European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1978:0030OB00619.77.0329.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Gerichte erster und zweiter Instanz werden aufgehoben und es wird die Rechtssache zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind wie Kosten des Verfahrens erster Instanz zu behandeln.
Begründung:
Mit der am 9. November 1976 eingebrachten Räumungsklage begehrte der Kläger die Verurteilung der Beklagten zur Räumung der im Erdgeschoß und im ersten Stockwerk des Hauses Wien * gemieteten (Geschäfts-) Räumlichkeiten. Hiezu brachte der Kläger vor, daß er das Mietverhältnis gemäß Punkt XI des Mietvertrages aufgelöst habe, weil über das Vermögen der Beklagten das Ausgleichsverfahren eröffnet worden sei. Das Mietverhältnis unterliege nicht dem Mietengesetz, da die Benützungsbewilligung für die von ihm ohne Zuhilfenahme öffentlicher Mittel errichteten Bestandobjekte am 22. Juli 1968 erteilt worden sei.
Die Beklagte wendete den Mangel der Aktivlegitimation des Klägers ein und behauptete, daß das Mietverhältnis dem Mietengesetz unterliege, weil die Benützungsbewilligung bereits am 9. Juli 1967 erteilt worden sei. Darüber hinaus sei das Mietverhältnis im Punkt V des Mietvertrages ausdrücklich den Bestimmungen des Mietengesetzes unterstellt worden. Nach den Punkten V und XI des Mietvertrages und auf Grund einer mündlichen Vereinbarung bilde die Eröffnung eines Konkurs- oder Ausgleichsverfahrens über ihr Vermögen, nur bei Nichtzahlung des Mietzinses einen Auflösungsgrund. Eine Vereinbarung, daß der Vermieter das Bestandverhältnis auch dann sofort auflösen könne, wenn der Mietzins trotz Einleitung eines Insolvenzverfahrens weiter bezahlt werde, wäre sittenwidrig. Das Ausgleichsverfahren sei am 22. März 1977 aufgehoben worden. Der Kläger habe durch die Annahme der Mietzinszahlungen auf den Räumungsanspruch verzichtet.
Das Erstgericht gab dem Räumungsbegehren statt. Es stellte im wesentlichen folgendes fest: Der Kläger ist Wohnungs- bzw Geschäftseigentümer der von der Beklagten im Hause Wien *, gemieteten Geschäftsräumlichkeiten und war es auch im Zeitpunkt der Klagseinbringung. Das Haus wurde nicht mit öffentlichen Mitteln errichtet. Die Benützungsbewilligung wurde mit Bescheid der MA 37 vom 22. Juli 1968 erteilt. In dem auf unbestimmte Zeit geschlossenen Mietvertrag wurde ein wertgesicherter Mietzins von 33.335 S monatlich zuzüglich Nebenkosten vereinbart. Der Kläger, der bei Abschluß des Mietvertrages noch Alleineigentümer der Liegenschaft war, verzichtete auf jedwedes Kündigungsrecht mit Ausnahme des Kündigungsgrundes der Nichtzahlung des Mietzinses (§ 19 Abs 2 Z 1 MietenG in der am 1. Jänner 1968 geltenden Fassung). Nach Punkt XI des Mietvertrages mit der Überschrift „Auflösung bei Nichtzahlung des Mietzinses“ ist der Vermieter berechtigt, die Auflösung des Mietvertrages zu begehren, wenn die Mieterin mit der Zahlung des Mietzinses trotz schriftlicher Mahnung und Setzung einer Nachfrist von 14 Tagen in Verzug gerät oder wenn über ihr Vermögen das Konkurs- oder Ausgleichsverfahren eröffnet wird. Im Punkt XIV des Mietvertrages ist vereinbart, daß nachträgliche Änderungen oder Ergänzungen des Vertrages für ihre Gültigkeit der Schriftform bedürfen. Am 19. August 1976 wurde über das Vermögen der Beklagten das Ausgleichsverfahren eröffnet. Mit Schreiben vom 23. August 1976 erklärte der Klagevertreter gegenüber der Beklagten unter Hinweis auf den im Punkt XI des Mietvertrages vereinbarten Auflösungsgrund der Eröffnung des Ausgleichsverfahrens die Auflösung des Mietvertrages und forderte die Übergabe des Bestandobjektes. Der Mietzins wurde auch während des Ausgleichsverfahrens, das am 22. März 1977 wieder aufgehoben wurde, bezahlt und von der Klägerin angenommen.
