European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0010OB00175.24B.1219.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Amtshaftung inkl. StEG
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei sowie der Nebenintervenientin die jeweils mit 626,60 EUR bestimmten Kosten ihrer Revisionsbeantwortungen binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Begründung:
[1] Die Nebenintervenientin ist Herstellerin von Medizinprodukten und Produzentin des der Empfängnisverhütung dienenden Intrauterinpessars (IUP) „G*“ (Spirale).
[2] Der Klägerin wurde von ihrem damaligen Gynäkologen im Juli 2016 eine solche Spirale aus einer – wie sich im Nachhinein herausstellte – mit einem Materialfehler behafteten Charge eingesetzt, die grundsätzlich für eine fünfjährige Verwendungsdauer vorgesehen war. Bei einer Ultraschalluntersuchung durch ihren (neuen) Gynäkologen am 6. 7. 2021 zeigte sich, dass die eingesetzte Spirale seit der letzten (jährlichen) Kontrolluntersuchung am 14. 10. 2020 aufgrund des Materialfehlers in situ gebrochen war. Daraufhin wurde die Spirale noch im Juli 2021 unter Vollnarkose entfernt.
[3] Die Klägerin begehrt von der Beklagten – der Rechtsträgerin des für die Medizinmarktaufsicht zuständigen Bundesamts für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) – Schadenersatz nach dem AHG für die im Zusammenhang mit dem Spiralenbruch aufgetretenen Komplikationen und Schmerzen. Hätte die Beklagte rechtzeitig und richtig auf das Bekanntwerden des Materialfehlers reagiert, insbesondere indem sie alle Gynäkologen und Nutzerinnen durch eine Medienkampagne darüber informiert hätte, hätte die Klägerin die von ihr verwendete Spirale noch vor dem Bruch austauschen lassen und keine Schäden erlitten.
[4] Das Berufungsgericht bestätigte die klageabweisende Entscheidung des Erstgerichts, weil die Vorgangsweise der Organe des BASG sachlich begründet innerhalb des vom Medizinproduktegesetz 1996 (MPG alt) eingeräumten Ermessensspielraums gelegen und daher zumindest vertretbar gewesen sei. Die Revision sei zulässig, weil angesichts der zahlreichen anhängigen Parallelfälle im Zusammenhang mit der Verhütungsspirale der Nebenintervenientin die Frage der Vertretbarkeit des Behördenverhaltens gerade keine des Einzelfalls sei.
Rechtliche Beurteilung
[5] Entgegen diesem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Ausspruch ist die Revision der Klägerin mangels einer Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.
[6] 1. Der Umstand allein, dass die zu lösenden Rechtsfragen in einer Vielzahl von Fällen auftreten, bewirkt für sich noch nicht deren Erheblichkeit iSd § 502 Abs 1 ZPO (RS0042816; RS0042742 [T12]).
[7] 2. Nach ständiger Rechtsprechung ist im Amtshaftungsprozess nicht zu prüfen, ob die in Betracht kommende Entscheidung oder das zu beurteilende Organverhalten richtig war, sondern ob die Entscheidung oder das Verhalten auf einer bei pflichtgemäßer Überlegung vertretbaren Gesetzesauslegung oder Rechtsanwendung beruhte (RS0049955). Insbesondere geht es nicht an, jede Frage, die im Ermessensrahmen zu entscheiden ist, in einem nachfolgenden Amtshaftungsprozess einer neuen Prüfung zu unterziehen. Gerade dort, wo dem entscheidenden Organ ein Ermessensspielraum eingeräumt ist, liegt Unvertretbarkeit seiner Entscheidung nicht schon dann vor, wenn eine neue Prüfung des Ermessensspielraums zu einer anderen Entscheidung führte (RS0049955 [T3, T4]).
[8] 3. Die Frage nach der Vertretbarkeit einer Rechtsauffassung und eines Organverhaltens stellt grundsätzlich nur bei einer gravierenden Fehlbeurteilung durch das Berufungsgericht eine erhebliche Rechtsfrage dar (RS0110837; RS0049955 [T10]). Eine solche zeigt die Revisionswerberin nicht auf:
[9] Ergaben sich – wie hier – Hinweise auf Mängel von Medizinprodukten, die zu einer Gefährdung ua von Patienten führen konnten, war das BASG nach § 77 Abs 1 MPG alt zur Einleitung aller geeigneter Maßnahmen verpflichtet, um diese Produkte vom Markt zurückzuziehen udgl, oder um Anwender, Patienten und Dritte auf Gefahren oder geeignete Vorsichtsmaßnahmen aufmerksam zu machen.
