unter anderem die Übertragung der alleinigen Obsorge des Sohnes an ihn beantragt.
[2] 2. Auf das vom Vater am 28. 6. 2023 vor dem Erstgericht eingeleitete Obsorgeverfahren gelangt die Verordnung (EU) 2019/1111 des Rates vom 25. 6. 2019 über die Zuständigkeit, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und über internationale Kindesentführungen (kurz: Brüssel IIb‑VO) zur Anwendung (Art 100 Abs 1 leg cit). Für Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – wie hier – sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (Art 7 Abs 1 Brüssel IIb‑VO).
[3] Die Mutter argumentiert selbst, dass die Voraussetzungen für die Anwendung von Art 9 Brüssel IIb‑VO nicht vorliegen. Nicht nachvollziehbar ist aber ihre bloße Behauptung, der Vater habe mit der Aufrechterhaltung seines Antrags „im Sinne des Art 9 Brüssel IIb‑VO den Sohn widerrechtlich in Österreich zurückgehalten“.
[4] Wenn die Revisionsrekurswerberin einen Verstoß des Erstgerichts gegen die sechswöchige Entscheidungsfrist nach Art 24 Abs 2 Brüssel IIb‑VO releviert, ist ihr entgegenzuhalten, dass sich diese Bestimmung auf das Rückführungsverfahren nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen (HKÜ) bezieht. Ein solches Verfahren hat der Vater in Bulgarien eingeleitet. Auf das gegenständliche Obsorgeverfahren gelangt Art 24 Abs 2 Brüssel IIb‑VO nicht zur Anwendung.
[5] 3. Der Oberste Gerichtshof ist auch in Außerstreitsachen nur Rechts- und nicht Tatsacheninstanz (RS0006737 [T4]; RS0007236). Fragen der Beweiswürdigung – wie sie die Mutter im Revisionsrekurs erörtert – können daher nicht überprüft werden (RS0007236 [T4]).
[6] 4. Der Begriff des „gewöhnlichen Aufenthalts“ im Sinn des Art 7 Abs 1 Brüssel IIb‑VO ist autonom entsprechend den Zielen und Zwecken dieser Verordnung auszulegen. Nach der Rechtsprechung des EuGH zum inhaltsgleichen Art 8 Abs 1 Brüssel IIa‑VO (C‑523/07 , ECLI:EU:C:2009:225, Rn 44 ua) ist dieser Begriff dahin auszulegen, dass darunter der Ort zu verstehen ist, der Ausdruck einer gewissen sozialen und familiären Integration des Kindes ist. Hierfür sind insbesondere die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts in einem Mitgliedstaat sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Familie in diesen Staat, die Staatsangehörigkeit des Kindes, Ort und Umstände der Einschulung, die Sprachkenntnisse sowie die familiären und sozialen Bindungen des Kindes in dem betreffenden Staat zu berücksichtigen. Es ist Sache des nationalen Gerichts, unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes festzustellen (RS0126369). Ob ein gewöhnlicher Aufenthalt vorliegt, bildet regelmäßig keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung (RS0126369 [T9]).
[7] Nach den getroffenen Feststellungen hielt sich der Minderjährige im ersten Halbjahr 2023 überwiegend in Österreich auf, besuchte den Kindergarten, die Musikschule und spielte auch regelmäßig Fußball im örtlichen Fußballverein. Er wurde – im Einvernehmen beider Elternteile – für den Besuch einer Privatschule im Schuljahr 2023/2024 am Sitz des Erstgerichts angemeldet. Wenn die Vorinstanzen auf Basis dieses Sachverhalts den Lebensmittelpunkt und gewöhnlichen Aufenthalt des Sohnes im Zeitpunkt der Antragstellung des Vaters am 28. 6. 2023 (Art 7 Abs 1 in Verbindung mit Art 17 Abs 1 Brüssel IIb‑VO) in Österreich annahmen, wodurch die internationale Zuständigkeit begründet ist, ist diese Beurteilung nicht korrekturbedürftig.
[8] 5. Zur Sachentscheidung – insbesondere zur vorläufigen Obsorgeregelung – nimmt die Revisionsrekurswerberin nicht Stellung, sodass darauf nicht einzugehen ist.
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