Rechtlich war das Erstgericht der Ansicht, daß das Bestandobjekt gemäß § 1 Abs 3 MietenG nicht den Beschränkungen dieses Gesetzes unterliege. Die Vereinbarung im § 1118 ABGB nicht angeführter Aufhebungsgründe sei zulässig. Auf eine vom schriftlichen Mietvertrag abweichende mündliche Vereinbarung könne sich die Beklagte nicht berufen, da eine Vertragsänderung nach Punkt XIV des Mietvertrages der Schriftform bedürfe. Der Abschluß der behaupteten mündlichen Vereinbarung wäre, da die Nichtzahlung des Mietzinses den Vermieter ohnehin zur Auflösung des Mietverhältnisses berechtige, sinnlos gewesen und sei daher ausgeschlossen.
Das Berufungsgericht bestätigte das Urteil der ersten Instanz mit dem Ausspruch, daß der Wert des Streitgegenständes 60.000,-- S übersteigt. Es erblickte in der Ablehnung einer von der Beklagten bei der Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung am 22. April 1977 beantragten Beweisaufnahme keine Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz, da das neue Tatsachen- und Beweisvorbringen offenbar in Verschleppungsabsicht erstattet worden sei und seine Zulassung die Erledigung des Prozesses erheblich verzögert hätte (§ 179 ZPO). Das Berufungsgericht billigte die Ansicht des Erstgerichtes, daß das Mietverhältnis nicht dem Mietengesetz unterliege und daß die Einleitung eines Insolvenzverfahrens unabhängig vom Bestehen eines Mietzinsrückstandes einen Auflösungsgrund bilde. Nach herrschender Auffassung sei ein Gebäude erst mit der Benützungsbewilligung rechtlich vollendet und daher als „geschaffen“ im Sinne des § 1 Abs 3 Z 1 MietenG anzusehen.
Die Beklagte erhebt Revision aus den Revisionsgründen der unrichtigen rechtlichen Beurteilung und Mangelhaftigkeit des Verfahrens mit dem Antrag, das Klagebegehren in Abänderung des angefochtenen Urteiles abzuweisen. Hilfsweise stellt die Beklagte auch einen Aufhebungsantrag.
Der Kläger beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.
Die Revision ist im Sinne nachstehender Ausführungen berechtigt:
Rechtliche Beurteilung
Die vollständige Mieterschutzfreiheit nach § 1 Abs 3 Z 1 MietenG setzt voraus, daß die vermieteten Räume erst nach dem 31. Dezember 1967 durch Neu-, Auf-, An- oder Zubauten ohne Zuhilfenahme öffentlicher Mittel neu geschaffen wurden. Im allgemeinen ist eine Wohnung dann als „geschaffen“ anzusehen, wenn sie den behördlichen Anforderungen vollkommen entspricht, weil sie vor diesem Zeitpunkt, insbesondere vor Erteilung der behördlichen Genehmigung (Benützungsbewilligung) für den Mietenmarkt von Rechtswegen nicht als Gegenstand eines Anbotes in Betracht kommt (MietSlg 23.233; vgl. auch MietSlg 28.204). Auf eine vor dem 1. Jänner 1968 errichtete und dem Mieter zur Benützung übergebene Wohnung findet die Ausnahmebestimmung des § 1 Abs 3 Z 1 MietenG allerdings auch dann nicht Anwendung, wenn die Benützungsbewilligung nach dem Stichtag erteilt wurde. Im vorliegenden Fall wurde der Mietvertrag zwar vor der Erteilung der Benützungsbewilligung, aber nach dem eigenen Vorbringen der Revisionswerberin, erst nach dem 31. Dezember 1967, nämlich im April 1968 geschlossen. Mit dem Vorbringen, daß bei Abschluß des Mietvertrages die damals noch im Alleineigentum des Klägers gestandene Liegenschaft mit Wohnbauförderungsdarlehen belastet gewesen sei, für die Errichtung des Neubaues also öffentliche Mittel in Anspruch genommen worden seien, weicht die Rechtsrüge vom festgestellten Sachverhalt ab und ist insoweit nicht gesetzmäßig