[10] Nach den Feststellungen bestand das BASG, nachdem es die Bruchrate der von dem Materialfehler betroffenen Spiralenmodelle aus eigenem untersucht und eine höhere Bruchquote als die Nebenintervenientin ermittelt hatte, auf einer Aktualisierung der „Field Safety Notice“ (FSN) der Nebenintervenientin. Dieser „gemäß dem Ersuchen des“ BASG aktualisierte dringende Sicherheitshinweis vom 22. 4. 2020 enthielt insbesondere den Passus, dass das BASG „empfiehlt, die Patientinnen mit implantierten IUPs der oben genannten Chargen über das Bruchrisiko sowie die empfohlene Vorgehensweise im Falle eines Bruchs zu informieren“. Diese ausdrückliche Empfehlung (die die Revision gänzlich außer Acht lässt) wurde in dem Schreiben mit dem Vorschlag abgerundet, zu erwägen, „Patientinnen mit implantierten IUPs der genannten Chargen einzuladen, um den korrekten Sitz des IUPs zu überprüfen und die beste medizinische Entscheidung auf individueller Basis zu treffen“. Die FSN wurde von der Nebenintervenientin am 27. 4. 2020 an sämtliche ihrer Kunden – Ärzte und Apotheken – versandt und vom BASG am 25. 5. 2020 zusätzlich an die Österreichische Ärztekammer mit dem Ersuchen um Weiterleitung an die zuständige Bundesfachgruppe übermittelt.
[11] Das Berufungsgericht war der Auffassung, das BASG sei vertretbar davon ausgegangen, dass aufgrund dieser FSN die österreichischen Gynäkologen ihre jeweiligen von der Bruchgefahr der Spiralen – auch „in situ“ – betroffenen Patientinnen von sich aus („proaktiv“) von dem Bruchrisiko informieren und individuell angepasst fachgerecht behandeln und betreuen würden.
[12] Die Klägerin hält dieser Beurteilung entgegen, dass Ärzte nach dem MPG alt gar nicht verpflichtet gewesen wären, Informationen an ihre Patientinnen weiterzugeben. Mit dem Argument des Berufungsgerichts, die – die Verhütungsspiralen einsetzenden – Gynäkologen seien als „Anwender von Medizinprodukten in Einrichtungen des Gesundheitswesens“ zu qualifizieren, die nach § 72 Abs 1 MPG alt an der Erkennung und Beseitigung möglicher Risken ua für Patienten mitzuarbeiten und geeignete Vorkehrungen und Schutzmaßnahmen, „insbesondere auch im Hinblick auf die Weitergabe von Informationen über Gefahren durch Medizinprodukte“, zu treffen hatten, setzt sie sich dabei gar nicht auseinander. Zudem übergeht sie, dass das Berufungsgericht eine entsprechende Aufklärungs-, Beratungs- und Behandlungspflicht der Gynäkologen auch aus dem mit der jeweiligen Patientin geschlossenen Behandlungsvertrag abgeleitet hat.
[13] Dem Einwand der Klägerin, der Empfehlung vom 22. 4. 2020 fehle jeder Hinweis darauf, wann die Gynäkologen ihre Patientinnen informieren sollten, ist zu erwidern, dass in dem Schreiben von einem tendenziell erhöhten „Bruch-/Spontanausstoßrisiko nach einer Implantationsdauer von 3 Jahren“ die Rede war. Ausgehend von der (vom BASG festgestellten) Bruchquote von 3,38 % bei insgesamt ca 27.000 in Österreich potentiell betroffenen Frauen hätte diese Information den Gynäkologen grundsätzlich eine nach Priorität gestaffelte Kontaktierung ihrer Patientinnen erlaubt. Dass das BASG nach den Feststellungen eine allgemeine Verunsicherung infolge einer breitflächigen Information der Öffentlichkeit vermeiden wollte und sich daher für eine zielgerichtete Information der betroffenen Patientinnen durch deren Gynäkologen entschloss, begegnet insbesondere angesichts der im Frühjahr 2020 vorherrschenden (Corona-)Pandemiesituation keinen Bedenken, zumal die Behörde – wie festgestellt – aufgrund fehlender entsprechender Rückmeldungen aus der Vergangenheit nicht daran zweifeln musste, dass dies in der Praxis auch erfolgen werde, ohne stichprobenartige Kontrollen durchzuführen.
[14] Die (teilweise nur implizite) Behauptung der Klägerin, den österreichischen Ärzten sei (offenbar von der damaligen Generaldistributorin der Nebenintervenientin) ein krass falsches Rechtsgutachten zur Verharmlosung der mit den schadhaften Verhütungsspiralen einhergehenden Gefahren übersandt worden und das BASG habe davon gewusst, entfernt sich vom festgestellten Sachverhalt.
[15] Bereits das Berufungsgericht hat der Klägerin entgegnet, dass ihr Argument, die Kontaktierung der betroffenen Patientinnen sei den behandelnden Gynäkologen logistisch gar nicht möglich gewesen, eine unzulässige Neuerung und überdies nicht weiter nachvollziehbar ist.
[16] Eine unbeachtliche Neuerung ist auch der Vorhalt in der Revision, es müsse zahlreiche Frauen in Österreich geben, die sich eine (bruchanfällige) Spirale im Ausland hätten einsetzen lassen und noch nie bei einem österreichischen Gynäkologen gewesen seien.
[17] Die Vorinstanzen haben daher zusammengefasst vertretbar die Vertretbarkeit der Vorgangsweise des BASG bejaht.
[18] 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 41 und § 50 ZPO. Die Beklagte und die Nebenintervenientin haben auf die fehlende Zulässigkeit der Revision hingewiesen.
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