ausgeführt. Im übrigen ist dieses Vorbringen auch deshalb unbeachtlich, weil es gegen das Neuerungsverbot verstößt. Die Voraussetzungen für die Mieterschutzfreiheit nach § 1 Abs 3 Z 1 MietenG sind daher gegeben. Der Revision ist wohl zuzugeben, daß Mietgegenstände, auf die die Vorschriften des Mietengesetzes über die Zinsbildung und den Kündigungsschutz nicht zur Anwendung gelangen, vertraglich den Bestimmungen des Mietengesetzes unterstellt werden können (MietSlg 18.252, 1.680). Entgegen der Ansicht der Revisionswerberin wird jedoch dadurch, daß das Bestandverhältnis in einzelnen Punkten analog den Bestimmungen des Mietengesetzes geregelt wird, nicht schlechthin auf die Mieterschutzfreiheit verzichtet. Die Bezugnahme auf § 19 Abs 2 Z 1 MietenG im Punkt V des Mietvertrages dient lediglich der Determinierung des vertraglich vereinbarten Kündigungsgrundes der Nichtzahlung des Mietzinses, bedeutet also ungeachtet des Umstandes, daß das Mietverhältnis vereinbarungsgemäß nur aus diesem Grunde gekündigt werden kann, nicht, daß die Kündigungsbeschränkungen der §§ 19 bis 23 MietenG Anwendung zu finden hätten. Der Punkt III des Mietvertrages betrifft nur die Betriebskosten, hat daher für die Frage der Beendigung des Mietverhältnisses durch Kündigung oder vorzeitige Auflösung überhaupt keine Bedeutung. Die Bestimmungen des § 1118 ABGB sind, wie auch die Revision einräumt, dispositives Recht. Die Partner eines Bestandvertrages können daher auch andere als die im Gesetz vorgesehenen Gründe für eine Vertragsauflösung vereinbaren (MietSlg 19.155, 18.205 ua). Unterliegt das Bestandverhältnis – wie hier – keinen Schutzbestimmungen, so gilt das Prinzip der Vertragsfreiheit uneingeschränkt (MietSlg 19.155, 18.205, 5.612 ua). In einem solchen Fall müssen die von den Parteien vereinbarten Auflösungsgründe keineswegs die Bedeutung eines wichtigen Kündigungsgrundes im Sinne des Mietengesetzes haben (MietSlg 4.406). Die Vereinbarung, daß das Bestandverhältnis vorzeitig aufgelöst werden könne, wenn gegen den Bestandnehmer ein Insolvenzverfahren eingeleitet wird, ist daher zulässig; sie widerspricht weder Treu und Glauben noch ist sie sittenwidrig. Die Eröffnung des Konkurs‑ oder Ausgleichsverfahrens setzt Zahlungsunfähigkeit des Schuldners voraus und findet, wenn der Schuldner eine juristische Person ist, auch im Falle der Überschuldung statt (§§ 68, 69 KO und § 1 AO). Zahlungsfähigkeit oder Überschuldung des Bestandnehmers können zweifellos auch nicht als belanglose Umstände gewertet werden.
Die von der Revision gegen die Auslegung des Punktes XI des Mietvertrages durch die Untergerichte erhobenen Bedenken schlagen nicht durch. Inhalt und Umfang der einem Vertrag entspringenden Rechte und Pflichten der Parteien sind nach dem Vertragstext und nicht nach der Überschrift einzelner Vertragspunkte zu beurteilen. Solche Überschriften gehören nicht zum Vertragstext; sie sind nur dann zur Auslegung heranzuziehen, wenn der Vertragstext selbst nicht eindeutig ist, was hier nicht zutrifft. Nach dem klaren und eindeutigen Wortlaut des Punktes XI des Mietvertrages wurden zwei Auflösungsgründe, nämlich die Nichtzahlung des Mietzinses und die Einleitung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Bestandnehmerin vereinbart. Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, daß der Bestandgeber im konkreten Fall bei Eröffnung eines Insolvenzverfahrens das Bestandverhältnis zwar vorzeitig auflösen aber nicht aufkündigen kann.
Die Rechtsrüge und der Abänderungsantrag der Beklagten erweisen sich daher als unberechtigt.
Mit der Mängelrüge wendet sich die Revisionswerberin dagegen, daß das Berufungsgericht ihr neues Tatsachen- und Beweisvorbringen bei der Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung am 22. April 1977 wegen Verschleppungsabsicht für unstatthaft erklärt hat. Die Rüge ist entgegen der Ansicht des Revisionsgegners nicht schon deshalb unbeachtlich, weil das Berufungsgericht das Vorliegen einer Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz verneint hat. Dies wäre nur dann der Fall, wenn schon das Erstgericht eine verfahrensrechtliche Entscheidung nach § 179 ZPO getroffen hätte. Das Erstgericht hat jedoch von der beantragten Beweisaufnahme deshalb Abstand genommen, weil es die behauptete mündliche Vereinbarung aus materiell‑rechtlichen Gründen als unerheblich angesehen hat. Erst das Berufungsgericht hat entschieden, daß das neue Vorbringen gemäß § 179 ZPO für unstatthaft zu erklären sei. Eine solche Entscheidung des Berufungsgerichtes kann in dritter Instanz überprüft werden (vgl. Fasching II 854 f.). Die Zurückweisung des neuen Vorbringens erfolgte, auch wenn man mit dem Berufungsgericht Verschleppungsabsicht der Beklagten annimmt, zu Unrecht, da entgegen den Ausführungen des Berufungsgerichtes nach der Aktenlage nicht feststeht, daß die Vernehmung des Zeugen Dir. P* die Anberaumung einer weiteren Tagsatzung erfordert und somit die Erledigung des Prozesses erheblich verzögert hätte. Dir. P* war ordnungsgemäß zu der für den 22. April 1977 angeordneten Tagsatzung geladen worden (AS 22). Das Erstgericht hatte, da es die Beweisaufnahme ablehnte, keine Veranlassung, die Tatsache der An- oder Abwesenheit des Geladenen im Verhandlungsprotokoll festgehalten. Aus dem Umstand, daß die Anwesenheit des Dir. P* im Verhandlungsprotokoll nicht beurkundet ist, kann daher keineswegs geschlossen werden, daß der Genannte der Ladung nicht Folge geleistet habe. Steht aber nicht fest, daß die Durchführung des beantragten Beweises die Erledigung des Prozesses erheblich verzögert hätte, dann fehlt es an einer wesentlichen Voraussetzung für ein Vorgehen nach § 179 ZPO.
Der Ansicht des Erstgerichtes, daß die behauptete mündliche Vereinbarung mit Rücksicht auf Punkt XIV des Mietvertrages für die Entscheidung keine Bedeutung habe, kann nicht geteilt werden. Nach ständiger Rechtsprechung ist ein einverständliches Abgehen von der vereinbarten Schriftform sowohl ausdrücklich als auch stillschweigend jederzeit möglich und zulässig, und zwar keineswegs nur für nachträgliche Vereinbarungen. Für vorausgehende und gleichzeitige Nebenabreden gilt wohl der Inhalt der Urkunde als richtig und vollständig, doch ist die Führung des Gegenbeweises für den, der die Nebenabrede behauptet, trotz einer Ausschlußklausel zulässig (MietSlg 26.085, 26.064 ua). Richtig ist zwar, daß die Nichtzahlung des Mietzinses ohnehin als Kündigungsgrund vom Auflösungsgrund vereinbart wurde, doch könnte deshalb die von der Beklagten behauptete mündliche Abrede noch nicht als sinnlos und ausgeschlossen angesehen werden, sondern bedürfte der Auslegung. Dem Ergebnis der beantragten Beweisaufnahme vorzugreifen, ist nach der Prozeßordnung unzulässig. Sollte tatsächlich vereinbart worden sein, daß das Mietverhältnis nur wegen Nichtzahlung des Mietzinses vorzeitig aufgelöst werden könne, wäre das Räumungsbegehren des Klägers unberechtigt. Zur abschließenden Beurteilung der Rechtssache bedarf es daher einer Ergänzung des Verfahrens durch Aufnahme des von der Beklagten beantragten Beweises in erster Instanz.
Der Revision war sohin Folge zu geben und wie im Spruch zu entscheiden.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO.
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